eJournals lendemains 37/148

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Narr Verlag Tübingen
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2012
37148

Albert Camus, Algerien und der Algerienkrieg

2012
Clemens A. Wurm
ldm371480091
91 Arts & Lettres Clemens A. Wurm Albert Camus, Algerien und der Algerienkrieg * Albert Camus hat das intellektuelle Leben Frankreichs und der Welt im 20. Jahrhundert stark geprägt. Die Beurteilung seines Werkes ist freilich starken Schwankungen ausgesetzt gewesen. Im Zentrum der Auseinandersetzungen stand die „algerische Dimension“ seiner Schriften. Von seinen Kritikern wurde Camus als „Rassist“, „Kolonialist“ oder „Imperialist“, bestenfalls als „colonisateur de bonne volonté“ betrachtet. Besonders umstritten ist seine Einstellung im Algerienkrieg, der die letzten Jahre seines Lebens überschattete. Im Algerienkrieg, so der Vorwurf, habe Camus seine Grundsätze verraten, habe seine Humanität sich als hohle Rhetorik, der Humanist sich als pied-noir entlarvt. 1 Der folgende Aufsatz will die Haltung Camus’ zu Algerien und zum Algerienkrieg darstellen und analysieren. Er stützt sich hauptsächlich auf die Artikelserien, die Camus für verschiedene Zeitungen zu Algerien verfasst hat. 2 Camus war nicht nur Schriftsteller, sondern auch ein, spätestens zum Ausgang des Zweiten Weltkrieges, berühmter Journalist. Erstaunlicherweise haben seine Artikel, insbesondere die zum Algerienkrieg, bislang nicht die gebührende Aufmerksamkeit gefunden. Der Aufsatz ist folgendermaßen gegliedert. Nach einführenden Darlegungen zum Hintergrund (I) werden die Artikel analysiert, die Camus im Sommer 1939 für den Alger républicain über die „Misère de la Kabylie“ verfasst hat (II). Im folgenden Abschnitt (III) erläutere ich die mit „Crise en l’Algérie“ betitelte Artikelserie in Combat vom Mai/ Juni 1945, bevor (IV) seine Beiträge in L’Express von Juli 1955 bis Februar 1956 untersucht werden, in denen es hauptsächlich um den Algerienkrieg, den von ihm unterbreiteten Vorschlag einer „trêve civile“ und die Frage eines von Frankreich unabhängigen Algerien ging. Der Aufsatz schließt mit einem kurzen Resümee (V). I Albert Camus wurde 1913 in Mondovi in der Nähe von Bône geboren als Sohn einer spanischen Mutter und eines französischen bei einem Weinhändler beschäftigten Vaters. Sein Vater starb bereits im Oktober 1914 an seinen in der (ersten) Marneschlacht erlittenen Verletzungen. Camus wuchs auf in Belcourt, einem Arbeiterviertel von Algier, wohin die Mutter nach dem Tod ihres Mannes umgezogen war. Seine Familie gehörte zur Kategorie der „petits Blancs“, die wenn nicht im Elend, so doch in Armut und einfachen Verhältnissen lebten. Camus war Algerier. Zu einer Zeit, als es noch keine algerische Staatsbürgerschaft gab, bedeutet dies, dass * Für Elke 92 Arts & Lettres er ein „Français d’Algérie“ war. In der Sprache der Zeit schloss das die indigene Bevölkerung aus. Man war Algerier wie man Bretone oder Burgunder war. Der heute gängige Ausdruck „Algérie française“ setzte sich erst ab Mitte der 1950er Jahre durch, zu einem Zeitpunkt also, als er problematisch wurde. Vor 1954 musste er tautologisch erscheinen. Der Terminus „pieds-noirs“, wie man heute zumeist die Algerien-Franzosen nennt, verbreitete sich noch später. Von Camus (er kam am 4. Januar 1960 bei einem Autounfall ums Leben) wurde er nie benutzt. Obwohl Albert Camus ab 1942 hauptsächlich in Frankreich lebte, hat er Zeit seines Lebens eine enge, unverbrüchliche Bindung an Algerien gehabt und das Land regelmäßig besucht. In nahezu all seinen Schriften ist Algerien direkt oder indirekt präsent. „Je n’ai jamais rien écrit“, bemerkte er vor der Verleihung des Nobelpreises im Herbst 1957, „qui ne se rattache, de près ou de loin, à la terre où je suis né. C’est à elle, et à son malheur, que vont toutes mes pensées.