eJournals lendemains 34/136

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Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/
2009
34136

Dramaturgie der unterschlagenen Zeit

2009
Dieter Steland
ldm341360102
15: 32: 03 102 Arts & Lettres Dieter Steland Dramaturgie der unterschlagenen Zeit Zur Interpretation von Sartres Les Mains sales Es gehört zur Faszination, die Sartre ausübt, dass sich seine literarischen und seine theoretischen Werke wechselseitig beleuchten. So bieten sich dem Interpreten eines der literarischen Werke hilfreich Begriffe und Gedankengänge an, die ihm die Lektüre der theoretischen Schriften an die Hand gibt. Dieses Angebot zu nutzen, ist zweifellos legitim, darf man doch unterstellen, dass die beiden Teile des Œuvres eine aus derselben Wurzel stammende innere Einheit bilden, - wenngleich es sich dabei um eine sehr verästelte und nicht leicht zu durchschauende Einheit handeln mag. Doch wer als Interpret eines literarischen Werks Sartres auf Bestandteile seiner Theorie zurückgreift, läuft Gefahr, den eigenen Verstehensvorgang zu präformieren, noch ehe er sich entfaltet hat. Vielleicht vergibt er sogar die Chance, in die Vermittelbarkeit eines philosophischen Gedankens im Medium literarischer Fiktion nähere Einsicht zu gewinnen. So scheint es sinnvoll, ja geboten, das literarische Œuvre Sartres zum Gegenstand literaturwissenschaftlicher Betrachtung zu machen, die ohne Anleitung durch seine Theorie auszukommen sucht. Für einen solchen Versuch bietet sich Les Mains sales in besonderer Weise an. 1 Denn hier wird ein Kerngedanke Sartres, die „Wahl“ als Identität stiftender Akt, so einleuchtend in Szene gesetzt, dass er auch ohne Rückgriffe auf einschlägige theoretische Äußerungen verstanden werden kann; er ist dem Reden und dem Handeln der Protagonisten selbst abzulesen. Das jedenfalls ist die Suggestion, in die das Stück den Betrachter einfängt. Zu ihr trägt entscheidend der Umstand bei, dass Sartre sich der konventionellen Mittel des „realistischen“ Theaters bedient: jede einzelne Szene vermittelt den Eindruck, dass sich das auf der Bühne Dargebotene genau so in der Lebenswirklichkeit zugetragen haben könnte. Das gilt auch und vor allem für den packenden Schluss, auf den die Handlung zuläuft: wie Hugo mit den Worten „Je n’ai pas encore tué Hoederer, Olga. Pas encore. C’est à présent que je vais le tuer et moi avec“ die Tür öffnet und sich mit dem Ruf „Non récupérable“ den Revolverschüssen der Parteigenossen preisgibt. Die auf die Bühne gebrachte Lebenswirklichkeit selbst scheint die Sachhaltigkeit des Gedankens zu verbürgen, der sich im Vollzug der Wahl ausspricht. Wenn das Stück beginnt, liegt der Mord an Hoederer, dessen nähere Umstände aufgeklärt werden sollen, um zwei Jahre zurück. Das erinnert an den Typus des analytischen Dramas, dessen allgemeine Anlage Schiller, den Oedipus Rex vor Augen, auf die Formel gebracht hat: „Alles ist schon da, und es wird nur herausgewickelt“. (An Goethe, am 2. Oktober 1797) Und auf Sartres Stück trifft gleichfalls 103 Arts & Lettres zu, was Schiller im selben Brief als den großen Vorteil dieses Dramentyps hervorhebt: dass nämlich die Einholung der Vergangenheit „in einem sehr kleinen Zeitmoment“ geschehen kann. Auch Les Mains sales ist ein Drama, das die Vergangenheit in einer knapp bemessenen Zeitspanne zum Vorschein bringt, dies sogar so, dass die Zeit der Handlung mit der Aufführungszeit zusammenfällt: von neun Uhr abends bis Mitternacht. (Olga: „Quelle heure est-il? “ Louis: „Neuf heures.“ Olga: „Revenez à minuit.“ I,3) Doch im analytischen Drama der Normalform ist das Heraufholen des Vergangenen in den kontinuierlichen Fortgang der Gegenwartshandlung eingeschmolzen. Hier hingegen wird dieses Kontinuum unterbrochen und das Einbringen der Vergangenheit im wesentlichen einer Rückblende überantwortet. Olga fordert Hugo auf, zu erzählen; während er zu erzählen beginnt, verdunkelt sich die Bühne - „Pendant qu’il parle l’obscurité se fait peu à peu sur la scène“ -, und was dann aus dem Dunkel auftaucht, ist der Beginn jener Folge von Ereignissen, die zur Ermordung Hoederers führten. Wer das Stück zum ersten Mal sieht oder liest, muss aus der Gestaltung des Übergangs folgern, dass die Binnenhandlung genau das szenisch vergegenwärtigt, was Hugo Olga erzählt. Mit dieser Annahme verträgt sich durchaus, dass man Zeuge zweier Dialoge zwischen Jessica und Hoederer wird, an denen Hugo nicht beteiligt war; über ihren Inhalt könnte er nachträglich von Jessica informiert worden sein. In Wirklichkeit wird jedoch Hugos Erzählung durch die Binnenhandlung keineswegs inhaltlich deckungsgleich in Szene gesetzt. Manche Interpreten haben das übersehen oder nicht für erwähnenswert gehalten; andere haben das zwar vermerkt, jedoch ohne dem Sachverhalt weitere Beachtung zu schenken. 2 Für den Gang der Handlung ist jedoch nicht nur die fehlende Deckungsgleichheit wichtig, die im letzten Akt des Dramas unübersehbar wird. Es gibt vielmehr gute Gründe für die Annahme, dass allein schon das Ersetzen der subjektiven Informationsperspektive durch die objektiv-allwissende des dramatischen Autors in die innere Logik des Dargestellten erheblich eingreift. I. Die ausgeblendete Erzählung als unterschlagene Zeit Als orientierende Problemskizze mag die folgende Überlegung dienen. Der Brückenschlag vom Rahmen zur Rückblende folgt dem Schema: ein Täter erzählt seinem Richter den Hergang der Tat. Dem entspricht der Übergang aus der Rückblende in die Rahmenhandlung nach dem Schema: aufgrund der Aussagen des Täters fällt der Richter sein Urteil. Wäre der Zuschauer Zeuge des Täterberichts, hätte er die Möglichkeit, das vom Täter Gesagte zu überblicken und das darauf sich gründende Urteil des Richters zu bewerten. Das aber verhindert der Wechsel der Informationsperspektive. Denn kaum hat der Täter mit seinem Bericht begonnen, schiebt sich zwischen die beginnende Gerichtshandlung und den Zuschauer der dramatische Autor mit seinem Wissen. So erfährt der Zuschauer zwar, was sich damals tatsächlich zugetragen hat, aber er erfährt gerade dadurch nicht, wie 104 Arts & Lettres der Täter das vergangene Geschehen darstellt und aufgrund welcher Kenntnisse der Richter so und nicht anders urteilt. Das Dazwischentreten des Autors hat den Kommunikationsvorgang zwischen Täter und Richter unsichtbar und unhörbar gemacht. Sollte der Richter am Ende ein Fehlurteil fällen, stellt sich die Frage, ob dieses Versagen auf mangelnde Eignung des Richters oder auf Unzulänglichkeiten des Täterberichts zurückzuführen ist. Nun ist aber die Rahmenhandlung noch keineswegs zureichend beschrieben, wenn man sie als Gerichtshandlung charakterisiert. Wie man aus dem Dialog zwischen Hugo und Olga in der ersten Szene des Dramas erfährt, hat Hugo wegen des Mords an Hoederer, der als Mord aus Eifersucht beurteilt wurde, zwei Jahre im Gefängnis gesessen und ist soeben vorzeitig entlassen worden. Vor drei Monaten hat man ihn durch Gift umzubringen versucht, und er hat begriffen, dass die Partei ihn ausschalten will, weil sie ihn nicht mehr für verwendbar hält: „au début le Parti pensait que j’étais encore utilisable et puis il a changé d’avis“ (I,1). Wenn er aber weiß, dass ihm seit seiner Entlassung ein Mordkommando auf den Fersen ist, warum ist er dann, so fragt Olga ihn erregt, zu ihr gekommen? „Alors, pourquoi es-tu venu chez moi? Pourquoi? Pourquoi? “ Auf diese Frage gibt Hugo zunächst ironisch getönte Antworten und benennt mehrere Motive, die für sein Kommen nur mitverantwortlich gewesen sein dürften. Das alle anderen Beweggründe überlagernde Hauptmotiv kommt hingegen erst an späterer Stelle zur Sprache, erst nachdem der Dialog mit Olga unterbrochen worden ist durch das Erscheinen des Mordkommandos, das im Auftrag Louis nach Hugo sucht. Olga gelingt es, von Louis einen Aufschub bis Mitternacht zu erwirken. Bis dahin, so versichert sie, werde sie wissen, aus welchem Motiv Hugo geschossen habe. Wenn sie zu der Überzeugung komme, dass Hugo wieder in der Partei arbeiten könne - „si je juge en conscience qu’il peut travailler avec nous“ (I,3) - werde sie das den Männern sagen und sie fortschicken, andernfalls werde sie ihnen die Tür öffnen. Damit hat Olga die Rolle eines Richters übernommen, dessen Urteil über Leben oder Tod Hugos entscheidet. Doch fällt ihr zugleich noch eine zweite Rolle zu. Das deutet sich an, wenn Hugo aus Olgas Zimmer, in das sie ihn fortgeschickt hatte, zurückkehrt und von dem sonderbar traumähnlichen seelischen Zustand spricht, in dem er sich seit langem befinde. Als er im Gefängnis saß und sich an Olgas Zimmer erinnerte, habe er gedacht: „La vraie chambre est là-bas, de l’autre côté du mur.