eJournals lendemains 38/150-151

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Narr Verlag Tübingen
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2013
38150-151

Übersetzerisches Denken und Lebenswirklichkeit in Valery Larbauds Poésies de A.O. Barnabooth

2013
Vera Elisabeth Gerling
ldm38150-1510076
76 AArts & Lettres Vera Elisabeth Gerling Übersetzerisches Denken und Lebenswirklichkeit in Valery Larbauds Poésies de A.O. Barnabooth „C’est du vivant que nous pesons“ Valery Larbaud Präsenz von Lebenswirklichkeit in der Literatur der Moderne Wie kommt Leben in den Text? Kann das Leben in seiner Komplexität über Texte erlebbar gemacht werden? Wie lassen sich leibliche Wahrnehmungen und Emotionen oder auch historische Stimmungen vermitteln, wie kann man Einblick gewähren in Bereiche des menschlichen Lebens, die sich sinngebenden Verfahren entziehen, die außerhalb alles objektiv Beschreibbaren liegen? Kann überhaupt eine ‚Übersetzung‘ von Lebenswirklichkeit möglich sein und sinnlich Erlebtes in die Sprache eingehen? Insbesondere im Zuge der Moderne geht der Glaube an das Abbilden von Welt vermittels Sprache als verlässliches Verfahren verlustig. Zugleich jedoch werden damit die Texte als autonome Manifestationen betrachtet, versehen mit einer eigenständigen Lebendigkeit, wie wir es auch bei Larbaud lesen: „C’est du vivant que nous pesons“ (1997: 78). In seinem Werk werden solche Fragen problematisiert, bisweilen drückt sich diese Skepsis an der Repräsentation auch ganz explizit aus: „Ah! Il faut que ces bruits et que ce mouvement / Entrent dans mes poèmes et disent / pour moi ma vie indicible“. 1 Die hier vorliegende Analyse möchte vor diesem Hintergrund aufzeigen, wie in der Lyrik Valery Larbauds lebensweltliche Erfahrungen als Übersetzungprozesse im Text verhandelt werden. Heute, ein Jahrhundert nach der Publikation der hier untersuchten Gedichte, sehen wir uns laut Hans Ulrich Gumbrecht erneut mit „Präsenzbedürfnissen und Präsenzsehnsüchten“ konfrontiert (Gumbrecht 2011: 16). Diese neue Begegnung mit der Präsenz der Lebenswirklichkeit sehen wir in literatur- und kulturwissenschaftlichen sowie philosophischen Projekten der letzten Jahre bestätigt. 2 Insbesondere Ottmar Ette und Wolfgang Asholt können hier als Initiatoren einer neu zu führenden „Debatte um Literaturwissenschaft als Lebenswissenschaft“ (Dünne 2011) genannt werden. 3 Gumbrecht entwirft eine alternative Lesart literarischer Texte, die der Präsenz von Lebenswirklichkeit anhand von durch Texte generierten Stimmungen nachgeht. Er liest die Werke als Teile ihrer jeweiligen Lebenswelt (cf. Gumbrecht 2011: 30), und sieht in ihnen die Möglichkeit, Affekte zu generieren, die auch dem heutigen Leser eine Präsenzerfahrung ermöglichen. Ausgehend von diesen Fragen bezüglich eines neu zu überprüfenden Weltbezugs der Literatur soll hier dem lyrischen Werk Valery Larbauds anhand der Frage begegnet werden, wie die historisch spezifische, lebensweltliche Erfahrung der 77 AArts & Lettres Moderne um das Jahr 1900 in diese Gedichte eingeht und, so die zentrale These, vermittels der Materialität der Texte Stimmungen hervorzurufen und dabei historisches Lebenswissen übersetzbar zu machen vermag. Ein kulturwissenschaftlich entwickelter Übersetzungsbegriff, der von der unaufhebbaren Differenz zwischen Welt und Text ausgeht, soll dabei als Modell für die literaturwissenschaftliche Annäherung an diese Präsenzerfahrung erprobt werden. Vittoria Borsò (2010) zeigt einen Weg auf, wie der unüberwindbare Hiatus zwischen der Exteriorität des Lebens nach Emmanuel Levinas und der in Sprache geborgenen Epistemologie in der Literatur begegnet werden kann: Während die Erfahrung der Exteriorität sich einer vollständigen, vereinnahmenden Reflexion der Totalität entzieht, so eröffnet doch die Schrift Möglichkeitsräume für das Erahnen jener nicht über den Sinn erfassbaren Spuren der Erfahrung, einer die Totalität überbordenden Exteriorität des Lebens (cf. Levinas 1971: XI). 4 Im Folgenden lese ich die Gedichte Valery Larbauds als einen Versuch, sich der Komplexität des Lebens und somit auch dem Unendlichen, der Exteriorität anhand von über die Schrift evozierten Präsenzerlebnissen zu nähern, um so auch jene Bereiche des Welterlebens erfahrbar, erspürbar zu machen, die sich sinngebenden Darstellungsverfahren entziehen. Um das Jahr 1900 ändert sich, auch durch neue lebensweltliche Bedingungen, der Bezug zwischen Text und Wirklichkeit. Der Realismus des 19. Jahrhunderts scheint als Form der Übersetzung von lebensweltlicher Erfahrung nicht mehr angemessen zu sein, da er eine in Bewegung geratene Welt nicht abzubilden vermag. Das Vertrauen in die Übereinstimmung von Text und Welt ist abhanden gekommen. Die Werke Charles Baudelaires sind beispielhaft für dieses Hadern mit dem Abbilden der Wirklichkeit: Er verwirft die Korrespondenzen zwischen den Wörtern und den Dingen, stellt sie als kontingent und unverlässlich dar. Auch spricht er ihnen im Gedicht „Correspondances“ (1857) ein Eigenleben zu, so dass die souveräne Herrschaft des Subjekts über die Sprache entmachtet wird: La nature est un temple où de vivants piliers Laissent parfois sortir de confuses paroles; L’homme y passe à travers des forêts de symboles Qui l’observent avec des regards familiers (Baudelaire 1975: 11) Hier drückt sich in besonderer Weise der Bruch der Korrespondenzen aus: Die sprachlichen Symbole dienen nicht etwa dem Subjekt dazu, die Welt abzubilden, vielmehr entwerfen diese als „Wälder“ ihre eigene Welt. Zwar scheinen sie bekannt und vertraut, doch sind sie selbst die observierenden Betrachter, das Subjekt wird mithin zum beobachteten Objekt. Der Text wird hier autonom, geht auf den Lesenden zu, lässt sich jedoch nicht gänzlich erfassen, denn die Wörter bleiben letztendlich konfus, entziehen sich also einer Sinn gebenden Ordnung, einer auf schlüssige Erklärbarkeit ausgerichteten Lesart. Vielmehr ermöglichen sie eine Präsenzerfahrung, bedingt durch ihre je spezifische Materialität. Wenn nun Lyriker wie beispielsweise Blaise Cendrars oder Valery Larbaud sich als zwei der einflussreichsten Wegbereiter der französischen Lyrik des 20. Jahr- 78 AArts & Lettres hunderts der modernen, auch durch technische Neuerungen komplexer und kosmopolitischer werdenden Welt zuwenden, so geschieht dies nicht als Rückgriff auf Traditionen des Realismus, sondern es geht stets einher mit der Problematisierung der Beziehung zwischen Text und Lebenswelt. Denn zwar gilt Larbaud als einer der „poètes de la ‚possession du monde‘“ (Décaudin 1981: 352), jedoch verweigern sich die Texte beider Autoren einer direkten Beziehung zur Realität. Vielmehr versuchen sie, über die Auflösung etablierter lyrischer Formen und durch lautmalerische Eigenschaften Präsenzerfahrungen zu ermöglichen, die zwar eine Annäherung an spezifische, historisch-lebensweltliche Erfahrungen erlauben, über die Akzentuierung des Eigenlebens der Texte jedoch