eJournals lendemains 39/153

lendemains
0170-3803
2941-0843
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/
2014
39153

Allmähliches Fremdwerden?

2014
Wolfgang Asholt
Nicole Colin
Jürgen Ritte
Joachim Umlauf
ldm391530006
6 Dossier Wolfgang Asholt / Nicole Colin / Jürgen Ritte / Joachim Umlauf Allmähliches Fremdwerden? Die Beziehungen zwischen den Literaturwissenschaften in Deutschland und Frankreich im Zeichen der Globalisierung Aus Anlass des 50. Jahrestages des Élysée-Vertrages fand im April 2013 im Goethe-Institut in Paris ein von den Herausgebern dieses Dossiers initiiertes Kolloquium statt, an dem französische (Bernard Banoun, Nicole Colin, Michel Delon, Anne Isabel François) und deutsche (Ruth Florack, Andreas Gelz, Kirsten Kramer) Literatur- und Kulturwissenschaftler teilnahmen. Die Tagung war Teil einer Veranstaltungsreihe, an der zahlreiche Universitäten, Grandes Écoles und Forschungseinrichtungen aus beiden Ländern beteiligt waren und die einen Überblick über die weit verästelten und tiefen deutsch-französischen Wissenschafts- und Hochschulbeziehungen geben sollte. Auffällig war, dass es nur eine einzige literaturbzw. kultur- oder medienwissenschaftlich orientierte Veranstaltung gab. Sollte dies bereits als ein Symptom dafür genommen werden (können), dass es hier eigentlich nur wenig Austausch gibt? Jede der mit einem Vortrag an diesem Kolloquium beteiligten Persönlichkeiten der Germanistik, der Komparatistik, der Lettres Modernes und der Romanistik vertritt nicht nur ein Fach mit sehr spezifischen Traditionen, Kompetenzen und Ansprüchen, sondern auch ein je eigenes Profil mit unterschiedlich langen Erfahrungen im deutsch-französischen Wissenschaftsaustausch. Wie die Beiträge, die das vorliegende Dossier versammelt, zeigen, sind es gerade diese Erfahrungen, die die eigene Einschätzung in hohem Maße prägen, und zwar ebenso sehr rückblickend wie in Hinblick auf zukünftige Entwicklungen. Daraus ergibt sich, dass dieses Dossier kein Gesamtbild der Wissenschaftsbeziehungen zwischen den beiden National-Literaturwissenschaften und ihren korrespondierenden Disziplinen im jeweils anderen Land (Germanistik in Frankreich und Franko-Romanistik in Deutschland) sowie der Komparatistik oder einer komparatistischen Theaterwissenschaft bieten kann und dies auch nicht versuchen sollte. Aber die Beiträge bleiben auch nicht dabei, Einzelerfahrungen und -eindrücke zu präsentieren. Ihnen gelingt es vielmehr, Entwicklungstendenzen innerhalb des halben Jahrhunderts (seit 1963) sichtbar zu machen und kritisch zu befragen und daraus Einschätzungen und Erwartungen darüber zu formulieren, was die deutsch-französischen Literatur- und Kulturwissenschaften sich in Zukunft zu sagen haben (sollten) und wie und mit welchen Zielsetzungen sie innerhalb eines sich globalisierenden Kontextes kooperieren sollten. Denn die entscheidende Rahmenbedingung, die in praktisch allen Beispielen eine Rolle spielt und im Beitrag von Anne Isabelle François die thematische Leit- 7 DDossier linie bildet, ist die Globalisierung, die die Bedeutung der beiden Sprachen, Literaturen und Kulturen nicht nur notwendigerweise tangiert, sondern in erheblichem Ausmaß infrage stellt. Konnte man 1963 noch glauben, in dem entstehenden Wirtschaftseuropa könnten die deutsche und französische Sprache, Literatur und Kultur so etwas wie eine gemeinsame Leitkultur werden (oder bleiben), indem, wie vertraglich gefordert, das Deutsche von immer mehr Franzosen und das Französische dementsprechend von immer mehr Deutschen gesprochen und gelesen würde, so hat sich diese Hoffnung schon vor der nach 1989 massiv einsetzenden Globalisierung als verlorene Illusion herausgestellt. Jenseits aller quantitativen Erfolgsmeldungen, was Schülerlernerzahlen der einen oder der anderen Sprache angeht, ist die vertiefte Kenntnis der Sprache des Nachbarn links oder rechts des Rheins geschwunden und damit die in Literatur- und