“ (I,4) Als er sich nun umgeschaut habe, sei ihm das Zimmer jedoch nicht wahrer erschienen als das Bild in seiner Erinnerung. Mehr noch: „La cellule aussi, c’était un rêve.“ Und Hugo setzt hinzu: „Et les yeux d’Hoederer, le jour où j’ai tiré sur lui.“ Dann sagt er den Satz, der das eigentliche Motiv für sein Kommen preisgibt: „Tu crois que j’ai une chance de me réveiller? “ Der Satz drückt Hugos Hoffnung aus, er werde im Gespräch mit Olga aus seiner traumähnlichen Befangenheit heraustreten können. Das weist der Parteifreundin, pointiert gesagt, die Rolle eines Therapeuten zu. Getrieben von dem Bedürfnis, zur Wirklichkeit zu erwachen, ist Hugo dorthin zurückgekehrt, wo sein Handeln als politischer Attentäter begann. Seine Tat liegt hinter ihm und zugleich vor ihm - als ein vergangenes Geschehen, das 105 Arts & Lettres ihn seitdem unausgesetzt beschäftigt. Auf die Frage Olgas, woran er denn gedacht habe, als er das Gefängnis verließ, gibt er zur Antwort: „A ce que j’ai fait. J’essayais de comprendre pourquoi je l’avais fait.“ Er ist also nur zu gern bereit zu einem Bericht über das Vergangene, den Olga braucht, um über Hugos Wiederverwendbarkeit urteilen zu können: Hugo gibt ihn in der Hoffnung, seine Zuhörerin werde ihm helfen, zur Wirklichkeit zu erwachen. Erfüllt sich diese Hoffnung nicht, ist wegen des Wegfalls der Erzählung auch im Hinblick auf den Therapeuten zu fragen: hat er versagt, weil er inkompetent war, oder weil ihm der Hilfesuchende wichtige Informationen vorenthalten hatte? Geht man in dieser schematisierenden Überlegung noch einen Schritt weiter, ergibt sich eine aufschlussreiche Folgerung, die den Protagonisten betrifft. Kein anderer als er selbst bringt ja die Dramenhandlung überhaupt erst in Gang, dadurch nämlich, dass er, der Täter-Patient, aus freien Stücken seinen Richter-Therapeuten aufsucht. In ihm, der das Urteil und die Hilfe will, hat ein Prozess der Selbsterkundung bereits begonnen. Wenn er jetzt über die Vergangenheit zu sprechen beginnt, kann dies nicht anders geschehen als so, dass sich dieser Prozess in irgendeiner Weise fortsetzt, - gleichviel ob er klärende Wirkung hat oder in Form fortwährender Selbstverdunkelungen verläuft. Wenn nun aber nach den ersten Worten des Patienten die Wahrheit über ihn eingeblendet wird, wird eben dadurch sein Versuch, der Wahrheit habhaft zu werden, weggeblendet. Im selben Augenblick also, in dem der Prozess der Selbstaufhellung in entschiedene Bewegung kommt, wird er dramaturgisch stillgelegt. Die Zeit des Erzählens und der damit zwangsläufig verbundenen Selbstbegegnung verstreicht, als hätte es sie gar nicht gegeben. Wird man nach dem Abschluss der weggeblendeten Erzählung mit dem Ergebnis konfrontiert, das die Bemühung des Patienten um Selbsteinsicht gezeitigt hat, bleibt die Frage, warum es zu diesem - positiven oder negativen - Ergebnis gekommen ist, unbeantwortbar. Wie tragfähig diese Überlegungen sind und welche Einsichten sie ermöglichen, lässt sich erst ermessen, wenn in der wieder einsetzenden Gegenwartshandlung Olga ihr Urteil fällt und erkennbar wird, was aus Hugos „chance de [se] réveiller“ geworden ist. Was diese Chance anbetrifft, spricht Hugo vor dem Beginn seiner Erzählung eine Vermutung aus, die als eine für seine seelische Lage symptomatische Vorahnung verstanden werden kann: „peut-être quand tes copains viendront sur moi avec leurs joujoux …“. Es ist dies eine Vermutung, die Hugos innere Situation, sein traumähnliches Daseinsgefühl, mit seiner äußeren Situation, der zum Problem gewordenen Mitgliedschaft in der Arbeiterpartei, in enge Verbindung bringt. So hat man guten Grund, sich dem nun beginnenden Schauspiel der Vergangenheit und der dann wieder einsetzenden Gegenwartshandlung mit den beiden Leitfragen zuzuwenden, was es mit Hugos Empfinden auf sich hat, in einer unwirklichen Welt zu leben, und wie es mit seiner Wiederverwendbarkeit in der Partei bestellt ist. 106 Arts & Lettres II. Die seelische und soziale Lage eines potentiellen Selbstmordattentäters Hugo hat sich als junger Intellektueller großbürgerlicher Herkunft der im Untergrund agierenden revolutionären Arbeiterpartei angeschlossen und wird dort mit journalistischen Aufgaben betraut, die seinen Fähigkeiten entsprechen. Doch das genügt ihm nicht. Er hat das nicht unbegründete Empfinden, dass er in dieser verschworenen Gemeinschaft nicht als einer der ihren anerkannt wird und dass er diese Anerkennung erst durch eine „action directe“ gewinnen würde. So drängt er darauf, dass man ihn mit einer gefährlichen Mission beauftragt. Doch im Verlauf der Szenenfolge, in der ihm die Durchsetzung seines Wunsches gelingt und er mit dem Mord an Hoederer beauftragt wird, kommt zum Vorschein, dass er von einem Lebensproblem umgetrieben wird, dessen Lösung er sich von seiner „action directe“ erhofft. Das wird aufs deutlichste ablesbar an den drei symptomatischen Zukunftsphantasien, die er zur Sprache bringt. Nur eine von ihnen ist von eher harmloser Natur. Sie steht am Ende der Parallelhandlung, die mit dem Beginn des Dramas der Vergangenheit einsetzt. Während Hugo, unter dem vielsagenden Decknamen Raskolnikoff, an der Schreibmaschine die undankbare Arbeit für die wenig gelesene Untergrundzeitung tut, wartet Ivan, ein Arbeitersohn, mit nervöser Ungeduld auf den Sprengstoff, mit dem er einen gefährlichen Sabotageakt ausführen soll. Olga bringt ihm das Paket, Ivan macht sich auf den Weg und Hugo möchte von Olga wissen, was Ivan tun wird. Olga verweigert die Auskunft und Hugos bittere Reaktion gibt zu verstehen, wie sehr er darunter leidet, dass die Parteigenossen ihm kein volles Vertrauen schenken: „Qui vous prouve que je parlerais? Comment pourrez-vous me faire confiance si vous ne me mettez pas à l’épreuve? “ (II,3) Wenn dann am Ende Hugo erreicht hat, dass man ihn mit dem Mordauftrag zu Hoederer schickt, detoniert der von Ivan gelegte Sprengsatz und Hugo sieht sein Ziel zum Greifen nah: „Avant la fin de la semaine, vous serez ici, tous les deux, par une nuit pareille, et vous attendrez les nouvelles; et vous serez inquiets et vous parlerez de moi et je compterais pour vous.“ (II,4) Indessen wird Hugos Wunsch, sich als vollwertiges Mitglied der Partei zu bewähren, von einem zweiten, geradezu entgegengesetztem begleitet: seiner Todessehnsucht. „Olga, je n’ai pas envie de vivre,“ bekennt er der Freundin. Was sich in diesem Widerspruch verbirgt, wird Hugo zehn Tage später im Dialog mit Hoederer in dem Satz aussprechen: „Des fois, je donnerais ma main à couper pour devenir tout de suite un homme et d’autres fois il me semble que je ne voudrais pas survivre à ma jeunesse.