stets auch die fortbestehende Differenz zwischen Text und Wirklichkeit problematisieren. Ein Beispiel hierzu findet sich in Blaise Cendrars Prose du Transsibérien (1913), wie folgender Ausschnitt aufzuzeigen vermag: „Dis, Blaise, sommes-nous bien loin de Montmartre? “ Les inquiétudes Oublie les inquiétudes Toutes les gares lézardées obliques sur la route Les fils télégraphiques auxquels elles pendent Les poteaux grimaçants qui gesticulent et les étranglent Le monde s’étire s’allonge et se retire comme un accordéon qu’une main sadique Dans les déchirures du ciel, les locomotives en furie [tourmente S’enfuient Et dans les trous, Les roues vertigineuses les bouches les voix Et les chiens du malheur qui aboient à nos trousses Les démons sont déchaînés Ferrailles Tout est un faux accord „Le broun-roun-roun“ des roues Chocs Rebondissements Nous sommes un orage sous le crâne d’un sourd „Dis, Blaise, sommes-nous bien loin de Montmartre? “ (Cendrars 1987 [1947]: 25sq.) Cendrars thematisiert hier seine Lebenswelt, die durch die neuen technischen Möglichkeiten wie Eisenbahn oder Telegraphennetz als entgrenzt wahrgenommen wird. Gerade der freie Vers ermöglicht es, diese Idee der Bewegung auch in die Materialität des Textes aufzunehmen und zugleich durch rhythmische Brüche und onomatopoetische Klänge („le broun-roun-roun“) eine Annäherung an diese lebensweltliche Erfahrung zu schaffen, welche auch Paradoxien in sich aufnimmt: Während gerade der Hinweis auf Sibirien die Möglichkeit unterstreicht, unendlich erscheinende Welten zu erkunden, so bleibt doch der Bezug zur Herkunft durch die stete Erinnerung an Montmartre weiter bestehen. Personifizierungen lassen die Welt dabei als fantastisch erscheinen. Von besonderer Bedeutung für die Wahr- 79 AArts & Lettres nehmung der Welt ist hier der Hinweis auf das Akkordeon: „Le monde s’étire s’allonge et se retire comme un accordéon“. Die Welt erscheint hier nicht mehr als ein Objekt, das im Sinne der positivistischen Wissenschaften erfassbar wäre, sondern als ein stets sich in Bewegung befindliches Wesen, das sich objektiver Wahrnehmung entzieht („se retire“). Die Welt stellt hier somit keine feste Größe mehr dar und die sprachlichen Möglichkeiten, Welt zu erfassen, erweisen sich als begrenzt. Der Text selbst wird hier zu einem sich entziehenden Objekt und ähnelt in der Unregelmäßigkeit der Verse sogar optisch einem Akkordeon. Dies erfährt in der Publikationsform noch eine besondere Betonung, denn das 1913 erschienene Buch kombiniert die lyrischen Texte des Autors mit Gemälden von Sonia Delaunay, die unter dem Titel „Couleurs simultanées“ insbesondere den Aspekt der Bewegung und der Simultaneität von Sinneseindrücken in kubistisch-avantgardistischer Manier veranschaulichen. 5 Auch Valery Larbaud sucht in seiner Literatur nach Wegen, eine Lebenswirklichkeit im Raum der Schrift selbst zu verorten: diskursive Ordnungen von Sprache, Geographie, Sinn, Kultur, Kunst etc. werden destabilisiert und die Blicke darauf dezentriert, die Sprache wird in Bewegung gebracht und als lautliche Erfahrung realisiert. So eröffnet sich die Möglichkeit, die Texte als eine Problematisierung der Beziehung zwischen Lebenswelt und Text zu lesen, als eine Infragestellung der Übersetzung von Welt in Sprache. Trotz (oder gerade aufgrund) dieser Besonderheiten erweist sich die literaturwissenschaftliche Beschäftigung mit dem Werk dieses Autors als überraschend dünn. 6 Wenn es dabei um einen lebensweltlichen Bezug geht, dann ist häufig von Emotionen die Rede, jedoch werden solche Feststellungen vorrangig für (teils implizite) biographische Interpretationsverfahren verwendet. Eine Ausnahme stellt hier der kenntnisreiche Aufsatz von Hughes Marchal dar, in dem Valery Larbauds Werk als ein Versuch der Übersetzung körperlicher, mithin außersprachlicher Ausdrucksformen in Literatur analysiert wird: „[ ] comment (re)dire en littérature, donc en langage, ce dire hors langage? De nouveau, Larbaud va montrer que le corps fait l’objet d’une substitution discursive - de sorte qu’on pourrait qualifier sa réflexion de traductologique“ (Marchal 2006: 189). Marchal stellt hier jedoch den Begriff der Übersetzung selbst nicht grundsätzlich in Frage. Meine Untersuchung möchte nun, ausgehend von der Annahme, dass Literatur potentiell Präsenzerfahrungen hervorzubringen vermag, diesen Prozess als einen übersetzerischen begreifen. Dies jedoch gerade nicht im Sinne einer „substitution discursive“, in der als Ziel der Übersetzung die Herstellung von Äquivalenzen postuliert wird, sondern als eine Relation, die bestimmt wird von unaufhörlicher Bewegung, Verschiebung, Differenz. Differenz und Übersetzung als Modell für Präsenzerfahrung Literarische Texte sollen hier als Form der Übersetzung lebensweltlicher Erfahrungen angesehen werden, nicht jedoch als mimetisch reproduktive Tätigkeit der 80 AArts & Lettres Übertragung von Inhalten in einen direkt nachvollziehbaren Sprachsinn, die ausgehend von der Verschiedenheit von Sprache und Welt als mehr oder weniger ‚treue‘ gelänge. Vielmehr möchte ich mit Rückgriff auf Walter Benjamin die Texte als Interlinearversion einer originären Lebenswelt betrachten, wobei Text und Lebenswirklichkeit ebenso wie Übersetzung und Original wandelbar bleiben, zueinander in unabschließbarer Beziehung stehen und sich in einem steten Wechselprozess befinden. Dieser übersetzerische Prozess stellt sich als hochkomplex dar, und er beginnt nicht erst beim niedergeschriebenen Text. Sowohl die Realität selbst als auch die wahrnehmenden Subjekte sind steten Wandlungsprozessen unterworfen. 7 Dabei ist die Wahrnehmung der Welt niemals objektiv, sondern gebunden sowohl an die uns leitenden Verstehenspraktiken der Wissensproduktion wie auch an die körperliche Erfahrung. 8 Textliche Annäherungen an diese Erfahrungen sind wiederum nicht als mimetische Abbilder zu verstehen, sondern als eine Art Erfindung der Wirklichkeit, wie sie die Anthropologie ehemals in ihrer writing-culture-Debatte problematisiert hat (cf. Geertz 1985). Und die Texte selbst können ebenfalls nicht als verlässliche Entitäten angesehen werden: Während bei Baudelaire die Korrespondenzen zwischen Welt und Sprache bereits kontingent und mithin unzuverlässig erscheinen, gerät mit der differenztheoretischen Kritik an der Repräsentation auch die Sprache in ihrer Konstruiertheit in Bewegung. So ist es nach Derrida die geschriebene Sprache, die nicht unverändert selbstidentisch bleibt, sondern zu sich selbst different wird, wie er es am Kunstwort der „différance“ darstellt (Derrida 1967). Schrift wird hier veränderbar und erhält ein nicht kontrollierbares und stets wandelbares Eigenleben. Angesichts dieser langen Kette an Wahrnehmungs- und Interpretationsprozessen wird deutlich, dass der von Hans Ulrich Gumbrecht aufgenommene Begriff der Stimmung nicht im Sinne einer emotional verklärten Repräsentationsalternative von Wirklichkeit oder gar eines Einfühlens