eJournals lendemains 39/153

lendemains
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2941-0843
Narr Verlag Tübingen
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2014
39153

Fritz Nies: Kurze Geschichte(n) der französischen Literatur - für Deutsche

2014
Hans-Jürgen Lüsebrink
ldm391530149
149 Comptes rendus Rolle spielen. Die Studie hat das Verständnis des deutschen und natürlich vor allem des französischen Theaterfeldes sowie die Fakten und Hintergründe der Rezeption des deutschsprachigen Theaters in Frankreich auf eine neue Grundlage gestellt, auf der alle künftigen Untersuchungen bestens aufbauen können. Die Anerkennung der Leistung der Verfasserin im französischen Theaterfeld kommt schon dadurch zum Ausdruck, dass Jack Lang ein Vorwort und Jean Jourdheuil eine Einleitung zu der Publikation beigetragen haben. Erst kürzlich folgte eine weitere Anerkennung durch die Verleihung des renommierten Deutsch-Französischen Parlamentspreises, der Nicole Colin auf deutscher Seite auf der gemeinsamen deutsch-französischen Sitzung der Jury am 21. Januar 2013 aus Anlass des 50. Jahrestages des Élysée-Vertrages verliehen wurde. Angesichts der vorliegenden Arbeit würde man sich wünschen, dass eine ähnliche Untersuchung zur Rezeption der französischsprachigen Dramatik in Deutschland im 20. Jahrhundert folgen würde, die das Verständnis beider Theatersysteme und ihrer gegenseitigen Befruchtung ergänzen und vertiefen könnte. Wilfried Floeck (Gießen) —————————————————— FRITZ NIES: KURZE GESCHICHTE(N) DER FRANZÖSISCHEN LITERATUR - FÜR DEUTSCHE, MÜNSTER, LIT, 2013, 195 S. Fritz Nies, emeritierter Romanist an der Universität Düsseldorf, der in diesem Jahr seinen 80. Geburtstag gefeiert hat, zählt zweifelsohne zu den originellsten und in gewisser Hinsicht auch unkonventionellsten Köpfen der deutschen Romanistik, einer Disziplin, die er einmal, als damaliger Vorsitzender des Deutschen Romanistenverbandes, ebenso liebevoll wie bewundernd und anerkennend als ein „unmögliches Fach“ bezeichnet hat. 18 Seine Unkonventionalität zeigt sich nicht nur in der poetisch-verspielten, verschmitzten und zugleich treffend-anspielungsreichen Titelgebung zahlreicher seiner Aufsätze und Studien, die er mit pittoresken Überschriften versah wie „Literatur als Lebensmittel“ (1988), „Loben und Lästern: Poetische épitaphes und tombeaux“ (2010), „Massakrierter Molière“ (1986) und „Zahnpasta-Lawinen oder Latinität? Kapuzinerpredigt eines Nichtlinguisten über Waren und Wege unserer Sprachimporteure“ (1996); sondern auch in der Erschließung neuer Gegenstandsbereiche und Fragestellungen für die romanistische - und insbesondere französische - Literaturwissenschaft. Diesen Impetus 18 Fritz Nies, „Begrüßung durch den Vorsitzenden: Die Zukunft eines ‚unmöglichen Fachs‘“, in: Fritz Nies / Reinhold R. Grimm (ed.), Ein ‚unmögliches Fach‘: Bilanz und Perspektiven der Romanistik, Tübingen, Narr, 1988, 9-12; cf. auch id., „Glanures aux champs et sur les chemins de ma discipline“, in: Michel Espagne / Hans-Jürgen Lüsebrink (ed.), La romanistique allemande. Un creuset transculturel, Revue Germanique Internationale, 19, 2014, 11-23. 