eJournals lendemains 34/136

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Narr Verlag Tübingen
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2009
34136

Solitude, récif, étoile. Gerhard Goebel (1932–2009)

2009
Thomas Amos
Helmut Bertram
ldm341360134
134 In memoriam Thomas Amos und Helmut Bertram Solitude, récif, étoile. Gerhard Goebel (1932-2009) Placet stupere - Gerhard Goebels Leben verlief in den Bahnen des Exzentrikers. Geboren am 20. Juli 1932 in Berlin, zwingt ihn 1951, nach dem Abitur auf dem Joachimthalschen Internat, eine Krankheit, Lungentuberkulose, zu zweijährigem Sanatoriumsdasein. Die erzwungene Muße nutzt er als Initiation in die Komplementärwelt der Literatur und liest neben vielem anderen die Recherche. Von 1953 studiert er an der Freien Universität vier Semester evangelische Theologie, bevor er zur Romanistik und Anglistik wechselt. (Noch Jahrzehnte später wird er gern erzählen, dass sein erstes Referat den guten König Henri IV. behandelte, wie ihn Heinrich Manns Romanwerk evoziert.) Gerhard Goebels akademische Lehrer sind Erich Loos, Horst Baader und insbesondere der 1958 nach Berlin berufene Walter Pabst, sein großes Vorbild. 1962-65 ist er als Deutschlektor an der Universität Dijon tätig. Die in Frankreich verfasste Promotionsschrift Zur Erzähltechnik in den „Histoires comiques“ des 17. Jahrhunderts (Sorel-Furetière) erscheint 1965. Bezeichnend bereits an der Wahl des Themas ist, wenn man die Schwerpunkte des späteren Oeuvres vor Augen hat, die damals gewagt, ja exzentrisch anmutende Präferenz einer ganz unklassischen Klassik unter obendrein strukturalistischer, prä-narratologischer Prämisse. Und ohnehin schätzt Gerhard Goebel zeitlebens das mit dem Komischen und Ludischen so eng verbundene subversive Moment, daher seine erklärte Vorliebe für La Fontaine und Italo Calvino. Methodisch blieb er auch zukünftig, bei starker komparatistischer Ausrichtung, dem Strukturalismus zugetan. Den wissenschaftlichen Non-Konformismus insgesamt, wozu (damals wie heute) die Infragestellung des tradierten Kanons, die Beschäftigung mit moderner bzw. zeitgenössischer Literatur und die Hinwendung zu paraliterarischen Gattungen zählen, lernt er bei Walter Pabst. Als dessen Assistent und Meisterschüler habilitiert er sich im Wintersemester 1969/ 70 mit einer Arbeit zur fiktiven Architektur - Poeta faber. Erdichtete Architektur in der italienischen, spanischen und französischen Literatur der Renaissance und des Barock (Heidelberg, 1971). Dieses Pionierwerk, das nur sehr geschickten Händen gelingen konnte, steht, um ein Lieblingswort seines Autors zu gebrauchen, à l’orée: Mit der kompetenten Einbeziehung von Kunstgeschichte und mehr noch von Architekturtheorie und - geschichte in die mit höchster philologischer Souveränität betriebene Analyse praktiziert hier Gerhard Goebel geradezu programmatisch interdisziplinäres Arbeiten. Am ehesten lässt sich die Kühnheit eines solchen Unternehmens mit einem Blick auf die damalige, zwischen rigider Textimmanenz und bereits überspannter Literatursoziologie stagnierende Situation ermessen. Gerhard Goebels „Versuch der Eroberung des Raumes durch das Wort“ (S. 208) geschieht in bester analytischer Tradition, ein- 135 In memoriam schließlich des unvergleichlichen Stils, und lotet zugleich das Potential unserer Disziplin aus. Obwohl kein 68er im eigentlichen, aktiven Sinne, blieb Gerhard Goebel dem damals herrschenden Aufbruchsgeist sein Leben lang verbunden: Auch davon zeugt der Poeta faber. Schönes Paradox - die exzentrische Arbeit installiert Gerhard Goebel im Universitätsbetrieb. Er wird 1971 Professor an der Freien Universität, wechselt 1975 auf einen Lehrstuhl für französische Literatur an der Universität Hannover. Von 1981 bis zu seiner Emeritierung im Sommersemester 2000 lehrt er französische und italienische Literatur an der Frankfurter Universität. Gerhard Goebels wissenschaftliches Werk, weit über hundert Veröffentlichungen zur französischen und italienischen Literatur, offeriert eindrückliche Funde und faszinierende Ausblicke. Auf frankoromanistischer Seite finden sich dort Beiträge zur Semiotik der Mode und zu Paul Poiret, zu Architekturtheorie und Schreibspielen, zu