im Sinne von Hans-Georg Gadamers Horizontverschmelzung 9 missverstanden werden darf. Auch aus diesem Grunde wird hier ein Begriff von Übersetzen gewählt, der das Prozesshafte und die Wechselwirkungen dieser Bewegungen berücksichtigt. Walter Benjamin stellt im als Vorwort zu seinen Baudelaire-Übertragungen 1923 erschienenen Text „Die Aufgabe des Übersetzers“ die eigentliche (Un-)Übersetzbarkeit eines nur virtuell existierenden Originals in den Mittelpunkt. Er spricht von der Interlinearversion, also der zwischen den Zeilen des Originals stehenden Übersetzung, als dem Urbild oder Ideal aller Übersetzung (cf. Benjamin 1977a: 62). Dabei bestehe zwischen Original und Übersetzung keineswegs Identität, vielmehr verwiesen sie jeweils auf etwas anderes als sich selbst und seien doch untrennbar miteinander verbunden, so dass Übersetzbarkeit und Unübersetzbarkeit stets gemeinsam zu denken seien. Wenn wir nun literarische Texte als Übersetzung der nie in der Gesamtheit erfassbaren ‚originären‘ Lebenswirklichkeit betrachten, so sind sie mit dieser verknüpft, vermögen sie aber nicht im Ganzen begreifbar zu machen, verbleiben sie doch stets in einem Differenzverhältnis zueinander, ohne je in Äquivalenzen 81 AArts & Lettres aufzugehen. Vielmehr wären sie Teil eines sich stets wandelnden Textkosmos, eine jeweils kontingente und niemals absolute Annäherung an jenes Andere, dem er untrennbar verbunden ist. Ein jeder Text (Übersetzung) berührt so seine Lebenswelt (sein Original) wie eine Tangente den Kreis (cf. Benjamin 1977a: 62). Das Leben fände damit in der Literatur eine spezifische Form der Übersetzung, die jedoch keine Festschreibung bedeutet, sondern in ihrer semantischen und sinnlichen Offenheit gerade auch das nicht Beschreibbare erfahrbar macht. Der übersetzerische Prozess schließt dabei stets die Erfahrung der Differenz mit ein und ist nicht zu verstehen im Sinne des „üblichen Gelingensmodells“, sondern als ein Modell, das auch „Brüche, Blockierungen und Fehlübersetzungen“ mit einschließt (Bachmann-Medick 2008: 150). In seiner Weiterführung der Benjaminschen Gedanken betont Derrida insbesondere das einer jeder Übersetzung inhärente Scheitern, und so sei das Übersetzen als Handlung sowohl möglich als auch unmöglich: das „traduisible-intraduisible“ (Derrida 1985: 218) bilde einen Raum des Dazwischen. 10 Das Paradigma der Übersetzung ermöglicht daher in besonderer Weise die Reflexion über das Prozessuale dieses Vorgangs, seine Kontingenz und mithin auch über den Zusammenfall von Übersetzbarkeit und Unübersetzbarkeit. Die Vorstellung des Scheiterns birgt jedoch für Benjamin zugleich den Mehrwert einer Sprache der Dinge, die das Vermögen der repräsentativen Funktion von Sprache übersteigt. So plädiert er in seinem Übersetzeraufsatz dafür, nicht etwa den semantischen Gehalt, sondern vielmehr die Art des Meinens zu übertragen. In „Über das mimetische Vermögen“ (Benjamin 1977b: 204-213) spricht er von vorbeihuschenden Korrespondenzen im Sinne kontingenter Ähnlichkeiten. Die Dinge, wie auch die Sprache selbst, sprechen in ihrer Materialität für sich. Gerade rhythmische Elemente der Lyrik beispielsweise können daher ein nicht rational von einem Subjekt steuerbares „mimetisches Vermögen“ aufscheinen lassen. Die Übersetzung soll hier daher als ein Paradigma gedacht werden, das die differenztheoretisch vertretene Unübersetzbarkeit mitdenkt, die unausweichliche Differenz zwischen Welt und Sprache jedoch gerade zum Anlass nimmt, Präsenzerlebnissen nachzugehen, die unabhängig von Modellen der Repräsentation möglich sind. Die nachfolgende Untersuchung sieht die Texte somit nicht als von einem starken Subjekt hermeneutisch begreifbar gemachte Repräsentationen an, sondern möchte Berührungspunkten zwischen stimmungsorientiertem, die geistige und körperliche Existenz des Lesers als Potenzialität anerkennendem Texterleben und der außersprachlichen, historischen, nur partiell nachvollziehbaren Wirklichkeit nachspüren. 11 Nachzugehen wäre demnach nicht einem impliziten, eindeutig ‚zwischen den Zeilen‘ nachzuweisendem Sinn, sondern dem potenziell erfahrbaren Anderen, beispielsweise einer historisch zu situierenden Stimmung. Die Gedichte Valery Larbauds werden hier mit Benjamin als jene Form gelesen, die im Rezeptionsprozess und somit im Moment des ästhetischen Erlebens das eigentliche, jedoch nur virtuell vorhandene, je wandelbare ‚Original‘ aufscheinen lassen und uns so die darin enthaltenen Stimmungen erfahrbar machen, ohne als direkte Repräsentation außersprachlicher Wirklichkeit verstanden zu werden. Viel- 82 AArts & Lettres mehr eröffnet die Schrift hier Möglichkeitsräume für das Erahnen jener nicht über den Sinn erfassbaren Spuren der Erfahrung, einer im Sinne Emmanuel Levinas die Totalität überbordenden Exteriorität. Welterleben und Schreiben in Bewegung Die Gedichte des fiktiven A.O. Barnabooth treten weniger durch ihre Inhalte hervor, handelt es sich doch um spätestens mit Baudelaire längst bekannte, bereits zu Gemeinplätzen verkommene Phänomene wie „luxe, ennui, volupté, réparation“ (Murat 2006: 31). Bedeutsam ist vielmehr, wie die Gedichte selbst einen sich stets in Bewegung befindlichen, quasi organischen Textkörper bilden und zugleich körperliches Befinden und Erleben textlich erfahrbar machen. Das Migratorische 12 dieses Schreibens zeigt sich auf mehreren Ebenen. Das lyrische Ich befindet sich in diesen Gedichten in ständiger Bewegung. Dabei ist auch dessen Biographie vom Erleben der Migration geprägt. In der Ausgabe von 1908 unter dem Titel Poèmes pour un riche amateur wird die „Vie de Barnabooth“ vorangestellt, verfasst vom fiktiven Herausgeber X.M. Tournier de Zamble, in welcher die Parallelen zwischen dem Autor und seinem Alter Ego Barnabooth 13 deutlich werden. Mallet beschreibt Barnabooth folgendermaßen: „Il est né le 23 août 1883, en Amérique du Sud, puis s’est fait naturaliser citoyen de l’État de New-York. Il est américain, mais c’est l’Europe qu’il aime, et c’est en Europe qu’il vivra. Il parle anglais et espagnol par hérédité, mais c’est en français qu’il écrira par dilection“ (Mallet 1966: 10). Barnabooth lebt zwischen Südamerika, den USA und Europa und auch sprachlich migriert er zwischen drei Idiomen, daher stellt das lyrische Ich ein Modell für eine migratorische Existenz im Dazwischen dar. Er wählt das Französische als Sprache für seine Literatur, obwohl es nicht seine Muttersprache ist. Dies stellt bereits ein wiewohl konstruiertes, jedoch latent vorhandenes Fremdheitsmerkmal der Texte dar, das über fremdsprachige, oft spanische Einsprengsel, teils auch in Überschriften, besonders hervorgehoben wird („L’eterna voluttà“, 48; „Alma perdida“, 54). 