“ (IV,3) Nichts spricht dafür, dass Hugo auch schon an dem Tag, an dem er den Mordauftrag erhält, zur Formulierung einer solchen Selbsteinsicht fähig wäre, aber alles deutet darauf hin, dass diese Einsicht exakt die seelische Situation beschreibt, in der er sich an diesem Tag um eine gefährliche Mission bewirbt. Was ihn hindert, sich dem Wunsch nach Mannwerdung ohne Vorbehalt hinzugeben, und was ihn wünschen lässt, seine Jugend nicht zu überleben, ist offenbar die Ahnung, dass ihm ein unliebsames Erwachen zur Wirklichkeit bevorstehen könnte. 107 Arts & Lettres Repräsentanten einer Wirklichkeit, die Hugo sich zurechtlegt, sind zum einen sein Vater, zum anderen Louis und Olga. Wie sehr ihn die noch nicht gelungene Ablösung vom Vater beschäftigt, kommt heraus, wenn Hugo in den Spiegel schaut, um zu prüfen, ob er ihm gleicht: „avec des moustaches, ce serait frappant“ (II,3). Er hasst in seinem Vater offenbar nicht nur den ausbeuterischen Unternehmer, sondern auch den Entwurf einer in ihm selbst liegenden Möglichkeit. Auch der Vater hatte in seiner Jugend als Mitglied einer revolutionären Gruppe in deren Zeitung geschrieben, und er hatte ihm einmal gesagt hat: „Ça te passera comme ça m’a passé …“. Es ist nur zu verständlich, dass Hugo sich nicht auf eine Wirklichkeit einlassen will, die auf schmutzigen Profit aus ist. Aber etwas anderes ist es, vor der Wirklichkeit die Augen zu verschließen, in der die Arbeiterpartei für eine bessere Gesellschaftsordnung kämpft. Dass Hugo genau dies tut, wird deutlich, wenn im Dialog mit Olga die hitzige Debatte zum Gesprächsthema wird, die aus dem Nebenraum herüberklingt. Worüber denn gestritten werde, fragt er Olga. Sie weiß nur, dass Louis dagegen ist. Das ist für Hugo genug. „Alors, s’il est contre, je suis contre aussi. Pas besoin de savoir de quoi il s’agit.“ Sichtlich hat sich Hugo an Louis wie an einen zweiten Vater angeschlossen, - an einen Vater, der ihm einerseits ermöglichen kann, sich als ganzer Mann zu erweisen, andererseits aber auch: seine Jugend nicht zu überleben. Hoederer, so teilt Louis nach dem Ende der Sitzung enttäuscht mit, ist mit den Verhandlungen beauftragt worden, und es bleiben nur noch zehn Tage Zeit, um das zu verhindern. Man könne ihn doch, schlägt Hugo Louis vor, für ein Selbstmordattentat nach dem Vorbild russischer Attentäter verwenden: „la bombe éclatait, le grand-duc sautait et le type aussi. Je peux faire ça.“ (II,4) Louis weist ihn zurecht: „C’étaient vraiment des anars. Tu en rêves parce que tu es comme eux: un intellectuel anarchiste.“ Den Kampf der Abeiterpartei bestimmt ein politisches Handeln von ganz anderer Art. Mit den Prinzipien dieses Handelns glaubt Hugo völlig vertraut zu sein, aber da irrt er gründlich; und das Maß seiner politischen Unreife tritt darin zutage, dass Hugo gar nicht auf den Gedanken kommt, Louis nach den Argumenten zu fragen, die Hoederer vorgebracht hat und mit denen er die Mehrheit des Gremiums auf seine Seite ziehen konnte. Allerdings trägt Louis erheblich dazu bei, dass der argumentative Hintergrund des Zerwürfnisses nicht zur Sprache kommt. Über den Kern der Debatte sagt er nur: „Hoederer nous a réunis ce soir parce qu’il veut que le Parti Prolétarien s’associe aux fascistes et au Pentagone pour partager le pouvoir avec eux, après la guerre.“ Dann will er wissen, was Hugo davon halte, und Hugos Reaktionen - „Tu te moque de moi.“ „C’est idiot“ - geben zu erkennen, dass ein solches Vorhaben geradezu jenseits seines Vorstellungsvermögens ist. Für ihn ist klar: „J’ai quitté ma famille et ma classe, le jour où j’ai compris ce que c’était que l’oppression. En aucun cas je n’accepterais de compromis avec elle.“ Und er weiß auch, was er tun würde, wenn die Partei ein solches Bündnis einginge: „Alors, je prendrais un pétard et j’irais descendre un flic sur la Place Royale ou avec un peu de chance un milicien. Et puis j’attendrais à côté du cadavre pour voir ce qui m'arriverait.“ Während ein Selbstmordattentat, wie rus- 108 Arts & Lettres sische Anarchisten es verübten, das Opfer als politischen Gegner brandmarkte und dem Täter politische Identität und Nachruhm sicherte, ist die Situation und Handlungsweise, die sich Hugo hier ausmalt, von ganz anderer Art. Nicht von ungefähr gleicht sie in ihrer Grundfigur dem Ausgang des Dramas. Es wäre eine Situation, in der sich Hugo töten ließe als Märtyrer einer Idee, die nicht die irgendeiner Gemeinschaft ist, sondern die nur ihn beseelt, ihn allein. 3 Sollte die Partei sich mit den Unterdrückern gemein machen - für ihn eine Vorstellung jenseits aller Wirklichkeit - würde er den Tod wählen in dem Bewusstsein, für eine Idee zu sterben, und sich zugleich den unterschwelligen Wunsch erfüllen, seine Jugend nicht zu überleben. Für ihn ist die Partei der einzige Daseinsraum, in dem moralisch unanfechtbar gelebt und gehandelt wird. So kann er sich Hoederers Vorgehen nur als Verrat erklären. „Est-ce qu’il est vendu? “ fragt er Louis, und der gibt zur Antwort: „Je ne sais pas et je m’en fous. Objectivement c’est un traître: ça me suffit.“ Das ist eine Auskunft mittels ideologisch vorgeprägter Münze, die Hugo unmittelbar einleuchtet, und dies umso mehr, als Louis sie gibt. Die moralische Idee des politischen Kampfes gegen Unterdrückung sieht er in den beiden Personen verkörpert, die für ihn die Partei repräsentieren und denen er sich angeschlossen hat wie an ein ideales Elternpaar. Von Louis befragt: „Tu es avec nous, petit? “, gibt Hugo zur Antwort: „Olga et toi vous m’avez tout appris et je vous dois tout. Pour moi, le Parti, c’est vous.“ Selbständig prüfendes Nachdenken erübrigt sich, wenn man wie Hugo über eine handlungsorientierende Doktrin verfügt, die jugendlichem Manichäismus entgegenkommt und deren Wahrheitsgehalt von Autoritätspersonen mit Elternstatus - scheinbar - verbürgt wird. III. Die Konfrontation mit der verdrängten Wirklichkeit Das Verlangen Hugos, das Vertrauen von Personen zu erwerben, deren Anerkennung er für seine Selbstachtung braucht, birgt jedoch den Keim eines inneren Konflikts. Um das Vertrauen zu rechtfertigen, das Louis und Olga in ihn setzen, muss er das Vertrauen Hoederers missbrauchen. Der darin liegende Widerspruch bleibt ihm verdeckt, solange er sich in der Überzeugung halten kann, dass die von Louis und Olga verkörperte Partei ein Hort moralischer Unanfechtbarkeit ist, und Hoederer ein Verräter. Doch schon am Tag der ersten Begegnung mit dem Mann, den er töten will, zeigt sich, dass diese Überzeugung ins Wanken gekommen ist. Warum, so will der misstrauisch gewordene Hoederer von Hugo wissen, warum habe er die Arbeit an der Parteizeitung aufgegeben, um sein Sekretär zu werden? „Par discipline“, ist Hugos Antwort. Er brauche das Gehorchen auf Befehle, weil er zu viele Gedanken im Kopf habe, Gedanken wie: „Qu’est-ce que je fais ici? Est-ce que j’ai raison de vouloir ce que je veux? Est-ce que je ne suis pas en train de me jouer la comédie? “ (III,4) Im Verlauf der bei Hoeder verbrachten zehn Tage wird Hugo gewahr, wie alles in der Welt Hoederers den Charakter des Wahren und Wirklichen hat, in seiner eigenen hingegen den der Lüge und des Scheinhaften. Er gesteht es 109 Arts & Lettres Jessica, die sich an dem Tag, an dem die Frist für das Attentat abläuft, in Hoederers Bureau zu ihm geschlichen hat und ihm den Revolver mitbringt, den er auch an diesem Tag nicht bei sich hat: „Tout ce qu’il touche a l’air vrai“ - „Je vis dans un décor.“ (IV,1) Kurz bevor Hoederers Verhandlungspartner eintreffen, wird die Zeit, die in ihrem Verstreichen Fakten schafft, zum Thema des Dialogs zwischen Hoederer und Hugo. Hoederer weiß, dass ihm für die Durchführung seines politischen Vorhabens nicht mehr viel Zeit bleibt, weil er sich sicher ist, dass die anderen ihn beseitigen wollen. Hugo, so meint er, habe hingegen noch viel Zeit vor sich. Wie alt er sei? „Vingt et un ans.