Giraudoux und Proust und vielem mehr. Schwerpunkte sind seit den sechziger Jahren der Renaissance-Roman Hypnerotomachia Poliphili und Mallarmé, dem er 1993 und ’98 eine von ihm glänzend übersetzte und kommentierte Werkausgabe widmete, denn homme de lettres der er war, verstand er sich auch als Literaturvermittler. Als stimulierendes Mitglied des wissenschaftlichen Beirats dieser Zeitschrift betreute Gerhard Goebel mehrere exzentrische Schwerpunkte und Dossiers, so „Paris au pluriel“ (35/ 1984), „Mallarmé“ (40/ 1985), „Walter Pabst“ (45/ 1987), „Les contes de fées“ (53/ 1989) und „La Littérature fantastique“ (2003). Nebenbei war Gerhard Goebel Musiker und Komponist, davon zeugen unzählige Stücke, darunter Mambos und sogenannte Gespenstersonaten, die vorzugsweise während enervierender Institutskonferenzen entstanden. Außerdem wagte er sich auch auf das dünne, aber verlockende Eis der Mathematik, wie bereits die Beschäftigung mit numerischen Phänomenen in der Habilitationsschrift zeigt. Doch blieb es nicht bei der nur erdichteten Architektur. Mit einfachen Mitteln vermaß er den Platz vor der Kirche Santa Maria della Salute in Venedig und deren äußere Grundrissformen, stellte Vergleiche an mit den erhaltenen Zeichnungen des Architekten Longhena, den der Doge Contarini seinerzeit beauftragt hatte, sie als Dank für die Verschonung der Serenissima vor der Pest zu errichten. So fand Gerhard Goebel Hinweise auf die Verwendung kabbalistischer Zahlenmystik. Später war es insbesondere das Aufspüren besonderer Zahlenverhältnisse in der Lyrik, etwa bei La Fontaine oder Mallarmé, die er mit dem programmatischen Begriff „Poemathesis“ bezeichnete. In letzter Zeit beschäftigten ihn vor allem „irrationale“ Zahlenverhältnisse, wie beispielsweise der „Goldene Schnitt“, die Kreiszahl π oder die Quadratwurzeln aus 2, 3, usw. Da solche Zahlen in der Architektur, aber auch in der Dichtkunst auftreten, interessierte ihn daran besonders die Frage, ob und wie man mit rationalen oder natürlichen Proportionen solche „irrationalen“ Zahlenverhältnisse möglichst schnell und einfach annähern konnte, und ob sich geschichtlich dafür Nachweise erbringen lassen. Ausgehend von Variationen und Ableitungen der Fibonacci-Folge (Leonardo von Pisa genannt Fibonacci, um 1175 - nach 1240; die Glieder seiner berühmten Zahlenfolge entstehen durch Addition der beiden vor- 136 In memoriam hergehenden: 1,1,2,3,5,8,13,21,...) und unter Einbeziehung pythagoreischer Zahlentripel versuchte Gerhard Goebel, die Kreiszahl π anzunähern und nannte sein Verfahren das „Pi-Pendel“. Wenn auch die Mathematiker diese numerischen Verfahren längst standardisiert haben, ist hervorzuheben, dass der mathematische Dilettant Goebel sie ganz allein - seiner Intuition folgend - gewissermaßen für sich selbst neu entdeckte. Wie erfolgreich seine Suche nach verborgener Zahlensymbolik in den Werken der Dichtkunst war, mag man den Texten zur Poemathesis entnehmen. Doch vorsichtig hielt er Distanz zu den eigenen Erkenntnissen; im Gespräch sagte er: „Von der Zahlenmystik als einem hermeneutischen Schlüssel zur Poesie wird man sich wohl verabschieden müssen! “ Gerhard Goebel war ein exzellenter Hochschullehrer und begriff sich, Meister der Mäeutik, als Anreger, auch hierin ganz old school. Wer seine Vorlesungen oder Seminare, gegliedert von der obligatorischen Zigarettenpause, erlebt hat, wird dies kaum je vergessen. Nur er, der es nie leiden mochte, als Herr Professor angesprochen zu werden, vermochte kraft seines Wortes, des Plaudertons der fröhlichen Wissenschaft, die prosaische Wirklichkeit eines Seminarraums derart zu verwandeln, dass man sich in einen Salon versetzt glaubte. Unsere Ausführungen wollen kein Nekrolog sein - Gerhard Goebel, Selbstlob und Pathos zutiefst abgeneigt, hätte ihn sich verbeten -, eher galt es, das Bild eines singulären Gelehrten nachzuzeichnen, den die lebensgütige Weisheit eines freien Geistes charakterisiert. An den Anfang haben wir einen Vers aus dem Gedicht Salut gestellt, das Mallarmés Gedichtband letzter Hand eröffnet. Gemeinsam mit dem Sprecher, Mallarmé selbst, und den Freunden und Weggefährten, bringen wir diesen triadischen Trinkspruch auf Gerhard Goebel aus.