eJournals lendemains 39/153

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Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/
2014
39153

Die Mühen der Ebenen

2014
Ruth Florack
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24 DDossier Ruth Florack Die Mühen der Ebenen Anmerkungen einer ‚frankozentrischen‘ Germanistin „Die Mühen der Gebirge liegen hinter uns / Vor uns liegen die Mühen der Ebenen.“ Das bekannte Zitat aus Bertolt Brechts Gedicht Wahrnehmung 1 lässt sich ohne weiteres übertragen auf den wissenschaftlichen Austausch zwischen deutschen und französischen Germanisten heute, fünf Jahrzehnte nach Unterzeichnung des Elysée-Vertrags. Angesichts mannigfaltiger Fördermöglichkeiten in den deutschfranzösischen Wissenschaftsbeziehungen - sei es durch den DAAD, die Deutsch- Französische Hochschule oder das Förderprogramm von ANR und DFG - wäre es gewiss unangemessen, „Mühen der Gebirge“ beschwören zu wollen. Da längst gute strukturelle und auch finanzielle Voraussetzungen für Kooperationen etabliert worden sind, handelt es sich vielmehr, sofern überhaupt von „Mühen“ zu sprechen ist, um Schwierigkeiten auf einem prinzipiell gut zugänglichen und potenziell fruchtbaren Terrain. Aber es ist ein Terrain, das anscheinend an Faszination verloren hat. Die folgenden Anmerkungen zum Verhältnis zwischen deutscher und französischer Germanistik sind subjektiv und an eine literaturwissenschaftliche Perspektive gebunden, ohne Anspruch auf Repräsentativität erheben zu können oder zu wollen. Ausgehend von Erfahrungsmomenten versuchen sie, einige aktuelle Herausforderungen und Schwierigkeiten zu benennen und Spielräume für eine künftige Zusammenarbeit anzudeuten. Mein ‚frankozentrischer‘ Blickwinkel ist dabei durch eine Biographie bedingt, die von den Bemühungen der Politik um die deutsch-französischen Beziehungen geprägt wurde und profitiert hat: angefangen vom Besuch eines bilingualen deutsch-französischen Gymnasiums in den 1970er Jahren über eine DAAD-Förderung von Studium und langjähriger Lehrtätigkeit an französischen Universitäten bis hin zu einem Drittmittelprojekt über nationale Stereotype in deutscher und französischer Literatur, dessen Ergebnisse beiderseits des Rheins produktiv rezipiert worden sind. 2 Die eigene Erfahrung hat gezeigt: Sofern (literatur-)wissenschaftliche Arbeit französische Bezüge für deutsche Literatur aufzudecken vermag - etwa bei der Auswertung bislang unerschlossener Quellen - oder in einer komparatistischen Perspektive den Vergleich von französischmit deutschsprachigen Texten fruchtbar zu machen versteht, kommt eine Frankreich-Orientierung der deutschen Germanistik zugute. Das gilt gleichermaßen für traditionell philologische wie für kulturwissenschaftliche Fragestellungen. Allerdings trifft dies ebenso auf Texte in anderen ‚Fremd‘-Sprachen und auf andere ‚fremde‘ Kulturen als die französische zu, auch wenn Französisches für literaturgeschichtlich interessierte Germanisten eine unverändert wichtige Rolle spielt: Wer beispielsweise zur deutschen Literatur des 17. oder 18. Jahr- 25 DDossier hunderts arbeitet oder zur Jahrhundertwende um 1900, bleibt auf einschlägige Kenntnisse angewiesen. Die Germanistik an der Universität Göttingen, an der ich seit 2005 forsche und lehre, hat zwar, anders als etwa in Bonn, Saarbrücken oder Tübingen, 3 keine eigens auf Frankreich zugeschnittenen Studiengänge, ist aber doch sehr engagiert in gemeinsamen deutsch-französischen Projekten und beim Austausch von Studierenden und Dozenten. Strukturell und finanziell sind die Voraussetzungen