“ (IV,3) Aber auch Hugo empfindet das Drängen der Zeit: „Moi aussi, je suis pressé“. Und dann formuliert er den aufschlussreichen, einen erheblichen Erkenntnisfortschritt markierenden Satz: „Des fois, je donnerais ma main à couper pour devenir tout de suite un homme et d’autres fois il me semble que je ne voudrais pas survivre à ma jeunesse.“ Ihm ist bewusst geworden, wenngleich sicherlich mehr als Ahnung denn als voll ausgebildeter Gedanke, dass die Überzeugungen, die ihn bisher erfüllt und an das Opfer des beabsichtigten Attentats herangeführt haben, vor dem prüfenden Blick des Mannes, der er werden soll, nicht standhalten. Das erklärt, dass Hugo sich zur Ausführung des Attentats erst in einem Augenblick imstande sieht, in dem ihn Gefühle überschwemmen, die sein Denken ausschalten. Kernpunkt der Verhandlungen ist ein „Comité National Clandestin“; Hoederer setzt seine Forderung durch: „un comité directeur réduit à six membres. Le Parti Prolétarien disposera de trois voix.“ Und als Hoederer die Unterredung mit den Worten beendet: „je parlerai demain aux camarades du Parti“, fährt Hugo auf, das dürfe er nicht tun: „Mon Dieu! ce sont les mêmes. Les mêmes qui venaient chez mon père … […] ils se glisseront partout, ils pourriront tout, ce sont les plus forts …“ (IV,4) Doch ehe er den Revolver ziehen kann, detoniert die von Olga geworfene Bombe. Hugo weiß nun, dass man ihm nicht mehr vertraut, und dass er nur noch einen Tag Zeit hat, das verlorene Vertrauen der Parteigenossen doch noch zurück zu gewinnen. Bitter beklagt er sich im Gespräch mit Jessica: „j’avais la chance d’être en colère. Naturellement, j’allais tirer. A présent tout est à recommencer.“ (V,2) Warum er denn Hoederer töten müsse, will Jessica wissen, und Hugos hilflose Antworten, die nur nachgesprochene Floskeln sind, verraten, dass er genau das nicht sagen kann. So fragt Jessica zu Recht: „Comment sais-tu que tes idées sont justes si tu ne peux pas le démontrer? “ Und Jessica führt in der dann folgenden Szene die längst fällige sachliche Auseinandersetzung herbei, indem sie Hoederer eröffnet, Hugo nenne ihn einen „social-traître“. (V,3) So erfährt Hugo jetzt - erst jetzt! - welche Erwägungen der Politik Hoederers zugrunde liegen. Die Partei könne zwar, so erläutert Hoederer, mit Hilfe der Russen die Macht übernehmen, aber sie werde zu unpopulären Maßnahmen gezwungen sein und die Macht wieder verlieren. Wenn man diese Maßnahmen einer Koalitionsregierung überlasse, 110 Arts & Lettres werde auch sie scheitern, und dann werde das ganze Land die Arbeiterpartei zur Übernahme der Regierung auffordern. Die fünf Argumente, die Hugo in der Auseinandersetzung mit Hoederer aufzubieten hat, bilden alles andere als eine in sich schlüssige „idealistische“ Gegenposition; sie kehren sich vielmehr eins wie das andere gegen ihn selbst.(1) Die Partei, so Hugo, dürfe die Macht nicht im Bündnis mit den bürgerlichen Kräften übernehmen, denn sie habe nur ein Ziel: „de faire triompher nos idées, toutes nos idées et rien qu’elles.“ Hoederer entgegnet: „C’est vrai: tu as des idées, toi. Ça te passera.“ Wobei er einen Satz aufnimmt, den Hugo von seinem Vater zu hören bekommen hatte. (Vgl. II,3) Und dass Hugo gut daran täte, sich von seinen haltlosen Ideen zu trennen, ergibt sich aus dem weiteren Verlauf des Dialogs. (2) Für diese Idee, so fährt Hugo fort, sind die Kameraden gestorben, die von der Polizei des Regenten getötet worden sind. Es ist Verrat an diesen Toten, mit den Mördern zu paktieren. Und wie will man dieses Paktieren den Lebenden beibringen, etwa indem man sie belüge? Hoederers Antwort ist: „Nous sommes en guerre et ça n’est pas l’habitude de mettre le soldat heure par heure au courant des opérations.“ „Et toi, Hugo, tu es sûr que tu ne t’est jamais menti, que tu n’as jamais menti, que tu ne mens pas à cette minute même? “ Hugo behauptet, dass er sich dessen sicher sei, aber mit einem vielsagenden Abbrechen der Rede: „Je n’ai jamais menti aux camarades. Je …“. (3) Hugo bekennt sich zu der Überzeugung: „Tout les moyens ne sont pas bons“. Aber er sagt dies als jemand, der einen politischen Mord vorhat. Und er muss sich von Hoederer sagen lassen, dass seine politische Überzeugung, fundiert im Begriff der „pureté“, nichts anderes ist als eine „idée de fakir et de moine“. (4) Er wisse, so Hugo, dass er in der Partei mit seinen Ansichten nicht allein stehe. Und Hoederer weist ihn zurecht: er täusche sich, wenn er sich im Einklang mit den Parteigenossen glaube, die sich gegen die Verhandlungen ausgesprochen haben: „je peux te dire qu’ils sont de mon espèce, pas de la tienne - et tu ne tarderas pas à le découvrir. S’ils ont désapprouvé ces négociations, c’est tout simplement qu’ils les jugent inopportunes; en d’autres circonstances ils seraient les premiers à les engager. Toi, tu en fais une affaire de principes.“ (5) Er rede nicht von Prinzipien, behauptet Hugo; und Hoederer fordert ihn auf zu überlegen: das heimliche Bündnis mit den Faschisten und den Liberalen werde zur Folge haben, dass sich die illyrische Armee kampflos entwaffnen lasse, während nach einem Abbruch der Verhandlungen tausende von Menschen ihr Leben verlieren würden. Hugo erwidert in gequältem Ton (péniblement): „On ne fait pas la révolution avec des fleurs. S’ils doivent y rester … […] Eh bien, tant pis! “ Worauf Hoederer ihm das Geständnis entlocken kann, dass er die Menschen nicht liebt, weil ja auch die Menschen ihn nicht lieben: „Pourquoi les aimerais-je? Est-ce qu’ils m’aiment? “. Ein Geständnis narzisstischer Kränkung, dass die Bodenlosigkeit seiner Ideen vom Kampf für eine bessere Zukunft entlarvt. „Quant aux hommes“, so Hugo, „ce n’est pas ce qu’ils sont qui m’intéresse mais ce qu’ils pourront devenir.“ Aber mit welchem Recht darf er Menschenleben im Namen einer zukünftigen Menschheit opfern, wenn er die Menschen nicht liebt? So muss Hugo sich von Hoederer vor- 111 Arts & Lettres halten lassen: „les hommes, tu les détestes parce que tu te détestes toi-même; ta pureté ressemble à la mort et la Révolution dont tu rêves n’est pas la nôtre: tu ne veux pas changer le monde, tu veux le faire sauter.“ Jessica, die sich während der ganzen Dramenhandlung als kluge Beobachterin erweist, ist sich gewiss, dass Hugo sich von Hoederer hat überzeugen lassen: „Je t’ai regardé pendant que tu discutais avec Hoederer: il t’a convaincu.“ (V,5) Und um sich dieser Wahrheit zu entziehen, begründet Hugo seinen Entschluss zur Ausführung des Mords mit einem Argument, das sich selbst ad absurdum führt: „s’il m’avait convaincu, ce serait une raison de plus pour le descendre parce que ça prouverait qu’il en convaincra d’autes. Demain matin, je finirais le travail.“ Das will Jessica nicht geschehen lassen. Zu Beginn des folgenden Tages führt sie eine neue Lage der Dinge herbei, indem sie Hoederer verrät, Hugo habe den Auftrag übernommen, ihn zu töten, und könne es im Grunde nicht über sich bringen, den Auftrag auszuführen: „Il vous aime bien trop.“ (VI,1) Statt Hugo entwaffnen zu lassen, will Hoederer ihn überzeugen: “Je veux le convaincre. Il y a cinq minutes de risques, pas plus.