“ 3 Für ihn war Algerien, in seinen eigenen Worten, „la terre du bonheur, de l’énergie et de la création“. 4 In seinen Reden und Schriften hat er Algerien wiederholt als seine „vraie patrie“ bezeichnet. Camus hat sich als Algerier gefühlt und das Land „leidenschaftlich“ geliebt. In Paris hingegen hat er sich wie im „Exil“, jedenfalls nie heimisch, gefühlt. 5 Er liebte die Sonne, das Licht, das Meer Algeriens. Algerien erscheint in seinem Werk als mediterranes Land von natürlicher Schönheit und Wärme, das seinen Bewohnern zeitweilig die Unterdrückungen, die Armut und die Demütigungen der alltäglichen Diskriminierung vergessen lassen kann und wo die Bewohner hart gegen Geographie und Klima ankämpfen müssen. Die riesigen Gebiete des Landesinneren, der algerischen Wüste, werden in seinen Werken gegensätzlich dargestellt. Sie erscheinen einerseits als klimatische und soziopolitische Hölle (Le renégat) oder aber (La femme adultère, L’hôte) als Raum grenzenloser Freiheit, ein offener, nur von Nomaden bewohnter Raum, den „(Feudal-)Herren“ eines majestätischen „Königreiches“ („royaume“). Daru, die Hauptfigur von L’hôte, kann sich nicht vorstellen, anderswo als am Rande der algerischen Wüste leben zu können. Die Stellung Algeriens innerhalb des französischen Kolonialreiches unterschied sich grundlegend von derjenigen der übrigen Besitzungen Frankreichs. Algerien, ab 1830 in mehreren Schritten von Frankreich erobert, war ab 1848 integraler Bestandteil des französischen Territoriums, mithin im strikten Sinne keine Kolonie, obwohl es wie eine Kolonie regiert wurde. Berühmt geworden ist das Diktum des damaligen Innenministers François Mitterrand vom November 1954: „L’Algérie, c’est la France“. Beherrscht wurde Algerien von einer Oligarchie sehr großer Vermögen, die ihre Interessen ganz Algerien und den französischen Regierungen - jedenfalls bis zum Machtantritt de Gaulles - aufzuerlegen vermochte. Algerien war aufgeteilt in drei Départements und unterstand dem Innenministerium in Paris, nicht dem Kolonialministerium (wie die Kolonien) oder dem Außenministerium (wie die Protektorate, z. B. Tunesien oder Marokko). Im Hinblick auf die republikanischen Gesetze hat Camus Algerien als „monstre juridique“ bezeichnet. 6 Einen Sonderfall stellte Algerien auch insofern dar, als es die einzige „Siedlungskolonie“ Frankreichs war. Im Jahre 1954, zu Beginn des Algerienkrieges, belief sich die europäische Bevölke- 93 Arts & Lettres rung Algeriens (Franzosen, aber auch Italiener, Spanier, Malteken…) auf knapp über 1 Million, die Anzahl der Muslime auf etwa 8.500.000. Es gab zu jener Zeit etwa 130.000 Juden in Algerien. Die Europäer wurden auch „colons“ genannt, nicht selten in pejorativer oder anklagender Absicht. Im Unterschied zu einer verbreiteten Auffassung stellten die „echten“ oder tatsächlichen Siedler („colons“) aber nur eine Minderheit der europäischen Bevölkerung dar. Nach einer zeitgenössischen Untersuchung von Germaine Tillion gab es etwa 12.000 „‘vrais’ colons (…) dont 300 sont riches et une dizaine excessivement riches“. Mit ihren Familien bildeten diese 12.000 „colons“ eine Bevölkerung von ungefähr 45.000 Personen. Die übrigen „colons“ - also etwa 1 Million Menschen - waren Arbeiter, Handwerker, Lehrer, Ärzte, Anwälte, etc. 7 Camus hat wiederholt auf diesen Sachverhalt hingewiesen - „80% des Français d’Algérie ne sont pas des colons mais des salariés ou des commerçants“ - und sich gegen verzerrende Darstellungen in der französischen Presse gewandt: „A lire une certaine presse, il semblerait vraiment que l’Algérie soit peuplée d’un million de colons à cravache et à cigare, montés sur Cadillac.