Kulturwissenschaften eigentlich grundlegende und notwendige Kompetenz, die in der Sprache der Anderen zu deren Sicht des Eigenen wie des nahen Nachbarn (also die Auto- und Heterostereotype, aber nicht nur sie) verfassten Arbeiten zur Kenntnis zu nehmen. Dies gilt trotz der unbestreitbar erfolgreichen Gemeinschafts-Institutionen wie etwas des CIERA in Frankreich, bei der eine Generation von jungen Deutschland- und Frankreich- und oft deutsch-französischen Europa-ForscherInnen herangewachsen ist, die nicht nur sprachlich, sondern auch im Hinblick auf die Geschichte, Gesellschaft oder Philosophie (aber seltener die Literatur) Experten der Kultur des (immer noch) anderen sind. Dank solcher Voraussetzungen, d. h. der Fähigkeit, sich auf der Grundlage einer mehr als hinreichenden Kenntnis der beiden Sprachen und Kulturen auf die jeweils nationale Konstellation einlassen oder sich davon ausgehend europäischen Fragestellungen widmen zu können, gelingt es den in solchen gemeinsamen Institutionen qualifizierten Experten, den Ansprüchen, die die Gleichzeitigkeit der nationalen, europäischen und globalen Perspektiven mit sich bringt, gerecht zu werden. Denn die Globalisierung vermag zwar die Illusion der Auflösung der nationalkulturellen Unterschiede fördern, wie sehr diese jedoch gerade im Rahmen der Globalisierung weiterhin fortbestehen und be- und gekannt sein sollten, haben die unterschiedlichen deutschen und französischen Reaktionen auf das Burka-Urteil des Europäischen Gerichtshofs eindrucksvoll illustriert. In vielen deutschen Stellungnahmen zeigte sich die Unfähigkeit zu verstehen, dass ein Verbot, das im deutschen kulturellen Kontext in der Tat eine normenverändernde Ausnahme dargestellt hätte, im französischen Kontext notwendig war, um solchen (d. h. den eigenen republikanischen) kulturell akzeptierten und verbindlichen Normen gerade weiter Geltung zu verschaffen. Im Übrigen ist das jeweilige literarische Feld - im Gegensatz zu weniger ‚wortlastigen‘ Bereichen wie der klassischen Musik oder dem Tanz - in seinen Strukturen ganz vorwiegend national geprägt, woran weder regsame und wichtige Übersetzertätigkeit noch globale Bestsellerliteratur etwas Grundlegendes ändern können. In welcher Weise, mit welcher Art von Literatur, durch welche strukturellen Gegebenheiten (Verlagswesen, Preis und Preise, Prä- 8 DDossier senz des Schriftstellers im Feld) symbolisches Kapital anzuhäufen ist, differiert in beiden Ländern nach wie vor substanziell. Erstaunlicherweise sind es jedoch insbesondere die Literaturwissenschaften, zumindest die Lettres Modernes und die (deutsche) Germanistik, in denen die genannten Voraussetzungen (angefangen bei der Sprache des Anderen) in nicht ausreichendem Maße vorhanden sind - die Beiträge des Dossiers weisen hinreichend deutlich darauf hin. Zwar sind die Kompetenzen des sprachlichen und kulturellen Verständnisses des Anderen bei französischen Germanisten und (deutschen) Romanisten im allgemeinen vorhanden, doch stehen beide, trotz wichtiger, aber - wie die Jahreszahlen zeigen - seltener Versuche (etwa in Versailles 1989 oder in Berlin 2009), kaum in einem Dialog miteinander und werden zudem, teilweise wieder aus den genannten sprachlichen Gründen, kaum von der nationalen Bezugswissenschaft (der deutschen Germanistik oder den Lettres Modernes) zur Kenntnis genommen. Diese prekäre Situation ist den Beiträgerinnen und Beiträgern zu diesem Dossier aus ihren wissenschaftlichen Alltagserfahrungen wohl bekannt, wie ihre Aufsätze bestätigen. Viele von ihnen stehen seit den Anfängen ihrer Karriere in kontinuierlichem Austausch mit Forscherinnen und Forschern der Bezugsdisziplin im anderen Land, auch wenn das Wechseln zwischen beiden Wissenschaftssystemen noch eher die Ausnahme bildet. Welche Konsequenzen ziehen sie nun aus dieser nicht einfachen Situation? Offensichtlich sind die Hoffnungen und noch mehr der Glaube, zu einer breiten, umfassenden Kooperation