“ IV. Die Chance vor der Tat Wenn Hoederer zu Beginn der Szene Hugo in ein Gespräch über politische Attentäter verwickelt, zu denen das misslungene Attentat vom Vortag den Anlaß bietet, erweist er sich wiederum, wie schon während des Dialogs am Vorabend, als hellsichtiger Psychologe, der die innere Lage Hugos durchschaut. Jetzt jedoch macht er nicht nur Hugos Zerstörungstrieb zum Thema, sondern auch das, was Hugo hindert, diesem Trieb freien Lauf zu lassen, und ihn als einen Mann ausweist, der erst dann handelt, wenn er sich zuvor über den Sinn und die Folgen seines Handelns gedankliche Klarheit verschafft hat. Wäre nicht die Angst der Frauen vor dem Knall einer Detonation, so Hoederer, gäben sie vortreffliche Attentäter ab: „Elles sont butées, tu comprends: elles reçoivent les idées toutes faites, […] Nous autres, ça nous est moins commode de tirer sur un bonhomme pour des questions de principes parce que c’est nous qui faisons les idées et que nous connaissons la cuisine: nous ne sommes jamais tout à fait sûrs d’avoir raison. Tu es sûr d’avoir raison, toi? “ Ja, behauptet Hugo; das Denken werde ihn nicht hindern, ein Attentat auf ihn auszuführen, wenn die Partei es befohlen habe. Und Hoederer hält ihm entgegen: „Avant même de presser sur la gâchette tu aurais déjà vu toutes les conséquences possibles de ton acte: tout le travail d’une vie en ruine, une politique flanquée par terre, personne pour me remplacer, le Parti condamné peut-être à ne jamais prendre le pouvoir …“. - Müssen sich diese Worte nicht tief in Hugos Gedächtnis eingegraben haben? Müssen sie sich in der Zeit nach der Ermordung Hoederers nicht immer wieder in sein Bewusstsein gedrängt haben? Alles spricht dafür, dass Hugo in diesem Augenblick nah daran ist, sowohl Klarheit über den Charakter politischen Handelns zu gewinnen als auch über sich 112 Arts & Lettres selbst. Der Behauptung Hoederers, nur der könne ohne nachzudenken töten, wer nicht zu leben verstehe, widerspricht Hugo nicht. Vielmehr bricht es nun aus ihm heraus: „Je ne suis pas fait pour vivre, […] je suis de trop, je n’ai pas ma place et je gêne tout le monde; personne ne m’aime, personne ne me fait confiance.“ Damit spricht Hugo noch einmal den Mangel deutlich aus, unter dem er leidet: da ist nichts, was ihn mit Selbstwertgefühl erfüllen könnte, nichts, was seinem Dasein Richtung und Bodenhaftung geben würde; denn zu nichts taugt er, zu nichts wird er gebraucht, niemand legt auf ihn Gewicht. Hoederer antwortet auf den Hilferuf, der in diesem Eingeständnis steckt, mit der Entgegnung: „Moi je te fait confiance“; und er fährt fort: „Tu es un môme qui a de la peine à passer à l’âge d’homme mais tu feras un homme très acceptable si quelqu’un te facilite le passage. Si j’échappe à leurs pétards et à leurs bombes, je te garderai près de moi et je t’aiderai.“ Das ist eine Diagnose, an deren Richtigkeit, und ein Therapieversprechen, an dessen Erfüllbarkeit man nicht zweifeln kann. Wenn Hoederer dann Hugo den Rücken kehrt und ihm die Gelegenheit gibt, ihn zu töten, ohne ihm in die Augen zu sehen, bewahrheitet sich zwar die Behauptung Hoederers, dass Hugo zu einer solchen Tat nicht fähig sei. Aber absolut sicher konnte er seiner Sache nicht sein. Das bedeutet: In dem Augenblick, in dem Hoederer Hugo den Rücken zuwandte, hatte er alle Rücksicht auf sein politisches Werk beiseite geschoben und sein Leben in Hugos Hand gegeben, um ihn das Gewicht spüren zu lassen, das er ihm als einem ihm ebenbürtigen Menschen zuerkennt. Hugo hat Hoederers wortlose Botschaft verstanden: „Je savais que vous me tourniez le dos exprès. C’est pour ça que …“ Zugleich sieht er sich in eine geradezu ausweglose Lage versetzt. Er weiß nun, dass es einen Menschen gibt, der ihn schätzt und der ihm vertraut. Zugleich aber muss er sich sagen, dass er das Vertrauen enttäuscht, ja verraten hat, das die auftraggebenden Parteigenossen in ihn gesetzt hatten: „Eux, ils penseront que je suis un traître parce que je n’ai pas fait ce qu’ils m’avaient chargé de faire.“ Hoederer versichert ihm, dass er die Sache mit Louis werde bereinigen können; schwieriger sei etwas anderes: „Le plus difficile, c’est t’arranger avec toi-même.“ Wie sehr das zutrifft, ist Hugos Antwort zu entnehmen: „Vous n’avez qu’à me rendre le revolver“. Nach seinem Selbstverständnis hat sein Versagen den Beweis erbracht, dass er zu nichts taugt und nichts wert ist. So sollte er sich am besten selbst aus dem Leben räumen, in dem er seinen Platz nicht finden kann. Doch diese Selbsteinschätzung geht von falschen Vorstellungen über seine Brauchbarkeit aus, die Hoederer mit dem Urteil zurechtrückt: „Tu peux encore servir.“ Das ist ein Urteil über Hugos Verwendbarkeit in der Partei von gleicher Art wie das, das zwei Jahre später Olga fällen wird. Und was den Dienst in der Partei anbetrifft, hatte ihm Olga vor zehn Tagen der Sache nach genau das gesagt, was er jetzt von Hoederer zu hören bekommt: „la Révolution n’est pas une question de mérite, mais d’efficacité; et il n’y a pas de ciel. Il y a du travail à faire, c’est tout. Et il faut faire celui pour lequel on est doué.“ Das nimmt Hugo unwidersprochen hin. Dann gesteht er: „je sais à présent que je ne pourrais jamais tirer sur vous parce que … parce que je tiens à vous.“ Allerdings fügt er hinzu: „sur ce que nous avons discuté hier soir je ne serais ja- 113 Arts & Lettres mais d’accord avec vous.“ Man darf vermuten: ein Rückzugsgefecht, das er seiner Selbstachtung schuldig ist. Und er tritt ins Freie mit den Worten: „Je veux réfléchir à toute cette histoire.“ - Zu Hoederer zurückgekehrt, will Hugo ihm sagen, dass er seine Hilfe annehme, aber die Türe öffnend, sieht er Jessica in den Armen Hoederers - seine Frau in den Armen dessen, der für ihn zur helfenden Vaterfigur geworden war - , glaubt, dass Hoederers Vertrauensbeweis ein Täuschungsmanöver war, um eine Liebesaffaire mit Jesseca zu decken, und reißt den Revolver an sich mit den Worten: „Et puis … et puis …Et puis vous m’avez délivrez.“ (VI,4) Befreit wovon? Die Antwort ist den Worten Hoederers zu entnehmen, mit denen er in der vorangegangenen Szene vorausgesagt hatte, dass Hugo nicht werde auf ihn schießen können: „Tu me regardes et au moment de tirer, voilà que tu penses: ‚Si c’était lui qui avait raison? ’“ Der Satz fiel im Verlauf des Dialogs über den Konflikt zwischen Gehorsam gegenüber einem Befehl der Partei und eigenem Nachdenken, der Hoederer zufolge in einem jungen Intellektuellen zwangsläufig aufbrechen muss, wenn die befohlene Tat mit den eigenen politischen Überzeugungen nicht - nicht mehr - zu rechtfertigen ist. Genau dieser innere Konflikt hatte sich in Hugo bereits in der allerersten Konfrontation mit Hoederer angemeldet. Er brauche Befehle, so hatte Hugo damals gesagt, um sich Gedanken aus dem Kopf zu treiben, Gedanken wie: „Qu’est-ce que je fais ici? Est-ce que j’ai raison de vouloir ce que je veux? “ (III,4) Zu solchem zweifelnd fragendem Nachdenken aber hatte Hugo während der bei Hoederer verbrachten Tage reichlichen Stoff bekommen, nicht zuletzt in Gestalt der wohlerwogenen politischen Strategie, die Hoederer ihm erläutert hatte. Die Antwort auf die Frage, wovon sich Hugo im Augenblick der Tat befreit sieht, kann somit nur lauten: Befreit von dem Druck, sich im Durchdenken all dessen, wofür Hoederer ihm die Augen geöffnet hatte, der Wirklichkeit zu stellen und sich angesichts dieser Wirklichkeit zu entscheiden. Das aber zieht die Frage nach sich: Musste sich nach der Tat dieser Druck nicht wieder herstellen? Sehr bald muss Hugo doch über den wahren Charakter der ihn „befreienden“ Szene Klarheit gewonnen haben. Unmöglich konnte er an der Annahme festhalten, Hoederer habe ihn mit einem gespielten Vertrauensbeweis hinters Licht geführt. Sie war ohnehin phantastisch genug, denn wie könnte man einem Mann wie Hoederer unterstellen, er habe, um einen gehörnten Ehemann in Sicherheit zu wiegen, einen Augenblick lang sein Leben riskiert. Unmöglich ist auch die Vorstellung, Jessica habe sich stumm davongemacht, statt Hugo die Wahrheit ins Gesicht zu schleudern. Und wie anders denn als Beweis ungeheuchelter Zuneigung wären die Worte des tödlich getroffenen Hoederer zu deuten, mit denen er die Liquidierung Hugos verhinderte: „Ne lui faites pas de mal. Il a tiré par jalousie“? Dazu die offenkundige Lüge: „Je couchais avec la petite.“ All das musste unweigerlich bewirken, dass Hugo mit der Vergangenheit, erinnernd und nachdenkend, unausgesetzt beschäftigt blieb. Das Ergebnis dieser Rekapitulation der Vergangenheit ist indessen überraschend. 