14 Barnabooth reist in Luxuszügen kreuz und quer durch Süd-, Mittel- und Osteuropa bis nach Russland, was auf den ersten Blick vor allem die biographische Verwobenheit des Textes sowohl mit dem fiktiven Autor Barnabooth als auch mit dem weit gereisten Autor Valery Larbaud unterstreichen mag. Gerade die teilweisen Übereinstimmungen betonen hingegen die Verschiebung zwischen den beiden Figuren: „Il y a deux poètes: Valery Larbaud, poète français, versificateur modéré et de goût classique; et A.O. Barnabooth, poète non francophone écrivant en français [ ] dans un style international du vers libre“ (Murat 2006: 29). Weiterhin entsprechen die Verortungen in Barnabooths Gedichten nicht der etablierten räumlichen Ordnung, vielmehr entwirft er eine hybride Verwicklung von Schauplätzen, die nicht in die etablierte geographische Ordnung zu integrieren sind. So steht in „Ode“ (44sq.) zwar die Fahrt im damals berühmten „Nord-Express“ im Mittel- 83 AArts & Lettres punkt, erwähnt werden jedoch auch der „Orient-Express“ 15 sowie die „Sud-Brenner-Bahn“ [sic], als genannte Orte finden wir sowohl Wien als auch Budapest, Wirballen, Pskow, wie auch die Regionen und Länder Kastilien, Serbien und Bulgarien. Im Gedicht „Nuit dans le port“ (46sq.) wird eine portugiesische Stadt als „cette ville africaine“ bezeichnet. Das Gedicht „Voix des servantes“ (52sq.) zelebriert die in Paris über den Gesang von „cholitas“ hervorgerufenen Kindheitserinnerungen des in Lateinamerika geborenen Barnabooth. Und in „Images“ (63sqq.) werden drei Frauen portraitiert, die er an unterschiedlichen Stationen seiner Reisen beobachtet hat und die sich jeweils im russischen Kharkow, am „quai des Boompjes“ in Rotterdam bzw. zwischen Córdoba und Sevilla in Spanien befinden - beobachtet jeweils vom fahrenden Zug aus. Die Entgrenzung etablierter geographischer Ordnungen geschieht in besonders prägnanter Form in „Yaravi“ (54sqq.), bei dem bereits der Titel auf lateinamerikanische Kultur verweist, handelt es sich doch hier um eine hybride Gesangsform, die sowohl auf dem inkaischen „Harawi“ als auch auf spanischer, vorromantischer Lyrik beruht, oder, wie es das Gedicht selbst vermuten lässt, sich als Zigeunermusik in Lateinamerika etabliert hat, was sich in „air de tziganes“ andeutet. Weiterhin wird der Bosporus als Ort des geographischen Übergangs genannt, angesprochen werden hier verschiedene Küstenbereiche wie „Côte d’Asie“, „Côte d’Europe“ oder auch „Côte de l’Empire ottoman“, wie auch das Schwarze Meer („Pont-Euxin“) als Schwelle zwischen Asien und Europa. Die Vielzahl der Orte, die teils auch im gleichen Gedicht auftauchen, lassen sich in keiner geographischen Logik erfassen 16 und so sträuben sich die Texte gegen ein damit einhergehendes Verständnis geographischer Ordnung. Indem auch Erinnerungen Teil der inneren geographischen Ordnung werden, entsteht ein unaufhörliches Gleiten, „comme si l’essence d’une ville, ou d’un paysage, était, finalement, d’en rappeler une autre, dans un glissement perpétuel de la mémoire“ (Corger 1992: 56). Diese Gedichtsammlung des fiktiven Schreibers und zugleich Alter Egos des Autors, Barnabooth, agiert somit bereits auf inhaltlicher Ebene im steten In-Bewegung-Sein. Dabei wird nicht etwa - fortschrittsaffirmativ wie die Geschwindigkeitsobsession des späteren italienischen Futurismus - die Schnelligkeit der Maschine als Errungenschaft der industriellen Moderne gefeiert, wie es in bisherigen Analysen vertreten wird (cf. z.B. Baker 1991: 15). Sondern es wird erlebbar gemacht, wie das durch die Eisenbahn entstandene neue Erfahrungspotenzial die Wahrnehmung der Welt verändert und etablierte geographische Ordnungen wie auch Definitionen von Entfernung fundamental verändert: Dazu gehört die sinnliche Wahrnehmung von sich wandelnden Geräuschen und Gerüchen in der Eisenbahn ebenso wie die flüchtige, visuelle Wahrnehmung der Außenwelt beim Blick aus dem Zug nach draußen, welche das Sehen verändert. Insbesondere sind es die oben genannten Luxuszüge seit Ende des 19. Jahrhunderts, die ein solch raumzeitlich anderes sinnliches Erleben ermöglichen. Die neuen Techniken eröffnen „ein Paket von Möglichkeiten gedanklicher wie ästhetischer, technischer wie sozialer, symbolischer wie sinnlicher Art“ (Kaschuba 2004: 22) und die Wahrneh- 84 AArts & Lettres mung der Welt als weite Räume und Horizonte wird erst jetzt möglich (cf. ibid.: 93): Die Eisenbahn inszeniert neue Landschaften. 17 Das Erleben solcher Reisebewegungen, dieser neue Horizont an Möglichkeiten führt zur Erfahrung von Un-Ordnung, denn der Reisende „bringt seinen Körper künstlich in Unordnung, um seine Möglichkeiten auszuloten“ (Grivel 1988: 624). Diese Unordnung ist jedoch nicht allein inhaltliches Moment der Gedichte Barnabooths, sondern betrifft auch die Materialität der Texte als instabile Konstrukte. Zum einen zeigt sich dies in der konsequenten Verwendung freier Verse, die im Rahmen der französischen Lyriktradition von besonderer Bedeutung ist, werden doch in Frankreich bis in die 1890er Jahre, sieht man vom poème en prose ab, allein die etablierten rhythmischen Formen gepflegt, was diskursiv stark an das Bild des nationalen Genies gekoppelt ist. Literaturgeschichtlich betrachtet, nimmt Larbaud hier eine Sonderrolle ein, da er als Vorreiter bei der Etablierung neuer Formen des freien Verses in der französischen Moderne gilt. 18 Nach Michel Murat (2006: 25) verwende Larbaud bewusst eine ‚andere‘ Sprache jenseits der bekannten Norm und er eröffne durch den freien Vers einen anderen, international geprägten Raum der Lyrik, der sich nicht gegen die etablierten Formen wende oder diese gar parodiere. Vielmehr handele es sich bei der Lösung vom etablierten französischen Versmaß um eine Entterritorialisierung, auch durch die deutliche Orientierung am US-amerikanischen Autor Walt Whitman. 19 Bei Larbaud wird das rhythmisierte Gedicht zur Randerscheinung, der freie Vers hingegen dominant. 20 Larbauds Verse sind konsequent frei: Sie sind weder im Sinne klassischer Verse rhythmisiert noch gereimt, noch in Strophen unterteilt. Gerade das in diesen Gedichten häufig verwendete Enjambement unterstreicht die Autonomie der freien Verse (cf. Murat 2006: 34). Der Verzicht auf dem Reim stellt zur damaligen Zeit den deutlichsten Bruch mit traditionellen Vorstellungen von Poetizität dar, wie sie zu Beginn des Jahrhunderts auch weiterhin die Nouvelle Revue Française vertrat (cf. hierzu ibid.: 32). Das Lyrische besteht in Larbauds Gedichten in dem je eigenen, nicht genormten Rhythmus der Verse, der durchaus auch mit den etablierten Formen spielt, 21 sowie in klanglichen Strukturen, die Murat als „rime qu’on n’entend pas“ bezeichnet und die insbesondere in Wiederholungsstrukturen oder Assonanzen bestehen. Larbaud selbst versteht eine solche Form von Lyrik im positiven Sinne als „barbarisch“ (cf. ibid.: 34). Er begründe damit eine „prosodie singulière - souvent imitée depuis: un vers libre au rythme incertain et comme faux, rappelant la prose, ayant, malgré la fantaisie de certains enjambements, une unité organique, non mélodique“ (Décaudin 1981: 356). So bleiben diese Texte in steter Bewegung, machen Un-Ordnung sinnlich erlebbar, gerade da