gut, auch Offenheit für Neues ist gegeben. So wurde 2008 die Jahrestagung des Französischen Germanistenverbandes A.G.E.S. (Association des Germanistes de l’Enseignement supérieur), die traditionell in Frankreich selbst stattfindet, in Göttingen ausgerichtet; sie ist nicht nur vom DAAD, sondern darüber hinaus vom Land Niedersachsen großzügig gefördert worden. Ihr Thema, „Das Populäre: Interaktionen und Differenzierungsstrategien“, war auf einen Göttinger Forschungsschwerpunkt abgestimmt und hat zahlreiche, insbesondere jüngere französische Germanisten motiviert, eigene innovative Beiträge hierzu in Göttingen vorzustellen. 4 Trotzdem blieb man auf dieser Jahrestagung der französischen Germanisten weitgehend unter sich, deutsche Fachkollegen waren kaum zu sehen. Woran liegt das? Es ist gewiss kein Indiz für einen schlechten Zustand der deutschfranzösischen Beziehungen oder für ein Desinteresse gegenüber ausländischen Wissenschaftlern. Vielmehr ist die Universität Göttingen, wie heute in Deutschland üblich, ausgesprochen aktiv im Bereich der Internationalisierung, das gilt auch für die ‚Nationalphilologie‘ Germanistik, die neuerdings vor allem viele chinesische Studierende anzieht. Warum also hat die Göttinger Germanistik die Tagung des Französischen Germanistenverbandes - an einer deutschen Universität immerhin ein ungewöhnliches Ereignis - kaum zur Kenntnis genommen? Bei der Suche nach möglichen Antworten stößt man auf einige Hürden in der deutsch-französischen Zusammenarbeit, auf die hier schlaglichtartig einzugehen ist. Da ist zunächst - und vor allem - die Sprachbarriere: Wer bei germanistischen Veranstaltungen in Deutschland französischsprachige Beiträge zulässt oder sogar bewusst dafür eintritt, dass französische Gäste ihre Vorträge auf Französisch halten, muss damit rechnen, dass der Kreis der Interessenten kleiner ist als üblich. Will man hingegen auch diejenigen ansprechen, die nicht dem eigenen deutschfranzösischen Netzwerk angehören, so empfiehlt es sich, Deutsch als Tagungssprache zu wählen - oder selbstverständlich Englisch. Französisch aber kann man nicht (mehr) voraussetzen, die fehlende Sprachkenntnis hält selbst Kollegen, die durchaus am Thema eines französischen Vortrags interessiert wären, davon ab zu kommen - genau so, wie es etwa auch bei einem Vortrag in russischer Sprache wäre. Kein Wunder also, dass die Schweizerische Gesellschaft für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft feststellen muss, dass sie für ihre mehrsprachigen Konferenzen kaum deutsche Germanisten finden kann, die in der Lage wären, auch auf Französisch mitzudiskutieren. Englisch ist dagegen längst unverzichtbar: Vorträge von Gastwissenschaftlern werden regelmäßig auf Englisch angeboten, ganze Vortragsreihen sind, selbst in den Geisteswissenschaften, auf 26 DDossier Englisch konzipiert. So beispielsweise auch am Lichtenberg-Kolleg unserer Universität: Die Fellows aus aller Welt (man nennt sie selbstverständlich ‚Fellows‘, nicht ‚Stipendiaten‘) kommunizieren auf Englisch, und viele deutsche Kollegen halten ihre Beiträge dort in englischer Sprache, um ein größeres, internationales Publikum anzusprechen. Eine weitere Hürde für den Austausch zwischen der deutschen und der französischen Germanistik liegt in dem unterschiedlichen Stellenwert des Fachs hier wie dort. In Deutschland gibt es genau genommen die Germanistik als ein einheitliches Fach gar nicht mehr; sowohl in der wissenschaftlichen Forschung als auch im Profil der modularisierten Studiengänge zeigt sie vielmehr eine sehr weit gehende