114 Arts & Lettres V. Die Chance nach der Tat Zu Beginn der wieder aufgenommenen Rahmenhandlung stellt Olga Fragen, denen zu entnehmen ist, dass sie ihr Urteil über Hugo keineswegs schon im Laufe des Berichts hat fällen können, den Hugo gegeben hat. Vielmehr muss sie entscheidende Auskünfte, die ihr die Urteilsfindung ermöglichen, nun erst zu bekommen suchen. Sie braucht zunächst die Antwort auf zwei Fragen. Die eine lautet: „Est-ce que tu l’as vraiment tué à cause de Jessica? “ Die andere: „As-tu l’orgueil de ton acte? Est-ce que tu le revendiques? Le referais-tu, s’il était à refaire? “ Auf beide Fragen gibt Hugo verneinende Antworten. Zu Olgas großer Erleichterung. Denn wenn Hugo auf Hoederer geschossen hätte, weil er ihm Jessica genommen hatte, wäre der Mord aus privaten Motiven geschehen und es wäre erwiesen, dass sich die Partei auf Hugo nicht verlassen kann. - Eifersüchtig mag er vielleicht gewesen sein, so Hugo, „mais pas de Jessica“. - Und es wäre vollends unmöglich, Hugo wieder in die Partei einzugliedern, wenn er das Attentat „par passion politique“ verübt hätte, überzeugt, dass Hoederers Politik prinzipieller Verrat an der Sache der Partei gewesen war, und bereit, in dieser unverbrüchlichen Überzeugung jederzeit wieder so zu handeln. Alle Antworten, die Hugo auf die Frage nach dem Motiv seines Handelns gibt, laufen darauf hinaus zu sagen, dass er dieses Motiv nicht benennen kann. „Ce n’est pas moi qui ai tué, c’est le hasard.“ „C’est un assassinat sans assassin.“ In dieser Ratlosigkeit habe er seither oft an Olga gedacht. „Dans la prison, je me demandais: qu’est-ce qu’Olga me dirait, si elle était ici? Qu’est-ce qu’elle voudrait que je pense? “ Er wisse zwar, dass Olga ihm gesagt hätte: „Soi modeste, Hugo. Tes raisons, tes motifs, on s’en moque. Nous t’avions demandé de tuer cet homme, et tu l’as tué. C’est le résultat qui compte.“ Aber er sei nicht bescheiden. „Je n’arrivais pas à séparer le meurtre de ses motifs.“ Olgas Replik: „J’aime mieux ça“, mag auf den ersten Blick erstaunen. Hugos Frage, „Comment, tu aimes mieux ça? “ drückt dieses Erstaunen aus. Zu verstehen ist jedoch: die Partei braucht nicht Genossen, die aufgrund persönlicher Abhängigkeiten handeln, sondern aus politischen Motiven - politisch im Sinne des Mitwirkens am pragmatischen Handeln der Partei. Dies Hugo beizubringen, steht Olga noch bevor - „Je t’expliquerai.“ Zunächst fordert sie Hugo auf weiterzureden, und Hugo beschreibt seinen inneren Zustand mithilfe derselben Metaphorik, die er schon vor zwei Jahren verwendet hatte, um sein Daseinsgefühl auszudrücken. Er frage sich, ob er Hoederer wirklich getötet habe. „Si tout était une comédie? “ Er habe sich zu jung gefühlt, sich ein Verbrechen auf den Hals laden wollen wie einen Stein. „E j’avais peur qu’il ne soit lourd à supporter. Quelle erreur: il est léger, horriblement léger.“ Das ist ein Befund, der befremden kann. Hugo hat einen Menschen getötet, den Menschen, von dem er bekennt: „J’aimais Hoederer, Olga. Je l’aimais plus que je n’ai aimé personne au monde. […] Ce n’est pas mon crime qui me tue, c’est sa mort“. Das müsste doch schwer auf ihm lasten. Und dies erst recht, wenn man hinzu nimmt, dass er die Verantwortung dafür trägt, dass beinah geschehen wäre, was Hoede- 115 Arts & Lettres rer wenige Augenblicke vor seiner Ermordung ihm vor Augen gestellt hatte: „tout le travail d’une vie en ruine, […] le Parti condamné peut-être à ne jamais prendre le pouvoir …“ Die Erklärung kann nur sein, dass Hugo genau diesen Gedanken nicht an sich herangelassen hat, - seit zwei Jahren nicht. So kann er das Fazit ziehen: „Rien n’est arrivé. Rien. J’ai passé dix jours à la campagne et deux ans en prison; je n’ai pas changé.“ Und Olga sieht sich in der Lage, nun ihr Urteil auszusprechen: „Tu vas rentrer au Parti“. Aber im weiteren Verlauf des Dialogs stellt sich heraus, dass sie dieses Urteil vorschnell gefällt hat. Sie muss Hugo erläutern, unter welcher Bedingung er wieder in die Partei eingegliedert werden kann, und sie muss ihn zur Annahme dieser Bedingung bewegen. Nicht ohne gute Gründe darf sie hoffen, dass ihr das gelingt. Zum einen wird Hugo in die verschworene Gemeinschaft wieder aufgenommen werden und in ihr als ganzer Mann tätig sein: „Tu reviendras parmi nous et tu vas faire du travail d’homme.“ Zum andern wird er zu ihr zurückkehren - „Oui, Hugo, je t’aiderai“ - und nur zu gern sieht sie das Band zwischen ihm und ihr unverbrüchlich werden: „Tu ne me quitteras plus. Et s’il y a des coups durs, nous les supporterons ensemble.“ Dann jedoch liefert Hugo für die anstehenden Eröffnungen ein Stichwort, das sie zusammenfahren lässt: „Tu te rappelles: Raskolnikoff. […] C’est le nom que tu m’avais choisi pour la clandestinité. […] Je vais le reprendre.“ Nein, entgegnet Olga, und Hugo fragt erstaunt: „Pourquoi? Je l’aimais bien. Tu disais qu’il m’allait comme un gant.“ Mit der Wahl und der Übernahme dieses Decknamens verbanden sich vermutlich wiederum symptomatische Zukunftsphantasien. Als Olga diesen Namen wählte und Hugo gleichsam in die Sphäre der Romanhelden hob, erwies sie sich als keine schlechte Menschenkennerin; es dürfte in der Ahnung geschehen sein, dass Hugo zu einem Mord aus sozialrevolutionärem Motiv zwar fähig wäre, dass er einer solchen Tat jedoch nicht wirklich gewachsen sein würde. Um das Leben nach der Tat zu ertragen, würde er die mütterliche Freundin brauchen, und dies würde ihn dauerhaft an sie binden. Da Hugo den Namen gern getragen hat - „je l’aimais bien“ - muss er sich auch für ihn mit einer Zukunftsphantasie verknüpft haben, die ihm zusagte. Deren Inhalt könnte gewesen sein: als Mörder nach dem Vorbild Raskolnikoffs würde er zwar unter der begangenen Tat leiden, aber ein ähnliches Schicksal wie das Raskolnikoffs, der die Tat gestanden und die Strafe auf sich genommen hatte, würde ihn mit sich und der Umwelt wieder in Einklang bringen. Er wäre dann ein neuer Mensch, ein Auferstandener wie Lazarus - Sonja hatte dem Romanhelden die Erweckung des Lazarus aus dem Evangelium vorgelesen (Joh. 11, 1-44) - und eine ihn liebende Frau, eine andere Sonja, würde das Leben mit ihm teilen. - Was Olga nun jedoch von ihm verlangen muss, bringt Hugo als Raskolnikoff nicht mit seiner Umwelt in Einklang, sondern lässt ihn aus ihr verschwinden. Hugo muss den Decknamen Raskolnikoff ablegen, unter dem der Attentäter unter den Parteigenossen bekannt geworden ist, unter einem anderen Decknamen eine neue Identität annehmen und an der Fiktion mitwirken, dass Raskolnikoff im Gefängnis an vergifteter Schokolade gestorben ist. Das fordert die veränderte poli- 116 Arts & Lettres tische Lage, über die Hugo jetzt unterrichtet werden muss. Olga beginnt: „Le parti a changé sa politique“; und Hugos Reaktion (Hugo la regarde fixement) macht klar, dass er in diesem Augenblick bereits ahnt, was Olga ihm eröffnen wird. Der Gedanke, dass die Partei ihre Politik geändert haben könnte, war schon im Gefängnis in ihm aufgetaucht. Das war einem Replikenwechsel im ersten Dialog mit Olga zu entnehmen, in dem von einer geänderten Einstellung der Partei, der großzügiger gehandhabten Rekrutierung junger Mitglieder die Rede war und Hugo mit einer leichten Beunruhigung - „Avec une légère inquiétude“ - die Frage gestellt hatte: „Mais pour l’essentiel, c’est la même ligne? “ Obgleich also dies nicht gänzlich außerhalb seiner Vorstellungen lag, trifft es ihn doch mit der Gewalt eines Schocks, wenn Olga ihm eröffnet: Als die Partei vor zwei Jahren Hugo den Mordauftrag gab, war die Verbindung mit Moskau abgerissen, und die Partei musste ihre politische Linie selbst bestimmen. Louis hatte unterstellt, dass es im Sinne Moskaus sei, wenn die Arbeiterpartei mit Hilfe der Roten Armee sofort die Macht übernehme. Im vergangenen Winter wurde die Verbindung wieder hergestellt und die UDSSR hat die Partei wissen lassen, dass sie aus militärischen Gründen eine Annäherung an den Regenten wünscht. Daher hat man zusammen mit der Regierung und dem Pentagone ein „comité clandestin“ von sechs Mitgliedern gebildet. Hugo wirft ein: „Et vous avez trois voix? “ - „Comment le sais-tu? “ fragt Olga erstaunt; und Hugo weicht aus: „Une idée. Continue.