sie keiner in der Tradition vorgegebenen Struktur folgen. Larbaud selbst vertritt auch explizit die These, gedruckte Texte seien keine stillgestellte Sprache, es handele sich um lebendige, sich stets wandelnde Wesen: „L’immobilité du texte imprimé est une illusion d’optique. S’il est immobile, c’est comme nous dans ces moments où, absorbés par la recherche de l’équilibre des plateaux, nous demeurons sans bouger tandis qu’en nous les mouvements 85 AArts & Lettres infiniment rapides et compliqués de la vie continuent. C’est du vivant que nous pesons“ (Larbaud 1997: 78). Wie die Menschen, so sind auch die Texte als ‚Reisende‘ konzipiert. Dies bricht zugleich mit einem anderen Ordnungsprinzip: dem Originalitätsgedanken. Larbauds Werk fußt auf einem Hierarchien und Traditionen durchkreuzenden Textverständnis. Betrachtet man die hier untersuchten Gedichte als Teil von Larbauds bedeutendstem literarischen Werk A.O. Barnabooth. Ses œuvres complètes, c’està-dire un conte, ses poésies, et son journal intime (1913), dann erfahren wir, dass die fiktive Genese dieser Lyrik in der Übersetzung liegt: Es gehört zum fiktiven Konstrukt dieses Romans, dass ein Wissenschaftler die Gedichte als unmarkierte Übersetzungen aus verschiedensten Sprachen, insbesondere aus dem lateinamerikanischen Spanisch entlarvt, mithin als Plagiate von Werken, die von über 300 Autoren stammen sollen. Für Barnabooth ist diese Untersuchung nichts weiter als eine „analyse d’urine“ (1157), sprich er hält sie für völlig belanglos, sei doch jedes Schreiben immer schon ein Plagiat. Diesen Gedanken entwickelt Larbaud ebenso in seinen eigenen übersetzungstheoretischen Überlegungen (cf. Larbaud 1997: 69). 22 Texte wären demnach niemals genuin neu, sondern immer in der Durchdringung anderer Texte entstanden, auch als Ergebnis einer körperlichen Erfahrung. Ebenso stellt sich das Lesen der Gedichte als körperliches Erlebnis dar, das jedoch verwirrt und aufrüttelt. Gerade vor dem Hintergrund der zeitgenössisch gewohnten Schreib- und Lesart von in Rhythmus und Reim stark normierten Gedichten wird das Springen zwischen unterschiedlich langen Versen, betont noch durch die Vielzahl der das klassische Normverständnis strapazierenden Enjambements, als stark irritierend wahrgenommen. Diese Gedichte wiegen den Leser nicht in der Sicherheit vorhersehbarer Strukturen, sondern lassen bereits durch die Auflösung der Form den Verlust von Sicherheit in der Zuweisung von Sinn und im Erkennen einer gewohnten Ordnung der Welt erleben. Migratorisches Schreiben geschieht in diesen Texten auf allen Ebenen: Die spezifische Form des freien Verses entterritorialisiert die Texte in formaler Hinsicht, den fiktiven Autor A.O. Barnabooth charakterisiert seine von Migrationserfahrung geprägte Biographie ebenso wie sein Zwitterstatus als fiktive Figur und zugleich auch Alter Ego des Autors, die Un-Ordnug im „remapping“ 23 der genannten Orte entgrenzt und verwirft die etablierte geographische Ordnung und imaginiert neue mentale Landkarten. Das Reiseerlebnis wird hier als Form der steten Migration von Orten und Identitäten miterlebbar gemacht. Weder der reisende Barnabooth noch die beweglichen Texte zielen auf ein Ankommen oder ein Zurückkehren in die Heimat, wie es Levinas in der Figur des Odysseus gegeben sieht, der doch stets auf der Rückreise sei: „toutes ses aventures, en fin de compte, purement imaginaires ou parcourues comme par Ulysse, pour retourner chez soi“ (Levinas 1971: XV). Barnabooth und seine Texte bleiben in Bewegung, sind nie auf die Rückerlangung der Heimat hin konzipiert. 24 Sie postulieren denn auch keine kohärente Identität des Ichs, sondern halten die Vag- 86 AArts & Lettres heit des Unbestimmbaren aufrecht. Barnabooth verweilt im Dazwischen, 25 er löst die Differenz, die absolute Andersheit nicht auf. Eine Kultur, die Differenz lebt, kann sich, folgen wir Homi K. Bhabha, nur auf der Basis solcher nicht-souveräner Subjekte bilden, Hybridität als Anerkennung nicht aufhebbarer Differenzen kann nur entstehen, wenn die Subjekte ambivalent bleiben (cf. Bhabha 1990: 211sq.). Das wahrnehmende Subjekt erfährt selbst Veränderung im Umgang mit der Außenwelt und der damit einhergehenden steten Fremderfahrung. Die fragmentarische Darstellung z.B. der Frauen an verschiedenen Orten lässt uns jene Entfunktionalisierung (Grivel 1988: 619) der Landschaft erspüren, die das Reisen in der schnellen Eisenbahn mit sich bringt. Dieses reisende Erleben entzieht sich der rationalen Narration: „Zwischen den Dingen, die meine Pupille treffen und der Vorstellung, die sich mein Wissen oder mein Denken davon machen, schiebt sich ein Abstand: Ich fahre vorbei und ich zerlege; die Dinge, sie sind weder wirklich dort, noch sehe ich sie gut, noch fügen sie sich irgendeiner beschreibenden, berichtenden oder erzählenden Sprache“ (Grivel 1988: 621). Das nicht totalisierende Schreiben ermöglicht Brüche in der etablierten Ordnung der Dinge. Ein solches Reise-Schreiben ist fragmentarisch, folgt dem Muster des Umherirrens (cf. Grivel 1988: 631). Reise-Schreiben als poetisches Programm: Ode Die Eisenbahn als noch neuartiges Fortbewegungsmittel bringt neue Erlebniswelten hervor, die die historische Moderne stark prägen: Bewegung, Geschwindigkeit, Fließen der Zeit, Vergänglichkeit der wahrgenommenen Bilder. 26 Larbauds Gedicht „Ode“ (44sq.) wird regelmäßig in diesem Zusammenhang erwähnt und kann als eines der bekanntesten Gedichte des Autors gelten. Die Ode als literarische Gattung beherbergt traditionell erhabene, feierliche Momente oder Begebenheiten. 27 Mit diesem Titel stilisiert das Gedicht auf den ersten Blick die Eisenbahn zum Erhabenen und feiert somit vermeintlich die industrielle Moderne, für die insbesondere die Eisenbahn ein paradigmatisches Sinnbild des technischen Fortschritts darstellt. Dies wird noch betont durch den Ausruf „O train de luxe“ und indem verschiedene Züge benannt werden und daher die Mobilität mit der Eisenbahn als ein allgemein bekanntes und verbreitetes Phänomen erscheint: „Harmonika-Zug“, „Nord-Express“, „Orient-Express“, „Sud-Brenner-Bahn“. Dieses Vorgehen interpretiert Klesczewski als „Verherrlichung der Technik“, wobei diese als etwas Überlegenes wahrgenommen wird, das sogar Angst vor den Geräuschen provoziere und zu einem Unterlegenheitsgefühl des Dichters führe (Klesczewski 1975: 201). Das Gedicht lässt sich durchaus biographisch lesen, fährt doch Larbaud selbst 1898 sowohl im Nord-Express als auch im Orient-Express. Im gleichen Jahr bereist er Kastilien und hat in den Jahren 1900 bis 1904 verschiedene Gelegenheiten, während seiner Italienaufenthalte die Berge Samniums zu erleben (cf. ibid.: 209sq.). Kurz vor der Vergottung der Technik durch die 87 AArts & Lettres Futuristen hebe Larbaud laut Klesczewski einen zeitgenössischen Aspekt der Eisenbahn hervor, nämlich „den sinnlich-ästhetischen Weltgenuß, den Fernreisen im Luxuszug bieten können“ (ibid.: 211). Diese Idee wurde bereits von Victor Klemperer vertreten, der das Gedicht 1929 als Ausdruck des kosmopolitischen Weltgenusses eines genießerischen Egoisten darstellt (cf. Klemperer 1957: 59). Er schreibt weiterhin: „Sein A.O. Barnabooth reist, um Emotionen zu sammeln, um sein Erleben zu bereichern.