150 Comptes rendus belegt auch das hier zu besprechende Buch, das auf zahlreichen Vorarbeiten und verstreuten Aufsätzen von F. Nies aufbaut, aber in seiner Gesamtheit ein neues, durch seine Struktur, Konzision und Kohärenz überzeugendes Werk darstellt. Der Verfasser verfolgt die Zielsetzung, anstelle einer ‚traditionellen‘ Geschichte der französischen Literatur, die in mehr oder minder ausgeprägter Weise französischen Vorbildern folge, eine französische Literaturgeschichte aus deutscher Sicht zu verfassen. Mit „deutscher Sicht“ ist keineswegs, wie sich auf den ersten Blick vermuten ließe, die Thematisierung subjektiver ‚Ansichten‘ und Deutungsmuster gemeint, sondern die systematische Aufarbeitung der vielfältigen Beziehungen zwischen der französischen Literatur des letzten Jahrtausends und dem deutschen Sprach- und Kulturraum. Diese ‚Beziehungsebene‘ betrifft sehr unterschiedliche Dimensionen, die sich in theoretischer Hinsicht unter dem Begriff ‚Interkulturelle Literaturwissenschaft‘ zusammenfassen ließen: zunächst Lektüreweisen und Deutungsmuster französischer Literatur in Deutschland; sodann literarische Wahrnehmungsmuster Deutschlands und der Deutschen in der französischen Literatur; fiktionale Darstellungsformen deutsch-französischer interkultureller Kommunikationssituationen; interkulturelle, deutsch-französische Schriftstellerbiographien, wie sie exemplarisch Heinrich Heine und Yvan Goll repräsentieren; sowie interkulturelle, biographisch verankerte Begegnungsformen französischer Literaten mit Deutschland, ob in Form von Reisen, längeren Deutschlandaufenthalten, deutsch-französischen Korrespondenzen oder deutsch-französischen Beziehungs- und Verflechtungsnetzen (wie etwa zwischen Romain Rolland und Stefan Zweig oder André Gide und Thomas Mann). Fritz Nies’ sehr dicht geschriebene, aber trotz aller Informationsfülle gut lesbare und auch dank ihrer narrativen Dimension (auf die der Plural „Geschicht[en]“ im Titel verweist) durchaus kurzweilig zu lesende Literaturgeschichte weist eine zunächst diachronische und dann transversale Struktur auf. Nach einer kurzen Einleitung, „Gebrauchsanweisung“ genannt, und einem Kapitel zur kulturellen Dominanz der Literatur im öffentlichen Bewusstsein Frankreichs folgt ein die Jahrhunderte vom Frühmittelalter bis zum Beginn des 21. Jahrhunderts durchschreitendes Kapitel zu „Profilen und Wechselwirkungen“ zwischen der deutschen und französischen Literatur. Im vierten Kapitel, das den Titel „Doppelporträts: Wandlung exportierter Spitzenautoren“ trägt, werden sukzessive die Übersetzung- und Rezeptionsformen sowie die spezifischen Deutungsmuster großer französischer Autoren im deutschen Kulturraum, von Madame de Sévigné, Molière, Racine und Saint-Simon bis zu Victor Hugo und Baudelaire, in den Blick gerückt. Das letzte, umfangreichere Kapitel des Buches ist sieben transversalen Fragestellungen gewidmet, die in ebenso dichter wie anschaulicher und anregender Weise in einer historischen Langzeitperspektive untersucht werden: (1) „Liebes- und Hassgeschichten“; (2) „(Un)sagbar fremd: deutsche Sprache und Welt“; (3) „Offene und taube Ohren: Zeiten des Gesprächs“; (4) „Schlüsselfiguren und Langzeit-Klischees“; (5) „Spintisierer wird Vernichtungsfachkraft: der Gelehrte“; (6) „Romantisiert: verzeitlichte Landschaften“; sowie (7) „Deutschland und Europa“. Im Schlusskapitel, 151 Comptes rendus „Ausblick und Rückblick“ genannt, unterstreicht F. Nies, ausgehend von der Feststellung, „dass Literatur im französischen Kulturraum einen wohl einmaligen Sonderrang einnimmt für das kollektive Selbstverständnis der Nation“ (177): „All dies verdient hier besonderes Interesse, wird es doch in starkem Maße auch den künftigen Umgang beider Völker miteinander prägen“ (177sq.). Der Anhang des Buches umfasst eine sechsseitige, originelle und zu weiteren Erkundungen einladende Liste der Gedenkstätten französischer Schriftsteller, sowohl in Paris als auch in der Provinz, sowie ein ausführliches, sehr