Ausdifferenzierung. Literaturwissenschaft, Linguistik und Mediävistik, daneben Fachdidaktik und Interkulturelle Germanistik gehen längst getrennte Wege, die ihrerseits stark spezialisiert sind. In der Literaturwissenschaft etwa verfolgen Literaturtheoretiker und Literaturhistoriker ebenso unterschiedliche Ziele wie die Anhänger einer eher analytischen und die einer hermeneutischen Literaturwissenschaft. Kulturwissenschaftler sind wieder anderen Theorien verpflichtet und wenden eigene Methoden an. Dabei sind einzelne Teildisziplinen durchaus stark international orientiert. So arbeiten beispielsweise am Deutschen Seminar in Göttingen die Linguisten eng mit Theoretikern und Praktikern aus der angloamerikanisch geprägten Forschung zusammen und lassen sich kaum mehr als Vertreter einer ‚germanistischen‘ Linguistik im engeren Sinn fassen. Dagegen ist die Interkulturelle Germanistik in Göttingen vor allem an China ausgerichtet. Ein französischer Einfluss ist zwar in der Literaturwissenschaft deutlich erkennbar - so lehrt man die Einführung in die Erzähltextanalyse immer noch mit Gérard Genette, und neben der (keineswegs überholten) Konjunktur von Michel Foucaults Diskurstheorie spielt Pierre Bourdieus Theorie des literarischen Feldes nach wie vor eine zentrale Rolle, für manche bleibt auch Derrida eine wichtige Bezugsgröße. Jedoch gilt eine derartige Orientierung an französischen Theoretikern für die Literaturwissenschaft allgemein und ist nichts spezifisch Germanistisches. Dass in Deutschland und Frankreich je andersartige Aufgaben und eine je unterschiedliche Nachfrage das Interesse an Sprache und Literatur im Allgemeinen und an deutscher Sprache, Literatur und Kultur im Besonderen bestimmen, führt zu einer Asymmetrie in der Germanistik diesseits und jenseits des Rheins. Weil die Germanistik in Deutschland ein ‚Massenfach‘ ist - was wegen der für das deutsche Schulsystem unverzichtbaren Deutschlehrerausbildung wohl auch so bleiben dürfte -, lässt die Größe des Fachs vielerorts ein Nebeneinander heterogener Positionen zu. Im Gegensatz dazu gelten in Frankreich andere Voraussetzungen. Dort gehört die Germanistik zu den kleinen, als eher anspruchsvoll geltenden Fächern, hat aber als Fremdsprachenphilologie unverkennbar an Bedeutung verloren. Anders ist das im Fall der Deutschkurse, die im Rahmen von L.E.A. (Langues Etrangères Appliquées) angeboten werden - doch dieser Studiengang erlaubt wegen seiner spezifischen Praxisorientierung kaum einen Brückenschlag zur Germanistik an deutschen Universitäten. 5 Zudem gehört die 27 DDossier französische Germanistik aus deutschem Blickwinkel in den Kontext der (nicht mehr) so genannten ‚Auslandsgermanistik‘, die sich unter dem Vorzeichen der Globalisierung inzwischen breiter Anerkennung erfreut, in ihrer Fülle und Vielfalt allerdings kaum mehr zu überblicken ist. 6 Kein Wunder also, wenn die französische Germanistik an deutschen Universitäten kaum als solche wahrgenommen wird. Das gilt zumindest, wenn man sie als Ganzes betrachtet, denn die Arbeiten der Kollegin oder des Kollegen aus Frankreich, die oder der auf einem Gebiet arbeitet, das für die eigene Forschung relevant ist, werden durchaus zur Kenntnis genommen - sofern man denn so gut Französisch lesen kann, dass es keine Schwierigkeiten bereitet, die in der Regel auf Französisch verfassten Publikationen angemessen zu rezipieren. Ein großes Fach wie die deutsche Germanistik bietet Differenzierungen und unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen viel Raum, erlaubt Spezialisierung und divergente Interessen, die jede