“ Und Larbaud lasse sich von der Wirklichkeit führen, die ihn befriedige und zu Selbsterkenntnis führe (cf. ibid.: 80). Eine solche Lesart entspricht der in der Literaturwissenschaft etablierten Interpretation dieses am häufigsten behandelten Gedichts von Valery Larbaud. 28 Bei genauerer Lektüre hingegen wird hier vielmehr die physische und psychische Erfahrung in der fahrenden Eisenbahn zum Thema erhoben. Gefeiert wird, wenn überhaupt, das sinnliche Erleben, mithin die Geräuschkulisse, das In-Bewegung- Sein, das Flüchtige des durch das Fenster Betrachteten. Das lyrische Ich schildert hier das physische Erleben der Fahrten in damaligen Luxuszügen wie dem Harmonika-Zug oder dem Nord-Express. Deren „grand bruit“, den er ebenfalls als „angoissante musique“ benennt, wird in Rhythmus und Klang des Gedichts als sprachliche Geräuschkulisse erfahrbar gemacht, insbesondere im lautmalerischen „portes laquées, aux loquet“ 29 , in dem das regelmäßige Klackern der Räder auf den Schienen regelrecht mitklingt: O train de luxe! et l’angoissante musique Qui bruit le long de tes couloirs de cuir doré, Tandis que derrière les portes laquées, aux loquets de cuivre lourd, Dorment les millionnaires. (44) Weiterhin wird die Gleichzeitigkeit heterogener Erlebniswelten thematisiert, wenn zum einen die Hirten draußen auf dem Feld betrachtet, zugleich jedoch die Laute der schönen Sängerin aus der Kabine nebenan wahrgenommen werden. Immer spielen hier Grenzüberschreitungen und Alteritätserfahrungen eine wichtige Rolle. So stellen die Hirten draußen bereits in der Art der Beschreibung etwas Fremdes dar: Die Bäume, vor denen sie stehen, sehen wie Berge aus: „groupes de grands arbres pareils à des collines“. Hier wird erfahrbar gemacht, wie das Reisen in der Eisenbahn die Wahrnehmung von Landschaft fundamental verändert. So meint Kaschuba zu diesem neuen Erleben: „Die eigene Position als fester Punkt in der Landschaft, von dem man noch in der Renaissance-Perspektive die Welt zu sehen und zu verstehen können glaubt, dieser Punkt wird nun zum Streifen, zu einer Bewegung im Raum, die wir vor uns sehen und die wir zugleich selbst sind“ (Kaschuba 2004: 95). Die Wahrnehmung der Welt erfährt eine Verunsicherung, Raum ist keine unwandelbare Substanz mehr, Konturen verschwimmen zu neuen Formen, die Beziehung zwischen signifiant und signifié wird verschoben, wenn aus Bäumen Hügel werden, da in der panoramatischen Wahrnehmung die Tiefenschärfe verloren geht (cf. Schivelbusch 1977: 61). Der unmittelbare Nahraum vor dem Abteilfenster, 88 AArts & Lettres an dem sich unsere Sinne eigentlich zunächst versichern wollen, indem sie ihn fixieren und damit identifizieren, wird uns durch die Geschwindigkeit un-fassbar (cf. Kaschuba 2004: 95). Mit der Thematisierung der trennenden Scheibe und des durch die Rahmung des Fensters eingeschränkten Blicks findet eine Reflexion der Wahrnehmung selbst statt. Hier handelt es sich nicht um einen die Welt dominierenden Blick (cf. Merleau-Ponty 1964: 61sq.), sondern um den Blick eines Subjekts, das eine kontingente Beziehung zum Betrachteten erfährt und sich von den es betreffenden Eindrücken auch beeinflussen und beunruhigen lässt. Wahrnehmung wird hier pluridimensional entworfen, insbesondere findet z.B. das Sehen nicht unabhängig von der körperlich erfahrenen Umgebung statt, wenn der Gesang der Mitreisenden das Sehen mit beeinflusst. Dass Wahrnehmung zudem bedingt ist durch diskursiv bestimmte Vorannahmen, zeigt die Beschreibung der Hirten: sie tragen „peaux de moutons crues et sales“, so dass sie schon durch ihre Kleidung in krassem Gegensatz zur kultivierten Welt im Inneren des Zuges stehen. Nicht von ungefähr spielt sich diese Situation hinter Wirballen ab, einem Umsteigebahnhof, an dem wegen der verschiedenen Spurweiten in Europa und Russland der Zug gewechselt werden musste. Hier tritt man somit in eine neue kulturelle Sphäre ein, bewahrt sich jedoch sein Heimatgefühl im Inneren des Zuges - waren diese doch diesseits und jenseits der Grenze baugleich. Und doch markiert der Spurwechsel das Übertreten einer Schwelle, denn die Eisenbahn als Errungenschaft der modernen westlichen Welt dringt hier ein in eine als barbarisch und unzivilisiert dargestellte Umgebung. Dem ungewöhnlichen Bild der Hirten kommt besondere Relevanz zu, da es beim Leser durch den Bruch mit etablierten Wahrnehmungsmustern Irritation provoziert. Hirten gehören in der christlich-abendländischen Tradition zum typischen Element des idealisierten locus amoenus, wie bspw. auf pastoralen Gemälden. Die Beschreibung der sie bekleidenden Tierfälle als unbearbeitet und schmutzig bricht mit diesen Genrevorstellungen und bedingt so ein Aufbrechen gewohnter, von Tradition und kulturellen Diskursen geprägter Betrachtungsweisen. Genau diese Komplexität der Situation, in der das lyrische Ich sich zwar in der vertrauten Umgebung des Zugs befindet und doch eine Alteritätserfahrung sowie eine Konfrontation mit unüblichen Sichtweisen erlebt, bei gleichzeitigem In-Bewegung-Sein, stellt für das Ich nun einen der intensivsten Lebensmomente dar: J’ai senti pour la première fois toute la douceur de vivre, Dans une cabine du Nord-Express, entre Wirballen et Pskow. (44) Die Schwellenerfahrung wird zum intensivsten Lebensmoment, wohl gerade weil es sich um eine das Subjekt beunruhigende Erfahrung der Migration handelt, bei der sich der Reisende durch die Erlebnisse beeindrucken lässt, die auf ihn einwirken. Hier wird nachvollziehbar gemacht, wie Wahrnehmung immer auch eine körperliche Erfahrung darstellt, 30 die in der Reise eine besondere Deutlichkeit erlangt: Das Subjekt wird dabei als von seiner Außenwelt beeinflussbar begriffen, 89 AArts & Lettres denn die Erfahrung der Bewegung wirkt verändernd auf das Ich ein, dem hier nicht der Status des die Welt beherrschenden Subjekts zukommt. Analog zu Flussers Ideen über das Exil drückt Larbauds Gedicht hier aus, dass ein Empfinden der eigenen menschlichen Existenz erst durch das Verlassen der heimatlichen Gewohnheiten möglich wird, dass „der Mensch erst eigentlich Mensch wird, wenn er die ihn bindenden vegetabilischen Wurzeln abhackt“ (Flusser 2000: 107). 