“ 8 Für Sartre freilich waren alle Europäer durch den Kolonialismus geformte „colons“: summarisch und apodiktisch sprach er 1956 von „(…) un million de colons, fils et petits-fils de colons qui ont été modelés par le colonialisme et qui pensent, parlent et agissent selon les principes du système colonial“. 9 Camus sprach kein Arabisch, und trotz seines Respekts für die arabische Kultur kannte er diese nicht. Wie seine europäischen Zeitgenossen lebte er weitgehend getrennt von der arabischen Gemeinschaft. Kontinuierliche Beziehungen zu Arabern (in der Sprache der Zeit meinte dies in der Regel die gesamte nicht-jüdische indigene Bevölkerung, schloss also die Kabylen ein 10 ) hatte er nicht. Es gab gewichtige Ausnahmen. 11 In seiner Jugend ab 1929 war Camus - ein hervorragender - Torwart der Fußballmannschaft Racing Universitaire d’Alger (RUA). Er war bald der führende Kopf der „communauté algérienne des écrivains“, einer auf persönlichen Freundschaften beruhenden Gruppe französischer und algerischer (arabischer oder kabylischer) Schriftsteller, der neben Camus u. a. Jean Amrouche und Mouloud Feraoun angehörten, und die sich im Algerienkrieg über die Frage der Haltung zum Krieg und zur algerischen Unabhängigkeit entzweite. 12 Camus pflegte auch nach seiner Übersiedlung nach Frankreich die Beziehungen nach Algerien, besuchte dort regelmäßig seine Freunde und Angehörigen (seine Mutter lehnte es trotz des Drängens seines Sohnes auch im Algerienkrieg ab, nach Frankreich überzusiedeln) und war Anlaufstelle und Türöffner algerischer Intellektueller oder Schriftsteller bei deren Besuch in Paris. Wiederholt setzte sich Camus für die Belange von Arabern und Kabylen ein, die Opfer der Justiz geworden waren. Mit Einschränkungen reflektierten sein Umgang und Lebensstil Merkmale der algerischen Gesellschaft seiner Zeit. „Au-delà de relations interpersonnelles sincèrement amicales, deux sociétés vivaient côte à côte, dans l’inégalité. (…) Ce fut une société coloniale fermée de deux groupes humains inégaux dans leurs statuts juridiques, dans leurs droits politiques, dans leurs professions et dans leurs revenus; deux groupes humains à l’identité, aux pratiques sociales et culturelles différentes. C’est 94 Arts & Lettres cette réalité, celle d’une Algérie française aux fondements précaires, qui est à la source de la guerre.“ 13 Hinzuzufügen ist, dass Camus’ Familie wie viele Europäer in sehr bescheidenen Verhältnissen lebte. Das Einkommen der ganz überwiegenden Mehrzahl der europäischen Bevölkerung Algeriens lag höher als das der Araber, aber unter dem Durchschnitt der Bevölkerung Frankreichs. 14 II Camus’ Sicht auf Algerien und auf das algerische Problem wurde, das ist für das Thema des Aufsatzes wichtig, weit vor dem Algerienkrieg entwickelt, als dieser im November 1954 einsetzte. Sie resultierte hauptsächlich aus seiner Beobachtung der Ungerechtigkeiten und der Unterdrückungen, wie sie sich im Algerien der Zwischenkriegszeit manifestierten. Camus schloss sich 1935 der kommunistischen Partei an, aus der er 1937 ausgeschlossen wurde. Der Hauptgrund für den Parteiausschluss war - im Rahmen des Themas dieses Artikels nicht ganz unbedeutend -, dass Camus die vom Zentralkomitee aus taktischen Gründen (Volksfront in Frankreich, Unterstützung der Politik der nationalen Verteidigung der französischen Regierung) beschlossene Abkehr vom Antikolonialismus und Antimilitarismus nicht billigte. Wegen ihres Antikolonialismus aber war Camus der Partei hauptsächlich beigetreten. Vom 5. bis 15. Juni 1939 veröffentlichte er im sozialistischen, von Pascal Pia geleiteten Alger républicain eine Artikelserie unter dem Titel „Misère de la Kabylie“. Bei der Kabylei handelt es sich um eine