einzelne aktive Wissenschaftlerin und jeder Wissenschaftler eben mit den Kolleginnen und Kollegen verfolgt, deren Kompetenzen dem eigenen Forschungsschwerpunkt entsprechen. Die Internet-Kommunikation und die hohe Mobilität in Zeiten der Globalisierung fördern solche Vernetzungen unabhängig von Standortbindung und institutionalisierten Austauschprogrammen. Diese Vernetzung funktioniert über politische Grenzen hinweg - natürlich nach Westen (Frankreich, Niederlande, Großbritannien, USA), aber genauso gut nach Osten (in Europa nach Polen zum Beispiel, aber längst auch nach Indien und China), nach Norden (Skandinavien, Baltikum) wie nach Süden (Italien, Portugal). Frankreich hat in diesem Spektrum keine privilegierte Position mehr. Aber dort, wo sich Berührungspunkte aus dem Fachinteresse heraus ergeben, ist der Kontakt mit französischen Fachkollegen ausgesprochen fruchtbar und unkompliziert, ohne dass die traditionell unterschiedlichen Wissenschaftsstile in Frankreich und Deutschland zu großen Schwierigkeiten führen würden. Die Zeiten des französischen mandarinat beziehungsweise der deutschen Ordinarien-Universität mit ihren ausgeprägt hierarchischen Kommunikationsritualen gehören inzwischen der Vergangenheit an, es herrscht vielmehr, soweit zu beobachten, auf internationalen Konferenzen ein - wohl durch angloamerikanischen Einfluss geprägter - Kommunikationsstil ‚auf Augenhöhe‘ vor. Solange grenzüberschreitende Zusammenarbeit vom Gegenstand her motiviert ist und Forscherpersönlichkeiten verbindet, die sich wissenschaftlich gut ergänzen, spielen Staatsangehörigkeit und Sprachzugehörigkeit eine untergeordnete Rolle, und sofern man sich fachlich etwas zu sagen hat, sind solche Kooperationen vielversprechend und gewiss förderungswürdig. Das gilt auf nationaler Ebene ebenso wie in binationalen oder anderen transnationalen Formaten. Fragwürdig mögen gemeinsame Projekte allerdings dort werden, wo sie primär auf ökonomische Zwänge an den Universitäten reagieren: wenn es vor allem darum geht, Gelder zu akquirieren, um - beispielsweise im Rahmen von Anreiz- und Belohnungssystemen wie Freistellungen oder Gehaltszulagen für Professoren - seinen Stand zu verbessern oder um Stellen für begabte Nachwuchswissenschaftler zu schaf- 28 DDossier fen, die andernfalls der Universität den Rücken kehren müssten. Eine solch vorrangig ökonomische Motivation kann im ungünstigen Fall in Projektkonstruktionen münden, bei denen das eigentliche Forschungsinteresse zweitrangig zu werden droht. Doch auch diese Tendenz ist nicht auf den Wissenschaftsbetrieb in Deutschland und Frankreich beschränkt, sondern europaweit wirksam - und germanistische Kollegen aus den USA oder China etwa machen ähnliche Beobachtungen. Würden wir, mit Brecht zu sprechen, das Potential der „Ebenen“ - also die strukturellen und finanziellen Möglichkeiten, die glücklicherweise für Austausch und Zusammenarbeit zwischen Frankreich und Deutschland bestehen - vorrangig auf solche Weise nutzen, würden wir wohl keinen guten Gebrauch davon machen. Denn solche Zweckrationalität ist der wissenschaftlichen Erkenntnis kaum förderlich, Wissenschaft braucht vor allem andere Formen der Motivation - die Begeisterung für den Gegenstand gehört wesentlich dazu. Den lebendigen Kulturaustausch zwischen Frankreich und Deutschland können deutsche Germanisten, die über Kompetenz in französischer Sprache und Kultur verfügen, heute zwar durchaus befördern, doch sie werden wohl akzeptieren müssen, dass erstens das Französische in Deutschland - ebenso wie das Deutsche in Frankreich - längst