zwischen den betroffenen (und im Falle der beiden Germanistiken, der Lettres Modernes und der Romanistik sowie der Vergleichenden Literatur- und Theaterwissenschaft), nicht nur historisch aufeinander verwiesenen Disziplinen zu gelangen, einer tiefgreifenden Desillusionierung gewichen, die zumindest den Vorteil bietet, die vorhandenen Möglichkeiten adäquat einzuschätzen. Das heißt aber auch, dass die privilegierten Beziehungen zwischen den jeweiligen deutschen und französischen Disziplinen zumindest im Moment keine erfolgversprechende Perspektive mehr zu bieten scheinen. In diesem Zusammenhang stellt das ANR-DFG-Förderprogramm für die Geistes- und Sozialwissenschaften (Agence Nationale de la recherche - Deutsche Forschungsgemeinschaft) eine zeitgemäße ‚Antwort‘ auf diese Situation dar. Sie gestatten bei vergleichsweise guten Bedingungen eine Kooperation deutscher und französischer WissenschaftlerInnen in bestimmten Projekten. Dabei ist keineswegs die Annäherung von Disziplinen insgesamt bzw. deren besseres Sich-Aufeinander-Einlassen das Förderziel, auch wenn solche Prozesse im Einzelnen stets stattfinden. Die (notwendige) zeitliche Begrenzung und die unvermeidliche thematische Präzisierung lassen solche Gesamtperspektiven nicht zu. Hinzu kommt, dass bei diesem Programm der beiden nationalen Wissenschaftsförderinstitutionen die germanistischen, französisch-literaturwissenschaftlichen oder komparatistischen Projekte einen vergleichsweise geringen Anteil haben. 9 DDossier Dennoch scheint es so, als ob dieses Programm sozusagen Modellcharakter gewonnen hat. Möglich erscheinen einerseits konkrete und thematisch wie zeitlich begrenzte Projekte oder andererseits die Überwindung der deutsch-französischen Perspektivierung durch deren Integration in eine relationelle oder hybridisierte Kulturwissenschaft. Dabei werden in Zukunft auf beiden Seiten, wie dies in mehreren Beiträgen der Fall ist, Globalisierungsphänomene stärker berücksichtigt werden müssen, für die das in Frankreich entwickelte Konzept des Kulturtransfers eine wichtige Vorbereitungsphase bildet. Dabei müssen sich solche Zukunftsmodelle allerdings die Frage stellen lassen, inwieweit eine Literatur ‚in Bewegung‘ oder ‚ohne festen Wohnsitz‘ (entsprechend den Modellen Ottmar Ettes) nicht ihrerseits wiederum einen Großteil der in der jeweiligen Sprache geschriebenen Literatur beiseite lässt. Wenn sich französische Germanisten mit der deutschen oder deutschsprachige Romanisten mit der französischen Gegenwartsliteratur auseinandersetzen, und ein Beitrag erläutert dies am Beispiel des Gegenwartstheaters geradezu exemplarisch, so stellen sie fest, dass die Bedingungen des jeweiligen literarischen Feldes weitgehend national konstituiert sind. Und dieser Erkenntnisgewinn ermächtigt potenziell zum kulturell angemessenen Verhalten bei der Begegnung mit anderen systemischen Zusammenhängen. Seit Erich Auerbachs „Philologie der Weltliteratur“ ist zwar das Gespenst einer standardisierten, konventionellen und einsprachigen Literatur im globalen Maßstab am Horizont aufgetaucht, und den Debatten darum ist ein weiterer Beitrag gewidmet, doch noch hat dies die nationalen Institutionen der Literatur nicht wirklich verändern können. Die hier beteiligten Disziplinen und ihre Vertreterinnen und Vertreter haben sich an diesen Diskussionen maßgeblich beteiligt. Sie versuchen also, der Ko-Existenz des Globalen, Europäischen (das gerade in den Literaturwissenschaften vielleicht nicht ausreichend berücksichtigt wird) und Nationalen angemessen Rechnung zu tragen. Inwieweit Disziplinen dies mit den begrenzten Ausstattungen vermögen, die eigentlich nur für den nationalen Kontext vorgesehen waren, ist eine Frage, die mit ihrer zukünftigen gesellschaftlichen Bedeutung, und d. h. auch ihrem gesellschaftlichen Engagement, das man von ihnen erwartet oder das sie bieten können, zusammenhängt. Das wäre aber ein Thema für ein anderes Dossier.