nützliches Register der erwähnten Autoren und Kulturschaffenden. Aus der Fülle der Anregungen, die der vorliegende Band vermittelt, seien nur drei Themenkomplexe erwähnt, die dem Rezensenten von besonderem Stellenwert erscheinen. Sehr wichtig erscheinen zunächst F. Nies’ Ausführungen zum Stellenwert des Literarischen in der französischen Kultur, die auf zahlreichen seiner Vorarbeiten u. a. zu französischen Schriftstellerdenkmälern, zur Präsenz französischer Autoren auf Briefmarken und im Schulunterricht sowie auf der Analyse der spezifischen, engen Beziehung zwischen (Kultur)Politik, Literatur und politischer Macht in Frankreich beruhen. 19 Der Verfasser versteht es, hier wie in anderen Kapiteln seines Buches, strukturelle Zusammenhänge mit signifikanten Einzelphänomenen (wie der grundlegend anders gelagerten Ausrichtung des französischen Panthéon und der deutschen Walhalla, die sich beide als nationale Kanonisierungsinstitutionen verstehen) und zielführenden statistischen Daten zu verbinden - etwa zur Präsenz von Literaten auf Denkmälern sowie Straßenschildern im Pariser Raum (6), die ihn u. a. zu der Feststellung führen: „Auch hier sind Schriftsteller, unter Führung von Victor Hugo, in Paris viermal so häufig vertreten wie in Berlin, siebenmal häufiger als in London und Metropolen der USA, und ähnliches gilt für sämtliche Präfekturhauptstädte Frankreichs“ (7). Sehr aufschlussreich sind auch die in Kapitel IV umrissenen Rezeptionsgeschichten französischer Autoren/ innen in Deutschland. Neben kulturspezifischen Deutungsmustern, die Nies nicht nur anhand der deutschen Literaturkritik, sondern auch ausgehend von Übersetzungsstrukturen und Paratexten sowie der Präsenz und Interpretation französischer Autoren in deutschen Anthologien und Schulbüchern beleuchtet, werden auch Rezeptionsbarrieren in den Blick gerückt, die insbesondere auf spezifischen Erwartungshaltungen gegenüber der deutschen Literatur beruhen. So stellt Nies mit Recht fest, der „Politiker Victor Hugo, Galionsfigur und Wortführer der demokratischen Linken zuerst in der Revolution von 1848 und dann nochmals nach dem Sturz des Kaiserreichs, der politisch und humanitär engagierte Schriftsteller“ sei dem deutschen Lesepublikum, das ihn fast ausschließlich als Verfasser der Romane Notre-Dame de Paris und Les Misérables kennt und schätzt, „weitgehend unbekannt geblieben“ (96). Ähnliche Rezeptionsbarrieren und Wahrnehmungsfilter lassen sich in umgekehrter Richtung bezüglich 19 Cf. hierzu auch die sehr gut dokumentierte, von Nies nicht erwähnte Studie von Priscilla Parkhurst Clark, Literary France. The Making of A Culture, Berkeley, Univ. of California Press, 1987. 152 Comptes rendus der Nicht-Rezeption des deutschen Naturalismus sowie des deutschen realistischen Romans in Frankreich beobachten, deren Thematik und Ästhetik dem dominierenden französischen Deutschlandbild des 19. und 20. Jahrhunderts, das von der Vorstellung des „malerischen, romantischen Deutschlands“ (156) beherrscht war, geradezu diametral zuwiderlief. Zum Weiterdenken und zu weiteren Forschungen regen auch Nies’ Ausführungen zur fiktionalen Darstellung interkultureller Gesprächs- und Kommunikationssituationen in Werken französischer Schriftsteller an, ein leider bisher von der sehr stark auf ‚authentische Kommunikationssituationen‘ sowie auf audio-visuelle Medien ausgerichteten interkulturellen Kommunikationsforschung deutlich vernachlässigter Bereich. Nies zeigt beispielsweise anhand von René Bazins Roman Les Oberlé (1901) und Martine Robiers Roman Les hasards de