durch Englisch verdrängt worden ist, dass zweitens sie selbst nicht mehr den Anspruch erheben können, ihr Fach zu repräsentieren, sondern im Nachbarland (ebenso wie an der eigenen Universität) allenfalls als spezialisierte Vertreter einer Teildisziplin gelten dürfen, und dass drittens die Verbindung zu französischen Fachkollegen im Feld internationaler Vernetzungen keine privilegierte Position einnimmt, im Gegenteil: In den wissenschaftlichen Beziehungen zwischen Deutschen und Franzosen spielt die Germanistik allenfalls eine marginale Rolle. 7 Demjenigen, der sich dieser Entwicklung stellt, bietet sich jedoch durchaus die Chance, neue Forschungsfelder zu bestimmen und zu besetzen. So lässt sich etwa in der germanistischen Literaturwissenschaft die Lücke in der Forschung zur deutschsprachigen Literatur zwischen Barock und Aufklärung - erst in den letzten Jahren sind mehrere Untersuchungen zur sogenannten ‚galanten‘ Literatur um 1700 erschienen - möglicherweise auch mit der Einstellung zum Französischen erklären. Denn zu Zeiten eines normativen Literaturbegriffs und einer Literaturgeschichtsschreibung, die sich auf Nationalliteratur konzentrierte, hielt man cum grano salis die Produkte galanter Autoren für bloße Nachahmungen ‚frivoler‘ Franzosen. Und heute, da man sich einem breiten Literaturbegriff verpflichtet sieht und Literaturwissenschaft gern in einer kulturwissenschaftlichen Perspektive betreibt, mangelt es weitgehend an Sprachkenntnis, um die französischen Texte im Original zu lesen, auf die jene Autoren der Zeit um 1700 rekurrieren. Vor allem aber fehlen oft die sprachlichen Voraussetzungen, um die reiche und innovative französischsprachige Forschung zu Autoren des XVII e und zu deren ideengeschichtlichem Kontext zur Kenntnis zu nehmen. Kein Wunder also, dass ein entscheidender Impuls für die Germanistik in diesem Forschungsfeld von einem komparatistisch arbeitenden Romanisten ausgegangen ist. 8 Dabei könnte eine genauere Kenntnis 29 DDossier der französischen Primär- und Sekundärliteratur der germanistischen Forschung zum 17. und 18. Jahrhundert wertvolle Anregungen geben, ja - beispielsweise mit Blick auf die in Deutschland etablierte einseitige Einschätzung des (europäischen) Phänomens ‚Empfindsamkeit‘ - möglicherweise sogar zu einer Korrektur der (oft immer noch national beschränkten) germanistischen Literaturgeschichtsschreibung führen. Ein weiteres Beispiel für ‚blinde Flecken‘ der Forschung, die ebenso durch sprachliche Hürden wie durch disziplinäre Zuständigkeiten zu erklären sind, ist die große Zahl französischsprachiger Texte in der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel. Germanisten fühlen sich für dieses Material kaum zuständig, und für Romanisten steht es nicht im Zentrum der Aufmerksamkeit, weil nur wenige von ihnen sich für die Schätze der deutschen Provinz interessieren. Wer jedoch über Literatur und Lesekultur im deutschsprachigen Raum vor 1800 arbeiten möchte, sollte der reichen französischsprachigen Textproduktion - und darüber hinaus der materiellen Kultur Frankreichs, die, als Ausdruck eines „Gallotropismus“, 9 lange Zeit die Elitenkultur in Deutschland und Europa bestimmte - ebenso Rechnung tragen, wie der Spezialist für die Frühe Neuzeit das lateinische Schrifttum in den Blick nehmen muss. Einen wichtigen Schritt in die richtige Richtung hat das DFG- Projekt zur „Französischen Almanachkultur im deutschen Sprachraum (1700- 1815)“ getan, 10 doch es gibt gewiss noch manches Forschungsfeld zu entdecken. Fazit: Im Kontext einer zunehmenden, die Grenzen Europas