bevölkerungsreiche, im Norden Algeriens an der Mittelmeerküste östlich von Algier gelegene Bergregion, mit Tizi-Ouzou als Zentrum. Die Kabylei war wiederholt Gegenstand von Reportagen und Informationskampagnen, die vor allem ihre touristischen und folkloristischen Vorzüge herausstellten, die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Realitäten aber unterschlugen. Ende der 30er Jahre machte die Kabylei eine schwere wirtschaftliche Krise durch. Pascal Pia und Camus ging es darum, ein realistischeres Bild von der Situation in der Region zu vermitteln. In den Artikeln beschrieb Camus Ursachen und Umfang der Armut der kabylischen Bevölkerung und entwickelte Vorschläge zu deren Behebung. Nach Annie Cohen-Solal zählen die Artikel zu den „témoignages les plus sérieux et les plus documentés sur la réalité algérienne de l’époque“. 15 In eindringlichen Worten schilderte Camus die Hungersnot: „(…) j’ai vu (…) des enfants en loques disputer à des chiens kabyles le contenu d’une poubelle“; er gewahrte „(…) un peuple qui vit d’herbes et de racines“. 16 Er geißelte die Unfähigkeit der Kolonialverwaltung, den Mangel an medizinischer Versorgung („Un médecin pour 60 000 habitants“), den Skandal bei der Verteilung öffentlicher Gelder oder die „einzig und allein auf die Ausbeutung“ zurückzuführenden niedrigen Löhne. 17 Bewegend, auch den heutigen Leser berührend und ohne moralische Empörung (daher umso eindringlicher und anrührender) beschreibt er die katastrophalen Lebens- und Wohnverhältnisse einer kabylischen Familie. Camus’ Worte sollen in einem längeren Auszug wiedergegeben werden: „Il est difficile de se faire une idée des conditions dans lesquelles 95 Arts & Lettres vivent les Kabyles si l’on n’a pas visité leurs villages. […] C’était à Adni. J’avais pu pénétrer dans l’un des gourbis les plus misérables. Dans une pièce obscure et enfumée, deux femmes, dont une très âgée et l’autre enceinte, m’avaient reçu. Trois enfants me regardaient avec étonnement. Dans la terre battue du sol, à hauteur de la porte, une rigole était creusée, par laquelle s’écoulaient l’urine des bêtes et les eaux grasses de la maison. Je n’apercevais pas un seul meuble. Seules, quand mes yeux se furent habitués à l’obscurité, trois grandes jattes d’argile blanche et deux écuelles de terre attestaient que des êtres humains vivaient là. Et dans cette lumière rare, ces odeurs animales et cette fumée qui prenait à la gorge, jamais le visage de la misère ne m’avait paru plus désespérant. Je dois dire que je n’étais pas fier. Je n’avais pas envie de poser des questions. Mais j’ai pourtant demandé à la plus jeune des femmes qui soutenait son ventre énorme de ses deux mains: ‘Où couchez-vous? ’ Elle m’a répondu ‘là’ en désignant à mes pieds le sol nu, près de la rigole d’urine.“ 18 Camus wandte sich gegen die verbreitete Vorstellung, die Not sei auf die kabylische „Mentalität“ zurückzuführen. „Il est méprisable de dire que ce peuple n’a pas les mêmes besoins que nous. (…) Il est curieux de voir comment les qualités d’un peuple peuvent servir à justifier l’abaissement où on le tient et comment la sobriété proverbiale du paysan kabyle peut légitimer la faim qui le ronge.“ 19 Er machte Vorschläge zum Ausbau der kommunalen Selbstverwaltung - als Schritt hin zur allmählichen Emanzipation und Demokratisierung der kabylischen Bevölkerung. 20 Große Aufmerksamkeit widmete er Unterricht und Bildung. Er beklagt den Mangel an Schulen - von 1892 bis 1912 seien überhaupt keine Schulen gebaut worden -, die geringe Einschulungsquote der kabylischen Kinder, 21 trat für die Einschulung von Mädchen ein und wandte sich gegen die 1892 eingeführte Trennung des Unterrichts von europäischen und indigenen Kindern. Dieser Punkt war ihm wichtig. „En tout cas, si on veut vraiment d’une assimilation, et que ce peuple si digne soit français, il ne faut pas commencer par le séparer des Français.