la mer (1991) auf, dass fiktionalisierte interkulturelle Dialoge äußerst aufschlussreich sein können für die Herausarbeitung zeittypischer deutsch-französischer Perzeptionsmuster sowie kommunikativer Missverständnisse und Handlungsstrategien. Fritz Nies sieht in seinem Vorwort als sein „Hauptpublikum“ „eher Lehrer, Studierende, Oberstufenklässler, aber ebenso literarisch wache Frankreichreisende oder Freunde seiner Kultur“ (1) an. Dieses breitere Zielpublikum ist dem Buch, das sich durch einen sehr eingängigen Stil auszeichnet, keine Fußnoten und deutlich verschlankte bibliographische Angaben aufweist, sehr zu wünschen. Trotzdem ist es auch in vieler Hinsicht für die romanistische Lehre und Forschung anregend und weiterführend: nicht nur aufgrund der zahlreichen methodischen und theoretischen Anregungen, die den von Nies souverän beschrittenen Schnittbereich zwischen Literatur- und Kulturgeschichte, Übersetzungsgeschichte, Sozialgeschichte und Buchgeschichte betreffen, sondern auch wegen der Fülle von Hinweisen auf weitgehend vergessene oder verdrängte Autoren und Werke, zu denen neben vielen anderen Jean-Louis Curtis (Siegfried, 1946), René Trintzius (Deutschland, 1929) und André Lamandé (Ton pays sera le mien, 1925) gehören und die das vorliegende Buch zu einer wahren Fundgrube machen. Abschließend seien - neben dem Hinweis auf ganz wenige Tippfehler, die in einer Neuauflage bereinigt werden könnten (51, 99) - noch drei ergänzende Angaben gestattet. So wäre es im Zusammenhang mit der Erwähnung der deutschen Volksbücher, in denen Verserzählungen u. a. aus dem Karlszyklus verarbeitet wurden, sinnvoll, zumindest kurz auf den Stellenwert und die Vermittlerfunktion der Livrets de la Bibliothèque Bleue im deutsch-französischen Kontext einzugehen, die - wie ansatzweise Rudolf Schenda herausgearbeitet hat 20 -, einen parallelen französischen Rezeptionsstrang des Karlszyklus und anderer mittelalterlicher Texte darstellten und hierbei zum Teil auch auf deutsche Volksbuchtraditionen zurückgreifen bzw. in vielfältiger Weise (über Übersetzungen und Nachahmungen) 20 Rudolf Schenda, Volk ohne Buch. Studien zur Sozialgeschichte der populären Lesestoffe, 1770-1910 (Erstausgabe 1970), München, dtv, 1977, 299-305; id., „Die Bibliothèque Bleue im 19. Jahrhundert“, in: Heinz Otto Burger (ed.), Studien zur Trivialliteratur, Frankfurt/ Main, Klostermann, 1968, 137-153. 153 Comptes rendus mit diesen verflochten sind. Sodann wäre zu erwähnen, dass die Genfer Komparatistin Ute Heidmann die von F. Nies kurz angesprochene Rezeptionsfiliation zwischen Charles Perraults Contes de ma mère l’Oye und den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm (cf. 28) systematisch erforscht hat. 21 Und schließlich sei bezüglich der von F. Nies im Zusammenhang mit Racine und Molière erwähnten intensiven Rezeption des klassischen französischen Theaters im Deutschland des 18. Jahrhunderts auf die vor kurzem erschienene Studie von Rahul Markovits, Civiliser l’Europe. Politiques du théâtre français au XVIII e siècle (Paris, Fayard, 2014) hingewiesen. Sie enthält auch umfangreiche Aufführungsstatistiken, die F. Nies’ Feststellungen zu diesem Bereich stützen und quantitativ untermauern. Hans-Jürgen Lüsebrink (Saarbrücken) 21 Ute Heidmann, „Le dialogisme intertextuel des contes des Grimm“, in: Fééries, 9, 2012 (dossier Études sur le conte merveilleux [XVIIe-XIXe siècles], ed. Ute Heidmann), 9-28; id., „La (re)configuration des genres dans les littératures européennes. L’exemple des contes“, in: Colloquium Helveticum, 40, 2010, 91-104.