längst überschreitenden Internationalisierung, die Studierende und Wissenschaftler dank globaler Austauschprogramme kulturelle Heterogenität weltweit konkret erfahren lässt, scheint der Austausch zwischen Frankreich und Deutschland auf universitärer Ebene heute an Faszination verloren zu haben, selbstverständlich und damit alltäglich geworden zu sein. 11 Das ist immerhin ein Zeichen für den Erfolg der langjährigen und vielfältigen Bemühungen beiderseits des Rheins. Für ‚frankozentrische‘ Germanisten sollte es, wie ich meine, ein Grund zu selbstbewusster Bescheidenheit sein und zugleich ein Ansporn zur Horizonterweiterung. Denn dass die bilateralen Beziehungen zu französischen Kolleginnen und Kollegen - und, sofern man sie denn für Deutschland begeistern kann, auch zu französischen Germanistik-Studierenden - in einer pluralisierten und stark diversifizierten Fächerkultur aufgehoben sind, die längst international vernetzt ist, eröffnet die Chance einer Multiperspektivität. Diese wird der gemeinsamen Arbeit am Gegenstand gut tun - sei es nun ‚deutsche Literatur‘ oder ‚deutsche Sprache‘ oder seien es komparatistische Themen, die Aspekte der deutsch-französischen Kulturbeziehungen einbetten in ein multilaterales und mehrdimensionales Geflecht des Kulturaustauschs. 12 So mögen die „Ebenen“, die nun vor uns liegen, zwar mühevoll sein, vielversprechend aber bleiben sie allemal. Allons, cultivons notre jardin. 30 DDossier 1 „Wahrnehmung / / Als ich wiederkehrte / War mein Haar noch nicht grau / Da war ich froh. / / Die Mühen der Gebirge liegen hinter uns / Vor uns liegen die Mühen der Ebenen.“ (Bertolt Brecht, Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, ed. Werner Hecht et al., Bd. 15, Berlin / Weimar, Aufbau-Verlag / Frankfurt am Main, Suhrkamp, 1993, 205). Brecht schrieb das Gedicht ein gutes Jahr nach seiner Rückkehr aus dem Exil (1933-1947) im Februar 1949. 2 Siehe die Dokumentation: Ruth Florack, Tiefsinnige Deutsche, frivole Franzosen. Nationale Stereotype in deutscher und französischer Literatur, Stuttgart / Weimar, Metzler, 2001. 3 Ohne Anspruch auf Vollständigkeit erheben zu wollen, sei auf die „Deutsch-Französischen Studien“ der Universitäten Bonn und Paris IV bzw. Saarbrücken und Metz verwiesen (jeweils Bachelor-Studiengänge) sowie auf die „Interkulturellen Deutsch-Französischen Studien“ der Universitäten Tübingen und Aix-Marseille (auf Master-Niveau). 4 Siehe den umfangreichen Tagungsband Olivier Agard / Christian Helmreich / Hélène Vinckel-Roisin (ed.), Das Populäre. Untersuchungen zu Interaktionen und Differenzierungsstrategien in Literatur, Kultur und Sprache, Göttingen, V&R Unipress, 2011. 5 Dem - durch einen unterschiedlichen Bedarf bedingten - ungleichen Stellenwert der Germanistik in Deutschland und Frankreich dürfte ein Ungleichgewicht zwischen den Lettres modernes in Frankreich und dem Fach Französisch an deutschen Universitäten entsprechen, wo dieses sich neben der expandierenden Hispanistik, der Italianistik und der Lusitanistik behaupten muss. 6 1951 auf dem Kongress der Fédération Internationale des Langues et Littératures Modernes in Florenz gegründet, hat die Internationale Vereinigung für Germanistik (IVG) die Zahl der Länder, aus denen sich ihre Mitglieder rekrutieren, bis heute etwa verdreifacht. Die Akten zu den letzten Kongressen umfassen jeweils rund ein Dutzend Bände, deren Artikel wegen der Fülle der Beiträger grundsätzlich auf wenige Seiten beschränkt sein müssen. Tagungsthemen und -orte dieser Kongresse spiegeln die Entwicklung des Fachs im globalen Maßstab wider: Während im Jahr 2000 in Wien der X. Internationale Germanistenkongress stattfand unter der Überschrift „Zeitenwende - Die Germanistik auf dem Weg vom 20. ins 21. Jahrhundert“, folgte 2005 in Paris der XI. Kongress zum Thema „Germanistik im Konflikt der Kulturen“. Der letzte, 2010 in Warschau organisierte, Kongress stand unter dem Zeichen „Vielheit und Einheit der Germanistik weltweit“; 2015 wird der XIII. Kongress in Shanghai ausgerichtet zum Thema „Germanistik zwischen Tradition und Innovation“. Zur Zeit gehören zum Präsidium der IVG weder deutsche noch französische Germanisten; im zwanzigköpfigen Internationalen Ausschuss ist die französische Germanistik durch eine Linguistin vertreten, aus Deutschland, Österreich und der Schweiz kommen sechs Vertreter, die das Spektrum des Fachs abdecken: Sprach- und Literaturwissenschaft (Mediävistik und Neuere deutsche Literatur), auch die Schwerpunkte Komparatistik und Medienwissenschaft sind berücksichtigt. 7 Unter den zahlreichen vom DAAD geförderten Projekten, an denen deutsche und französische Partner beteiligt sind (aus naturebenso wie aus kulturwissenschaftlichen Disziplinen), ist die Germanistik kaum vertreten; und auch in den gemeinsam von ANR und DFG geförderten Projekten hat sie durchaus keine prominente Position. 8 Unter den einschlägigen Arbeiten Jörn Steigerwalds ist seine Habilitationsschrift besonders hervorzuheben: Jörn Steigerwald, Galanterie. Die Fabrikation einer natürlichen Ethik der höfischen Gesellschaft (1650-1710), Heidelberg, Winter, 2011. 9 Der von dem französischen Germanisten Jean Mondot geprägte „Begriff und das Phänomen des Tropismus, von dem die methodischen Prämissen abgeleitet sind, bildet eine Anleihe aus den Naturwissenschaften. Die metaphorische Bedeutung des Terminus 31 DDossier ‚tropisme‘ im Französischen - ‚force obscure qui pousse un groupe, un phénomène à prendre une certaine orientation‘ - läßt das erkenntnistheoretische Potential des Begriffs erkennen. Mit dieser neutralen Begrifflichkeit soll in bewußter Distanz zu der älteren Einflußforschung das Phänomen der Orientierung an einem fremden Zivilisationsmodell erfaßt und der Rückgriff auf den eingeführten Schematismus von Bewunderung (Gallophilie) und Ablehnung (Gallophobie) vermieden werden“ - so die Zusammenfassung zu dem von ANR und DFG geförderten Projekt „Gallocivi. Gallotropisme et modèles civilisationnels dans l’espace germanophone (1660-1789)“, http: / / www.gallocivi.eu/ index. php? option=com_content&view=article&id=47&Itemid=59&lang=de (10. 06. 2014). 10 Siehe die für die Erträge des - von dem Marburger Germanisten York-Gothart Mix gemeinsam mit dem Saarbrücker Romanisten Hans-Jürgen Lüsebrink konzipierten - Forschungsprojekts repräsentative Publikation: Hans-Jürgen Lüsebrink / York-Gothart Mix (ed.), Französische Almanachkultur im deutschen Sprachraum (1700-1815). Gattungsstrukturen, komparatistische Aspekte, Diskursformen, Göttingen, V&R Unipress, 2013. 11 Dass der deutsch-französische Wissenschaftsaustausch quantitativ gesehen von zentraler Bedeutung bleibt, belegt der Beitrag von Hiller und Hippler in diesem Band. 12 Symptomatisch für die Erweiterung des Blickwinkels über die zweiseitige deutschfranzösische Perspektive hinaus ist die Ausrichtung eines neuen, von ANR und DFG finanzierten Projekts, das Mix und Lüsebrink gemeinsam mit dem Pariser Historiker Christoph Charle durchführen: „Die Transkulturalität nationaler Räume. Prozesse, Vermittler- und Übersetzerfiguren sowie soziokulturelle Wirkungen des literarischen Kulturtransfers in Europa (1750-1900)“.