31 So wird die existentielle Notwendigkeit des Nomadentums bei Larbaud auch in einem Gedicht des Zyklus „Europe“ unterstrichen: Mais quoi! Je sens qu’il faut à ce cœur de vagabond La trépidation des trains et des navires, Et une angoisse sans bonheurs sans cesse alimentée. (74) Im Gedicht „Ode“ thematisiert das lyrische Ich, dass es seine menschlichen Erfahrungen in Sprache umzusetzen versucht, auch z.B. das Erleben von Geräuschen und Bewegung. Dabei steht der Mensch als wahrnehmendes Subjekt hinter den Dingen zurück, wie es sich in dem Wunsch äußert, die Sprache der Dinge übernehmen zu wollen (cf. Merleau-Ponty 1964: 66). Dies impliziert eine Kritik an der ordnenden Dominanz der Sprache und ihrer automatisierten Projektionen. Die unaufhebbare Differenz zwischen Welt und Sprache wird dabei unaufhörlich problematisiert, so dass stets der Gedanke präsent bleibt, dass eine Abbildung von Welt durch Sprache im Sinne einer nach Eindeutigkeit strebenden Sinnkultur, einer nach Äquivalenz strebenden Übersetzung nicht möglich ist: Prêtez-moi, ô Orient-Express, Sud-Brenner-Bahn, prêtez-moi Vos miraculeux bruits sourds et Vos vibrantes voix de chanterelle; (44) [ ] Ah! il faut que ces bruits et mouvements Entrent dans mes poèmes et disent Pour moi ma vie indicible, ma vie D’enfant qui ne veut rien savoir, sinon Espérer éternellement des choses vagues. (45) Die Korrespondenzen zwischen Zeichen und außersprachlicher Wirklichkeit bleiben auch bei Larbaud gebrochen, wie hier in Analogie zu Charles Baudelaires bereits genanntem Sonett „Correspondances“ erkennbar ist. Zugleich zeigt sich die Sehnsucht, auch das eigentlich Unsagbare über Sprache auszudrücken, um dem Warten auf Vagheiten, „des choses vagues“, Raum und Stimme zu geben - was ebenfalls als Antwort auf Baudelaire lesbar ist, dessen lyrisches Ich in „L’étranger“ am liebsten nur die Wolken („J’aime les nuages... les nuages qui passent...“, Baudelaire 1975: 277) ansähe. Sowohl explizit im „indicible“ als auch implizit über die Form liegt hier eine Thematisierung der die Grenzen der Sprache übersteigenden Wirklichkeit vor, der unaufhebbaren Differenz zwischen Sprache als Sinnkultur und Welt als Erfahrungs- 90 AArts & Lettres raum. Diese unmögliche Ordnung der Welt durch die Sprache spiegelt sich auch in der formalen Gestaltung des Gedichts: Die häufigen, teils weder rhythmisch noch inhaltlich motivierten Enjambements, stören auch formal das Denken in Automatismen. Im Aufbau der Verse wird zugleich die Verankerung in die klassischen Versformen wie auch das Ausbrechen daraus als Bewegung erlebbar gemacht, wie es Michel Murat aufzeigt: „Le mouvement d’extension progressive et de débordement des schèmes métriques est nettement perceptible“ (Murat 2006: 35). 32 Die zweimal verwendeten Gedankenpünktchen zeigen zudem die potentielle Unendlichkeit des Textes auf und unterstreichen so die fließende Übergänglichkeit, die Nicht-Abschließbarkeit, die Un-Ordnung des Textraums. Gerade Schweigen stört die Kohärenz. 33 Dieses Gedicht ist somit lesbar als Teil der Wirklichkeit seiner historischen Welt. Die Erfahrung des Reisens um die Jahrhundertwende und die damit einhergehende Auflösung von Grenzen und Raumkonzeptionen wird (mit)erlebbar, indem der Text selbst zum Erfahrungsraum wird und so im Sinne einer Präsenzkultur nach Gumbrecht Stimmungen zu generieren vermag, die dem Leser diesen historischen Moment einer als paradoxal empfundenen Lebenswelt erfahrbar macht. Denn dieses Gedicht vereint in sich sowohl eine durchaus positive Annahme der Eisenbahn als Element des industriellen Fortschritts und wird daher nicht umsonst stets als fortschrittsaffirmatives Werk gelesen. Zugleich thematisiert es jedoch die Wahrnehmung selbst, die sich durch die Erfahrung der Schnelligkeit in der Moderne grundlegend ändert und dabei zugleich auch den Menschen als dominantes, kartesianisches Subjekt von Weltwahrnehmung und -repräsentation fundamental in Frage stellt. Das Gedicht ist somit ebenso komplex und paradoxal wie es die neue lebensweltliche Erfahrung des Reisens zu Beginn des 20. Jahrhunderts ist: Es zeigt die Paradoxien der historischen Moderne als Oszillation zwischen fortschrittsorientierter Technikbegeisterung und Auflösung etablierter Ordnungsstrukturen wie Geographie und Zentralperspektive auf. 34 Insofern lässt sich dieser Text - nicht umsonst nach dem „Prologue“ der erste Text der Sammlung - als programmatisches Gedicht lesen, da es auch metaliterarisch die problematische Beziehung zwischen Dingwelt und Literatur thematisiert und die Frage danach stellt, wie sinnliche, historisch spezifische Welterfahrungen gerade angesichts einer sich entgrenzenden Lebenswelt versprachlicht werden können, wie sie im wörtlichen Sinne eingehen sollen in die Sprache. Larbauds Texte bergen in ihrer literarischen Eigensinnigkeit das Leben, nicht im Sinne persönlicher und über die Sinnhaftigkeit der Texte nachvollziehbarer Bekenntnisse, sondern als etwas, das durch die Texte aufscheint, im Sinne einer ‚Übersetzung‘, welche die unausweichliche Differenz zwischen Text und Lebenswelt im Bewusstsein hält. 91 AArts & Lettres Asholt, Wolfgang / Ette, Ottmar (ed.), Literaturwissenschaft als Lebenswissenschaft, Tübingen, Narr, 2010. Bachmann-Medick, Doris, Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Reinbek bei Hamburg, Rowohlt, 2006. — „Übersetzung in der Weltgesellschaft. Impulse eines ‚translational turn‘“, in: Susanne Klengel / Andreas Gipper (ed.), Kultur, Übersetzung, Lebenswelten. Beiträge zu aktuellen Paradigmen der Kulturwissenschaften, Würzburg, Königshausen & Neumann, 2008, 141- 160. Baker, Peter, Obdurate Brilliance. Exteriority and the Modern Long Poem, Gainsville, University of Florida Press, 1991. 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Cf. auch den Sammelband Literaturwissenschaft als Lebenswissenschaft (Asholt/ Ette 2010), darin insbesondere Ette 2010a. 4 Cf. hierzu auch ihre Ausführungen zur Exteriorität des Blicks bei Calvino (Borsò 2009) sowie ihre Arbeit zu Präsenz und Gewalt (Borsò 2012). 5 Cf. den Artikel „La Prose du Transsibérien, premier poème simultanéiste“ von Bruno Cany in diesem Heft. Ein Abdruck dieses „Simultanbuches“ (im Original ein zwei Meter langer Leporello) findet sich in der Ausgabe Cendrars 1998. 6 Die Poèmes par un riche Amateur wurden bei ihrem erstmaligen Erscheinen im Jahr 1908 zurückhaltend aufgenommen, da wohl die Kategorien zu ihrer Beurteilung noch fehlten: „on n’avait jamais vu exprimés avec autant d’intensité les réalités de la vie moderne. [ ] La nouveauté n’était pas moins grande dans la forme de cette poésie. [ ] son influence est grande“ (Décaudin 1981: 356sq.). Zur begeisterten Aufnahme von Larbauds Roman hingegen in der Nouvelle Revue de France cf. Koffeman 2003: 211sqq. 94 AArts & Lettres In manchen Überblickswerken werden Larbaud ganze Kapitel gewidmet, die jedoch nicht seine Lyrik betreffen, sondern die Figur Barnabooth (Curtius 1925: 185-216) oder sein Tagebuch (Rousseaux 1958: 45-54). Als jüngere Monographien nach 2000 lassen sich lediglich nennen Corbí Sáez (2010) und Berquin (2011), der sich vor allem mit den Erzähltexten und dem Tagebuch des Autors befasst. Ein teils aufschlussreicher Sammelband, der hier auch mehrfach zitiert wird, ist Chaudier/ Lioure 2006. 7 Zur Infragestellung des Identitätsbegriffs, bezogen sowohl auf die Welt als auch auf die Subjekte, cf. Friese 1998, insbes. 29. 