“ Die Folge war, fährt Olga fort, dass die illyrischen Truppen kaum noch Widerstand geleistet haben und der Tod tausender von Menschen vermieden worden ist. Ferner hat man von den Sowjets erfahren, dass sie nicht bereit sind, der Arbeiterpartei allein die Regierung anzuvertrauen, weil damit zu rechnen sei, dass ein Aufstand sie hinwegfegen würde. Die Partei hat also die von Hoederer angebahnte Politik übernommen. Dass der Attentäter im Auftrag von Parteigenossen gehandelt hatte, darf nicht ruchbar werden. Wer denn der Mörder gewesen sei, fragt Hugo: „Un type aux gages de l’Allemagne? “ Offenbar trifft diese Vermutung ins Schwarze; denn Olga erläutert: Die Kameraden wussten, dass Roskolnikoff Parteimitglied war, und sie haben nicht geglaubt, dass er aus Eifersucht geschossen hatte. „Alors on leur a expliqué … ce qu’on a pu.“ Man habe also die Kameraden belogen, ist Hugos bitterer Kommentar. Olga erwidert: „Menti, non. Mais nous … nous sommes en guerre, Hugo. On ne peut pas dire toute la vérité aux troupes.“ Da bricht Hugo in schallendes Gelächter aus mit den Worten: „Tout ce qu’il disait! Tout ce qu’il disait! C’est une farce.“ Soviel ist ihm jetzt klar: „Hoederer, Louis et toi, vous êtes de la même espèce.“ An diese Einsicht glaubt Olga, sicherlich zu Recht, anknüpfen zu können. „Hugo, tu aimais Hoederer.“ Das kann Hugo nur bestätigen: „Je crois que je ne l’ai jamais aimé qu’à cette minute“ - „Alors il faut nous aider à poursuivre son œuvre“ , fordert Olga ihn auf, - und spricht damit zweifellos das aus, was auch Hoederer in dieser Minute von Hugo gefordert haben würde. Aber zu dieser Übereinstimmung mit Hoederer zu kommen, ist Hugo außerstande. Seine Lage sieht er so: „Alors, moi, je suis récupérable. Parfait. Mais tout seul, tout nu, sans bagages. A la condition de changer de peau.“ Zu dieser Selbstentsagung - die zugleich Selbstfindung 117 Arts & Lettres wäre, „passage à l’âge d’homme“ - ist er nicht bereit. Die beiden Motive für seine Verweigerung sind unschwer auszumachen. Das eine: Bei der jetzt gegebenen Lage der Dinge ist sein Wunsch unerfüllbar geworden, als Attentäter namens Raskolnikoff im verschworenen Kreis der Parteigenossen Gegenstand jener bewundernden Aufmerksamkeit zu werden, die er für sein Selbstwertgefühl braucht. Der zweite: die Weigerung, auf die Bedingungen der Partei einzugehen, macht ihm die Erfüllung des seit langem insgeheim gehegten Wunsches möglich, seine Jugend nicht zu überleben und - wenn auch nur in symbolischer Form - durch ein Selbstmordattentat dem Opfer und sich selbst eine politische Identität zu geben. Zwar wisse er nicht, warum er Hoederer getötet habe, aber er wisse nun, warum er ihn hätte töten sollen: „parce qu’il faisait de mauvaise politique, parce qu’il mentait à ses camarades et parce qu’il risquait de pourrir le Parti.“ Er habe Hoederer noch nicht getötet, noch nicht. „C’est à présent que je vais le tuer et moi avec.“ Und mit dem Ruf: „Non récupérable“ tritt er ins Freie und gibt sich den Revolverschüssen des Mordkommandos preis. Es ist dies ein Akt der Entscheidung von nahezu paradoxer Doppelsinnigkeit. Hugo stirbt einerseits für eine Idee der Reinheit, die man mit Hoederer eine „Fakirs- und Mönchsidee“ nennen und als Fluchtbewegung deuten muss. Er begeht einen Selbstmord, dessen wahren Beweggrund er durch ein vorgeschobenes politisches Motiv dem eigenen Bewusstsein verbergen kann. Er stirbt, weil er nicht „erwachen“ will. Doch insofern er nicht erwachen will, ist er „erwacht“. Er gibt seinem Ich eine endgültige, unwiderrufliche Gestalt. Er setzt - nicht-aufgewacht aufgewacht - seine Identität. Kehren wir zurück zu der eingangs gegebenen schematisierenden Problemskizze. Wir hatten gesagt: wenn dem Zuschauer der Vorgang des Erzählens verborgen bleibt und sich am Ende herausstellt, dass der Richter-Therapeut versagt hat, wirft das die Frage nach dem Grund dieses Versagens auf. War er inkompetent, oder hat ihm der Täter-Patient entscheidende Informationen vorenthalten? Auf diese Frage lässt sich nun eine Antwort geben, und dies deshalb, weil der Inhalt der Erzählung dem Zuschauer nicht, wie in unserer schematisierenden Überlegung unterstellt, zur Gänze unbekannt bleibt. Die Fortsetzung des Dialogs zwischen Hugo und Olga gibt über das, was Hugo berichtet hat, nachträgliche Auskünfte von erheblichem Gewicht. Man begreift nun: Hugo hat Olga nicht gesagt, dass Hoederer ihm die taktischen Erwägungen erläutert hatte, die für ein vorübergehendes Bündnis mit dem Klassenfeind sprechen; und auch nicht, dass Hoederer ihm hatte klarmachen wollen, dass Louis dieses Bündnis nicht aus grundsätzlicher Überzeugung abgelehnt hatte, sondern gleichfalls aufgrund taktischer Erwägungen. Was eigentlich hatte er Olga während der langen drei Stunden erzählt? Wir können die naheliegende Vermutung beiseite lassen, dass Hugo erst recht all das verheimlicht hat, was Hoederer ihm als psychologischer Diagnostiker gesagt hatte. Die vom Dramentext selbst evident gemachten Lücken in Hugos Erzählung genügen für die Folgerung, dass Hugos Bericht Olga nicht ermöglicht hatte fortzuführen, was Hoederer mit erkennbarem Erfolg begonnen hatte: die Aufklärung Hugos 118 Arts & Lettres über sich selbst und über die Partei. Wenn sie bei dieser Lage der Dinge Hugo die Bedingungen erläutert, unter denen er wieder in die Partei eingegliedert werden kann, scheitert sie bei dem Versuch, Hugo zur Annahme dieser Bedingungen zu bewegen und führt Hugos Entschluss herbei, sich als „non récupérable“ vom Mordkommando töten zu lassen. Olgas Scheitern und Hugos Akt der Wahl ist mithin auf die Tatsache zurückzuführen, dass Hugo ihr all das verschwiegen hat, was Olga in die Lage versetzt hätte, die Rolle Hoederers zu übernehmen, - desjenigen Richters und Therapeuten, der imstande gewesen wäre, Hugo den Übergang ins Mannesalter zu erleichtern und ihn zu einem brauchbaren Mitglied der Partei zu machen. Doch noch in anderer Weise hat der Wechsel der Informationsperspektive dafür gesorgt, dass Hugos Entscheidung für den Tod zu einem Akt der Wahl in einem herausgehobenen Augenblick wird. Zwischen den zehn Tagen, die Hugo bei Hoederer verbracht hat, und dem Tag, an dem er Olga davon erzählt, liegen zwei Jahre, - eine Zeit, während derer er unausgesetzt, wie er Olga gesteht, an die Tage bei Hoederer und seinen Mord an ihm zurückgedacht hat: „C’est une histoire que je connais par cœur; je me la répétais tous les jours en prison.“ (I,4) Was aber waren die Gedanken, mit denen er sich fortwährend beschäftigt hatte? Auch darüber hätte der Zuschauer Auskunft erhalten können; dadurch nämlich, dass in Hugos Bericht über das faktisch Vorgefallene, und vor allem über das damals von ihm selbst, von Jessica und Hoederer Gesagte, auch seine Stellungnahme zum damals Geschehenen und Gesagten zur Sprache gekommen wäre. Dann hätte der Zuschauer jenen zweijährigen inneren Vorgang der Rekapitulation der Vergangenheit überblicken können, in dessen Verlauf Hugo einerseits immer wieder der Wahrheit über sich selbst und über den Charakter der Partei begegnet sein muss, und andererseits immer wieder Mittel und Wege gefunden haben muss, dieser Wahrheit auszuweichen. Hugos Verharren im Zustand des Nichterwachens über einen so langen Zeitraum hin wäre durch eine psychologische Argumentation plausibel geworden. Diese Argumentation entfällt, weil die drei Stunden des Erzählens entfallen sind, in denen sie hätte gegeben werden können, - und weil in den Dialog mit Olga in der Gegenwartshandlung lediglich die Feststellung eingeht, dass Hugos zweijährige Verstehensbemühung ohne jeden Erfolg geblieben ist. Dieses Fehlen aber bedeutet, dass es der dramatischen Person an psychologischer Kontinuität und Konsistenz fehlt. Genau dieser Befund ergibt sich auch für das Filmszenario Les jeux sont faits. 