“ 22 Wege zur Behebung der Arbeitslosigkeit sah er in öffentlichen Arbeiten, einer Generalisierung der Berufsausbildung und organisierter Auswanderung. Er entwickelte Vorschläge für eine Verbesserung der landwirtschaftlichen Produktions- und Anbaumethoden und plädierte mit Nachdruck für die „mise en valeur de la Kabylie par les Kabyles eux-mêmes et le retour de ces paysans à la dignité par un travail utile et justement payé. (…) N’attendons pas cette æuvre des colons“. 23 Unterstützung in dieser Richtung erwartete er von der Metropole. Nur von daher auch ließ sich seiner Meinung nach die koloniale Eroberung überhaupt rechtfertigen bzw. „entschuldigen“: „(…) si la conquête coloniale pouvait jamais trouver une excuse, c’est dans la mesure où elle aide les peuples conquis à garder leur personnalité. Et si nous avons un devoir en ce pays, il est de permettre à l’une des populations les plus fières et les plus humaines en ce monde de rester fidèle à elle-même et à son destin.“ 24 In seinen durchgehend fundierten, von sorgfältiger Investigation zeugenden Artikeln forderte Camus Gerechtigkeit und umfassende Reformen. Er argumentierte vornehmlich (aber keineswegs ausschließlich) in ökonomischen Kategorien. Ange- 96 Arts & Lettres siedelt zwischen Reportage, Bericht und Essay, geben die Artikel nicht nur ein Zeugnis wieder, sondern liefern auch eine Analyse: das Elend der Kabylen hat Camus zufolge hauptsächlich wirtschaftliche und soziale Ursachen. 25 An keiner Stelle greift er das Kolonialsystem als solches oder das Prinzip des Kolonialismus an: Er geißelt Verwerfungen und Missstände, die es hervorgebracht hat. Der Ton ist gemäßigt, die Anklage aber unerbittlich. Als entschiedener Reformer sucht er die Not der Kabylen zu verstehen, Aufmerksamkeit und Verständnis für ihr Leid zu wecken und gangbare Vorschläge zu entwickeln. „Utopische Systeme“ und „unausführbare Lösungsvorschläge“ hält er für nicht hilfreich. 26 Die Artikel verdeutlichen, dass Camus die Politik der Assimilation - offizielle Doktrin, Ziel und zentraler Rechtfertigungsgrund der „mission civilisatrice“ Frankreichs in den Kolonien - ernst nahm, an sie glaubte und zu jener Zeit (noch) annahm, dass sie eine Chance hätte. 27 Er hatte 1937 den - gescheiterten - Blum-Viollette-Plan unterstützt, der vorsah, einem Teil der algerischen Elite (ca. 20.000) die französische Staatsbürgerschaft und die Ausübung der entsprechenden politischen Rechte bei Beibehaltung des „statut personnel“, d.h. der Gebräuche und der Religion auf der Grundlage des Koran, zu gewähren. 28 Camus hatte zu den Initiatoren des „Manifeste des intellectuels d’Algérie en faveur du projet Viollette“ gehört. Einiges deutet darauf hin, dass Camus’ Artikel nicht ohne Beachtung geblieben sind. Ungeachtet der niedrigen Auflage des Alger républicain habe seine Untersuchung, so Macha Séry, „grand bruit“ verursacht. 29 Am 27. Mai hatte das Blatt im Auszug einen Brief Camus’ veröffentlicht, in dem dieser seine ersten Eindrücke von der Situation in der Kabylei schilderte: „Ici la misère est effroyable. Si ce n’était pas ridicule, il faudrait le crier tous les jours dans le journal. Je ne suis pas suspect de sentimentalité. Mais aucun homme de sensibilité moyenne ne peut voir ce que j’ai vu sans être bouleversé.“ 30 Alarmiert, veröffentlichte La Dépêche algérienne vom 8.-17. Juni eine Art Gegenuntersuchung mit dem Titel „Kabylie 39“, die die Schönheit der Region pries und Frankreichs Politik in der Kabylei verteidigte; und nach dem Erscheinen der Artikel Camus’ begab sich der Generalgouverneur in die Kabylei - ob als Folge der Berichte, lässt sich nicht sagen. 