eJournals lendemains 37/148

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Narr Verlag Tübingen
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Ansprache von Botschafter Maurice Gourdault-Montagne anlässlich des 49. Historikertags Mainz, den 25. September 2012

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126 Actuelles zung sämtlicher innovativer Projekte zur Förderung der Frankoromanistik an den deutschen Hochschulen betont wird. Kurzum: Wir reichen Ihnen die Hand, denn wir sind uns Ihres Beitrags durchaus bewusst, und wir wissen, dass es in unserem gemeinsamen Interesse liegt, unsere Kooperation voranzutreiben. Die Romanisten und alle Vertreter Frankreichs in Deutschland haben einen gemeinsamen Auftrag, man könnte sagen: den Auftrag, Heinrich Heine Recht zu geben. Auch wir dürfen sagen: „Es ist unser Amt“. Es ist freilich ein schwieriges Amt, aber ich bin zuversichtlich, dass unser Fleiß und unser Einsatz diesem Amt gerecht werden. Es ist auch ein langfristiges Amt. Der 50. Jahrestag des Freundschaftsvertrages ist eine Gelegenheit, die wir nicht versäumen dürfen. Ich weiß, dass ich mich dafür auf Sie alle verlassen kann, namentlich auch auf unsere beiden Preisträger Andrea Stahl und Christian van Treek. Ihnen noch einmal herzlichen Glückwunsch! Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. Ansprache von Botschafter Maurice Gourdault-Montagne anlässlich des 49. Historikertags Mainz, den 25. September 2012 Sehr geehrter Herr Präsident des Bundesverfassungsgerichts, sehr geehrter Herr Ministerpräsident, lieber Herr Beck, Magnifizenz, sehr geehrter Herr Professor Plumpe, sehr geehrter Herr Dr. Lautzas, sehr geehrter Herr Oberbürgermeister, meine sehr verehrten Damen und Herren, als Vertreter Frankreichs das Wort vor einer wissenschaftlichen Versammlung zu ergreifen, die seit mehr als hundert Jahren mit Spitzenleistungen der deutschen geisteswissenschaftlichen Tradition verbunden ist, ist für mich nicht nur eine große Ehre und eine persönliche Freude, sondern auch eine Herausforderung. Ich möchte mich daher zunächst bei Ihnen für diese Einladung recht herzlich bedanken. Zum ersten Mal in der Geschichte dieses Kongresses hat der Deutsche Historikerverband beschlossen, Frankreich als Partnerland auszuwählen. Diese Entscheidung gewinnt eine besondere Relevanz vor dem doppelten Hintergrund des 50. Jubiläums der institutionellen Aussöhnung und Annäherung unserer beiden Länder und der derzeitigen Überlegungen über eine neue Phase der europäischen Integration. Ich bin der festen Überzeugung, dass die Politik und die Regierungen 127 Actuelles viel von der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Vergangenheit zu lernen haben. Politik lebt gerade von der Vergangenheit und von dem Bezug auf die Geschichte, aber ein verantwortungsvolles Handeln setzt auch voraus, dass diese Geschichte mehr als ein vorkonzipierter Mythos ist. Es geht in der Politik darum, wie die Dinge eigentlich sind und - wenn man die unverzichtbare historische Tiefe der Politik mit einbezieht - „wie sie eigentlich gewesen“ sind. Das geflügelte Wort von Ranke, „zeigen, wie es eigentlich gewesen“, war zwar als Abgrenzung vom Pathos der Geschichte als „Weltgericht“ gemeint, aber für mich soll das natürlich nicht heißen, dass die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Vergangenheit uns nichts zu sagen hat. Im Gegenteil: Sie ist eine Ermahnung zu Wahrheit und Nüchternheit, wie wir sie immer brauchen. Ja, die Geschichtswissenschaft hat der Politik viel zu sagen. So sind die deutsch-französischen Beziehungen selber Gegenstand historischer Reflexion. Dafür sorgen Orte und Daten. Orte, wie zum Beispiel die Stadt Mainz, die Heimatstadt Georg Forsters, dieses großen Freunds Frankreichs, sowie die Hauptstadt der ersten Republik auf deutschem Boden zur Zeit der französischen Revolution. Eine Stadt also, die stets enge Beziehungen zu Frankreich unterhielt. Die Daten, von denen ich sprach, das sind etwa die von Ereignissen, derer wir in den kommenden Monaten gedenken wollen: Es handelt sich um das 50. Jubiläum der deutsch-französischen Aussöhnung, sowie um 200 Jahre Völkerschlacht und Befreiungskriege; aber auch der 100. Jahrestag des Ausbruchs des Ersten Weltkrieges nähert sich. Das Aufeinandertreffen dieser Jubiläen versetzt ins Staunen: Es gab einmal etwas, das wie ein Schicksal