8 Eine Darstellung der Komplexität von Wahrnehmung als kritischer Blick auf Verfahren von Historiographie und Anthropologie findet sich bei Corbin 1998. 9 Zur Kritik am Begriff der Horizontverschmelzung cf. ibid.: 66. 10 Cf. hierzu Sauter 2013. 11 Diesen Überlegungen liegt die Unterscheidung zwischen Sinn- und Präsenzkultur zugrunde, wie sie Hans Ulrich Gumbrecht entwickelt (2004: 99-106). 12 Zum Begriff des migratorischen Schreibens cf. Ette 2004: 245. 13 Cf. Décaudin 1981: 355: „[ ] si Barnabooth n’est pas Larbaud, il lui ressemble par des nombreux traits“. Zur Editionsgeschichte von Larbauds Werken cf. Famerie 1958: 1284. 14 François Berquin stellt diese sprachlichen Hybridisierungen als eine Art der Dezentrierung dar (Berquin 2011). 15 Jean des Cars stellt die Bedeutung des Orient-Express für die Entstehung des Eisenbahnmythos heraus: Der Orient-Express war mit Abschluss der Gleisarbeiten im Jahr 1889 nicht nur die längste Zugverbindung, sondern auch der erste Luxuszug. So wurde er zur Verkörperung der „Belle Epoque“ (cf. des Cars 1979: 33). 16 Im Zusammenahng mit Larbaud wird gern von einem „sentiment géographique moderne“ gesprochen, z. B. Raymond 1940: 122. Décaudin meint, das Zitat stamme von Larbaud selbst (1981: 197, FN 95). 17 Wie die neue Geschwindigkeit beim Reisen in der Eisenbahn paradoxerweise sowohl als Raumverkleinerung wie auch als Raumerweiterung und letztendlich als Vernichtung des Raum-Zeit-Kontinuums wahrgenommen wird, beschreibt Schivelbusch 1977: 37. Zur Einschränkung des Sehens und der Inszenierung neuer Landschaften cf. ibid.: 58sq. 18 Cf. hierzu Michel Murat: „L’invention de Barnabooth a permis à Valery Larbaud d’introduire dans la poésie française une forme nouvelle du vers libre, qui dépasse les apories où s’était enfermé le mouvement vers-libriste et constitue dans ce genre la première œuvre cohérente et caractéristique du modernisme“ (Murat 2006: 23). Es handele sich um „le premier recueil cohérent du vers libre moderne en poésie française“ (ibid.: 41). 19 Larbaud entdeckte Whitman bereits in den Jahren 1899-1900 in Lektüre und eigenen Übersetzungen: „Barnabooth ignorera le messianisme social. En revanche, Whitman lui a révélé une forme nouvelle d’expression poétique, que ses essais de traduction l’habitueront à pratiquer“ (Décaudin 1981: 353). Zum Einfluss des Werks Walt Whitmans in Frankreich im frühen 20. Jahrhundert als „whitmanisme diffus dans la poésie française“ cf. ibid.: 357-359. 20 Dies unterstreicht die Tatsache, dass für die Edition von 1913 kaum Bearbeitungen an den Gedichten stattfanden, hingegen ganze Texte vom Autor gestrichen wurden, und zwar insbesondere die rhythmisierten. Die vom Autor herausgekürzten Gedichte entsprechen häufig klassischen Formen und stehen in der Tradition von Paul Verlaine (cf. Murat 2006: 29). 95 AArts & Lettres 21 Eine ausführliche Darstellung der Rhythmisierungen in Larbauds Poèmes findet sich bei Murat 2006. 22 Eine Darstellung der übersetzungstheoretischen Perspektiven bei Larbaud findet sich in Gerling (im Druck). 23 Zu diesem Begriff cf. Bachmann-Medick 2006: 292sqq. 24 So meint auch Robert Champigny: „However movement may be viewed in an opposite way, in a Bergsonian way. It consists in placing oneself within the movement, like a fish in water“ (Champigny 1955: 78). 25 So schreibt Champigny: „Barnabooth is neither in a train or in a country, he is ‚entre Wirballen et Pskow‘, he is always between“ (Champigny 1955: 79). 26 Wehle benennt die neuen Fortbewegungsmittel als Grund für ein neues Lebensgefühl: „Wie kaum jemals zuvor hatte die technisch-industrielle Zivilisation gerade dieser Epoche in die Vollzugsformen des Alltagslebens eingegriffen. [ ] Errungenschaften wie das Fahrrad, das Automobil, Straßenbahn, U-Bahn, Transatlantische Schifflinien, Transsibirische Eisenbahn, vor allem aber das Flugzeug nährten die Illusion, daß sich räumliche Distanz aufheben ließe. Ubiquität wurde zu einer populären Vorstellung. [ ] Ein neues Lebensgefühl war im Entstehen. Es ließ ‚Omnipräsenz‘, ‚Ubiquität‘, ‚Kollektivität‘ als Wirkungszusammenhang erkennen“ (Wehle 1987: 418). Kern schreibt hierzu: „Railroads were not new, but around the turn of the century their hold on political, military, economic, and private life tightened as the railroad network thickened“ (Kern 1983: 213). 27 Cf. hierzu Klesczewski: „Ein moderner Leser erwartet von einem Gedicht mit dem Titel ‚Ode‘, das nach der Jahrhundertwende entstand und 1908 veröffentlicht wurde, keine feste Strophenform mehr, wie sie von Ronsard bis Hugo die Regel war; er ist auf wechselnden Umfang der Strophen ebenso vorbereitet wie auf reimlose vers libres; wohl aber erwartet er - immer noch - einen ‚hehren‘ Gegenstand und eine ernste Tonlage. Valery Larbaud enttäuscht diese Erwartung nicht“ (Klesczewski 1975: 200). Im Folgenden zeigt er hingegen auf, wie mit dieser Erwartungshaltung doch gebrochen wird, da das gepriesene Erhabene hier keine Muse oder eine andere göttliche Instanz sei (cf. ibid.: 201). 28 Neben den bereits erwähnten Victor Klemperer, Reinhard Klecszewski und Peter Baker vertreten auch folgende Autoren in ihren Texten die Ansicht, das Gedicht stelle eine Verherrlichung der modernen Technik dar: Raymond, 1940: 122; Décaudin 1981: 356; Lioure 1981: 15; Brown 1981: 59; Pabst 1983: 100 u. 284; Jones 1988: 3sqq.; Corbí Sáez 2010: 55. 29 Zugleich liegt hier ein Beispiel für den nicht hörbaren Reim nach Murat vor, da es sich um Klangvariationen handelt. 30 Merleau-Ponty erläutert, dass selbst ein Alltagsgegenstand wie ein Tisch zu seinem ganzen Körper in Bezug stehe, Wahrnehmung entsprechend nicht auf das Sehen zu reduzieren sei: „la table devant moi entretient un singulier rapport avec mes yeux et mon corps“ (Merleau-Ponty 1964: 21). Nicole spricht bezüglich der Reisethematik bei Larbaud von einer „mouvance plus essentielle qui, dit-on, transforme insidieusement mais inéluctablement notre corps biologique“ (Nicole 1981: 11). 31 Daher kann diese Analyse nicht konform gehen mit der von van Stralen, der in Larbauds Lyrik folgende Gegensatzpaare ausmacht: „child vs. adult, living vs. travelling, body vs. mind, nature vs. culture“ (van Stralen 1993: 518). Vielmehr werden diese etablierten Gegensatzpaare bei Larbaud teils auch ludisch oder ironisch gebrochen und als simultane Phänomene präsentiert. 96 AArts & Lettres 32 Zur teilweisen Beibehaltung regelmäßiger Zehnsilber und Alexandriner sowie der gleichzeitigen Sprengung dieser herkömmlichen Strukturen cf. auch Klesczewski 1975: 206. 33 Zur Funktion des Schweigens cf. z. B. Chambers 2008: 58-62. 34 Bernard Siegert legt dar, wie gerade die Mathematik im 19. Jahrhundert von der Einsicht erschüttert wurde, dass die angenommene stetige Kontinuität von Weltrepräsentation abhängig ist von der Vorannahme des kartesianischen Subjekts und der Zentralperspektive, die letztendlich lediglich eine Projektion von Phänomenen sei (cf. Siegert 2003: 316).