4 Der Arbeiterführer Pierre wird vierundzwanzig Stunden vor einer von ihm vorbereiteten revolutionären Erhebung von einem Verräter erschossen. Eve, eine junge Frau aus großbürgerlichen, der Regierung nahe stehenden Kreisen, wird zur selben Stunde von ihrem Mann vergiftet. Eve und Pierre lernen sich im Reich der Toten kennen und lieben; und die Jenseitsverwaltung bestimmt: wenn die Liebenden, ins Leben zurückgekehrt, auch noch am Ende von vierundzwanzig Stunden ihre Liebe über alles stellen, wird ihnen eine vollständige Lebenszeit geschenkt. Kurz vor Ablauf der Probezeit ist Pierre bei den aufständischen Arbeitern, um sie aus 119 Arts & Lettres einer gefährlichen Situation zu retten, und in dem Augenblick, in dem Pierre mit Eve telefoniert, um ihr zu sagen, dass er gegen die Verabredung jetzt nicht zu ihr kommen könne, ist die Frist abgelaufen und beide sterben ihren endgültigen Tod. - Zu verstehen ist: die Bereitschaft, sich verantwortungsbewusst der Welt zuzuwenden, lässt weltvergessene „absolute“ Liebe nicht zu. Die Manipulation der dramatischen Zeit liegt darin, dass Pierre und Eve erst im Totenreich ein Liebespaar werden. Wenn sie nun für ihre Probezeit ins Leben zurückkehren, nehmen sie ihr Leben zwar genau dort wieder auf, wo sie es, wie die Augenzeugen einen Augenblick glauben mussten, verlassen hatten. - Die Schüsse hatten Pierre nicht getroffen; er war nur vom Fahrrad gestürzt und hatte das Bewusstsein verloren. Das Gift hatte Eve nur ohnmächtig gemacht. - Doch Pierre begibt sich nach dem Erwachen aus seiner Betäubung auf geradem Wege zu Eve, die ihn erwartet. Stellt man die Frage, wie es zu dieser Liebe hat kommen können, die beider Leben grundstürzend verwandelt, erhält man die bezeichnende Antwort: im Jenseits, wo es keine sozialen Unterschiede und keine moralischen Verpflichtungen gibt. Die realzeitlich zu denkende Anfangsphase dieser Liebe hat die Konstruktion der Handlung weggeblendet. Gerade diese Anfangsphase aber hätte bereits die Frage gestellt und in psychologisch glaubhafter Weise beantworten müssen, ob zwischen dem Arbeiterführer und der jungen Frau aus der Großbourgeoisie Liebe möglich ist, ohne dass die Liebenden ihre moralische Integrität und personale Identität verlieren. Die Manipulation der dramatischen Zeit verlegt die Beantwortung dieser Frage, auf Kosten der psychologischen Wahrscheinlichkeit, in den herausgehobenen Augenblick einer Entscheidung. Zurückkehrend zu Les Mains sales ist das Fazit zu ziehen: Der Zuschauer hat hinzunehmen, dass sich Hugo am Ende des Dramas in einer Situation befindet, die brüsk eine alternative Entscheidung verlangt, - und nicht am Ende einer vollständig überschaubaren seelischen Entwicklung. So hat die These des Stücks, dass ein Mensch wie Hugo seine Identität durch einen Akt der Wahl setzt, ihren Halt zwar in dem, was die Handlung vor Augen bringt. Was auf der Bühne geschieht, hat jedoch nur scheinbar die Überzeugungskraft der beobachtbaren Lebenswirklichkeit. Bei genauerer Betrachtung gibt sich die vom Stück präsentierte Lebenswirklichkeit als eine vom Autor arrangierte zu erkennen. Nur mithilfe einer Dramaturgie der unterschlagenen Zeit, so muss man folgern, konnte Sartre für den Akt der Wahl den suggestiv überzeugenden dramatischen Raum gewinnen. 1 Jean-Paul Sartre, Les mains sales. Pièce en sept tableaux, Paris, Gallimard, 1948. - Wenn aus einer Szene mehrere Zitate entnommen sind, wird nur das erste Zitat mit der Angabe von Akt und Szene belegt. 2 Dorothy McCall beschränkt sich in ihrer immer noch sehr lesenswerten Interpretation auf die Feststellung: „Sartre does not try to maintain the action within the inevitably partial 120 Arts & Lettres perspective of Hugo’s narration. The flashback that makes up most of the play dramatizes the events - including the two private meetings of Hoederer and Jessica - leading up to Hoederer’s assassination.“ (The Theatre of Jean-Paul Sartre, New York/ London, 1969, 53f.) Robert Lorris vergleicht die Rückblende mit einer epischen Rückwendung: “Une pièce dans la pièce, voilà ce que sera le corps du drame, mais non vue, comme pourrait l’être une histoire racontée dans un roman, à travers le point de vue du narrateur, car aucun commentaire ne sera fait, aucun récitant n’interviendra.” (Sartre dramaturge, Paris, Nizet, 1975, 153) Deckungsgleichheit unterstellt die Formulierung von Volker Sabin: “Wir werden - in den Bildern II bis VI - selbst Zeugen der Ereignisse, die Hugo berichtet.” (Jean-Paul Sartre: Die schmutzigen Hände, Frankfurt/ M., 1976, 30) In der Monographie von Françoise Bagot und Michel Kail wird die Rückblende mit dem Satz charakterisiert: „Hugo revit [! ] les événements qui, deux ans plus tôt, ont provoqué son arrestation.“ (Jean-Paul Sartre, Les Mains sales, Paris, PUF, 1985, 8) Dem problematischen Kern des Befundes nähert sich der Kommentar von Marc Buffat: „Hugo raconte donc à Olga la façon dont il a tué Hoederer. Mais au lieu d’un récit, nous avons une représentation théâtrale (le procédé est celui du théâtre dans le théâtre). Quelle différence? Les réactions, interventions et commentaires du narrateur et de son auditrice sont bien sûr exclus. Mais le plus important est peut-être que, au lieu d’être narrée, l’histoire est, comme le dit Aristote voulant différencier les modes narratif et dramatique, ‘agie’“. (‘Les mains sales’ de Jean-Paul Sartre, Paris, Gallimard, 1991, 139-140.) Der Perspektivenwechsel bleibt unerwähnt in der Interpretation von Benedict O’Donhoe (Sartre’s Theatre: Acts for Life, Oxford etc, Peter Lang, 2005; vgl. 117-136.) Das gilt auch für den Beitrag von Brigitta Coenen-Mennemeier: „Das Theater als moralische Anstalt: Jean-Paul Sartre, Les Mains Sales (1948) und Albert Camus, Les Justes (1949)“, in: Henning Krauß (ed.): Stauffenberg Interpretation. Französische Literatur, Konrad Schoell (ed.): 20. Jahrhundert, Theater, Tübingen, 2006: 151-200. 3 Es wäre dies eine Einsamkeit von gänzlich anderer Natur als die eines Mannes wie Hoederer, der eine für viele Menschen folgenreiche Entscheidung gefällt hat, ohne völlig sicher sein zu können, dass es die richtige war. Unter dem Druck dieser Einsamkeit sucht Hoederer das junge Paar auf (V, 3); und wie stets, erweist sich Jessica auch hier als verlässliche Beobachterin: „vous aviez l’air tellement seul.“ (VI,1) 4 Jean-Paul Sartre, Les jeux sont faits, Paris, Nagel, 1947. Résumé: Dieter Steland, Dramaturgie du temps supprimé. Une interprétation des Mains sales de Sartre propose une réflexion sur le fait que le flashback des Tableaux II à VI ne renseigne pas sur le récit de Hugo. Schématiquement parlant, Hugo se présente à Olga d’une part comme un inculpé devant son juge et d’autre part comme un patient en face de son psychothérapeute. Or, l’intervention du dramaturge omniscient au moment du retour en arrière supprime le temps vécu par les deux personnages et dérobe ainsi aux yeux du spectateur l’inculpé/ patient voulant se „réveiller“ en racontant son histoire. Mettant en relief la chance de se „réveiller“ et d’être „récupéré“ qui est offerte à Hugo par Hoederer, l’interprétation du drame aboutit à la conclusion que Sartre, en négligeant la cohérence psychologique du protagoniste, a recours, tout comme dans Les Jeux sont faits, à une dramaturgie du temps supprimé pour réserver à l’acte du „choix“ un seul moment brusque et spectaculaire.