aussah, ein Schicksal des Zwistes und des Zerwürfnisses. Und plötzlich gibt es ein anderes Schicksal, ein Schicksal der Annäherung und der Zusammenarbeit. Aber nein! Es gibt kein Schicksal, es gibt nur Geschichte. Politik besteht in der Überwindung des vermeintlichen Schicksals, und diese Überwindung erfolgt durch Prozesse, die Gegenstand der Geschichtswissenschaft ist. Hier liegt also die Solidarität von Geschichtsschreibung und Politik: Es geht um eine Kenntnis, auch um eine Selbstkenntnis, ohne welche Politik unmöglich ist. Die offizielle Aussöhnung und Annäherung auf zwischenstaatlicher Ebene hätte nicht Epoche gemacht, wenn sie sich nicht auf zahlreiche zivilgesellschaftliche Initiativen hätte stützen können, und wenn ihr nicht eine jahrhundertealte Kulturaffinität zugrunde gelegen hätte, die Gegenstand der Geschichtswissenschaft sind. Die Geschichte macht die Tiefe, und diese Tiefe ist auch die Grundlage für ein erfolgreiches zukünftiges Handeln. „Die Gegenwart ist breit, Vergangenheit tief. Warum sollten wir immer nur in die Breite gehen? “ fragte Hugo von Hofmannsthal. Dem möchte man hinzufügen: Es gibt Tiefen, die verwirren. Politik und Geschichte teilen den Anspruch auf eine Tiefe, die methodisch, ja akribisch erforscht wird. Heute gewinnt die Beziehung, die vor 50 Jahren offiziell begründet wurde, selber diese Tiefe, die sie zum Bestandteil unserer geschichtlichen Erfahrung macht. Sie gehört nicht mehr der Politik, sie gehört Ihnen, sie gehört den Historikern! Denn die Ge- 128 Actuelles schichte der deutsch-französischen Beziehung ist ein Bestandteil dieser Beziehung selbst. Die Geschichtswissenschaft steht nicht am Rande des Geschehens, sie ist Teil der von ihr beschriebenen Prozesse. Die deutsche Tradition der Geschichtsschreibung und die französische gehen zwar auf unterschiedliche Erfahrungen, Modelle und Strukturen zurück. Insgesamt aber sind trotz zeitweiliger Akzentverschiebungen deutliche Parallelen zu erkennen, die u. a. auf Kultur- und Wissenstransfers zwischen unseren beiden Ländern zurückzuführen sind. Die Geschichtsschreibung ist also ein gutes Beispiel für das typisch deutsch-französische Hin und Her zwischen Unterschied und Affinität. Folglich ist sie auch in die gesellschaftlichen Prozessen um die deutsch-französische Annäherung verwickelt! Diese Tagung beweist das, und ich freue mich, dass sowohl das Institut Français als auch das Institut Français d’Histoire en Allemagne unter der Leitung von Prof. Monnet an der Organisation dieses Kongresses beteiligt waren! Das Engagement solcher Institutionen ist ein starkes Zeichen für unsere Überzeugung, dass ein gemeinsamer geistiger Raum für die Historiker beider Länder unverzichtbar ist. Dass 2006 daraus ein gemeinsames Geschichtsbuch entstanden ist, ist eine Errungenschaft, auf die wir alle stolz sein dürfen. Dieses Buch ist ein Modell für alle Völker, die ihre gemeinsame, oft schmerzliche Vergangenheit verarbeiten und die Ergebnisse dieser Arbeit an die Öffentlichkeit bringen wollen. Das gehört zu den Leistungen, die das deutsch-französische Gespann Europa und der ganzen Welt anzubieten hat. Ich bin daher froh, dass der Verband der Geschichtslehrer Deutschlands am Historikertag beteiligt ist, denn unsere gemeinsame Arbeit muss aus den Hörsälen hinaus nach Europa und in die weite Welt getragen werden; und das wird als erstes durch den Schulunterricht geschehen! Wir stehen vor wichtigen Entscheidungen für die Beziehungen zwischen unseren Ländern und für Europa. Hier ist die deutsche Geschichtswissenschaft gefragt! Wir brauchen eine freie Wissenschaft, um uns selbst und um die anderen besser zu kennen. Wir brauchen eine freie Wissenschaft, die Raum fürs gemeinsame Denken jenseits der nationalen Grenzen schafft. Wir brauchen eine deutsche und eine französische Geschichtswissenschaft, die gemeinsam nachweisen, was wir Europa und der Welt zu bieten haben: eine schonungslose, vorurteilsfreie Auseinandersetzung mit den Grundlagen unseres heutigen Handelns. Gewiss, unsere Geschichte unterscheidet sich. So auch unsere Geschichtswissenschaften. Eben deshalb müssen sie lernen, in der Zukunft zusammenzuwachsen. Und wenn man ein Motto dazu braucht, dann eignet sich wohl der Wahlspruch der Universität Mainz besonders gut: Ut omnes unum sint, „damit alle eins seien“. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.