31 III Vom 13.-14. Mai bis 15. Juni 1945 veröffentlichte Camus in Combat eine Artikelserie über die „Crise en Algérie“. Camus war zu der Zeit Chefredakteur der während der Résistance gegründeten Zeitung. 32 Er schrieb die Artikel nach einer dreiwöchigen Reise durch Algerien. Mit seinen Untersuchungen wollte er zur Verringerung der „incroyable ignorance de la métropole“ über Nordafrika beitragen, Klischees und Vorurteile abbauen und den Verantwortlichen helfen, die „einzige Politik“ zu entwickeln, die Algerien vor den „pires aventures“ retten könne. 33 Vor dem Eintritt in sein Thema formuliert Camus, dass Algerien eine eigenständige Persönlichkeit besitze, „que l’Algérie existe (…) qu’elle existe en dehors de la France (…) que le peuple arabe existe (…) un peuple de grandes traditions et dont les vertus (…) 97 Arts & Lettres sont parmi les premières.“ Frankreich müsse Algerien, so Camus, „ein zweites Mal erobern“, und nach dem Eindruck, den er aus Algerien mitbringe, „cette deuxième conquête sera moins facile que la première“. 34 Algerien befinde sich in einer wirtschaftlichen und politischen Krise von bislang unbekannter Schärfe, die ihren sichtbarsten Ausdruck in einer großen Hungersnot finde. Seine Argumentation von 1939 aufgreifend, beschreibt er deren Ursachen und Ausmaß. Als Abhilfen verlangt er „une politique d’importation à grande échelle“, eine gerechte Verteilung der Hilfen und ein Ende der - „dans le principe“ und „encore plus dans les faits“ - ungleichen Zuteilung der Hilfsrationen an die indigene und die europäische Bevölkerung. 35 Bei den Ursachen der Hungersnot ging Camus über die Analyse von 1939 hinaus: „(…) à la vérité, le malaise politique est antérieur à la famine“. Auch wenn die Hungersnot überwunden sei, „(…) il nous restera tout à faire. C’est une façon de dire qu’il nous restera à imaginer enfin une politique.“ Frankreich müsse sich entscheiden, ob es Algerien weiterhin als erobertes Land betrachte, dessen Bewohner ohne Rechte in völliger Abhängigkeit von der Metropole bleiben sollten, oder ob es seine demokratischen Prinzipien einen universellen Wert beimesse und sie auf die abhängigen Völker ausdehne. Die Politik der Assimilation sei gerade in Algerien, und dies vor allem bei den „grands colons“, stets auf unerbittliche Feindschaft gestoßen. Als Beleg verweist er auf das Scheitern des Blum-Viollette-Plans. Camus skizziert in seinen Artikeln ein Tableau der politischen Kräfte Algeriens und macht auf die großen Veränderungen aufmerksam, die der Zweite Weltkrieg mit sich gebracht habe. Er erwähnt die Niederlage Frankreichs 1940, den mit der Niederlage verbundenen Niedergang des französischen Prestiges und die Landung der Alliierten in Nordafrika 1942, die, wie der Kriegseinsatz an der Seite der Alliierten, die Araber mit anderen Nationen in Kontakt gebracht und ihnen „le goût de la comparaison“ gegeben habe. Camus führt hier Faktoren an, die auch nach Ansicht der historischen Forschung der Dekolonisation (weltweit) einen großen Schub verliehen haben. 36 Diese Veränderungen, so Camus, seien nicht ohne Auswirkungen auf das Verhältnis der arabischen Bevölkerung zu Frankreich geblieben. Er gibt einen Zeitungsartikel wieder, nach dem 80% der Araber französische Staatsbürger zu werden wünschten. Camus wendet ein: „Je résumerai au contraire l’état actuel (…) en disant qu’ils le désiraient effectivement, mais qu’ils ne le désirent plus. (…) l’opinion arabe (…) est, dans sa majorité, indifférente ou hostile à la politique d’assimilation.“ Er fügt im Nachsatz hinzu: „On ne le regrettera jamais assez.“ Frankreichs Politik in Algerien sei, so Camus,“toujours de vingt ans en retard sur la situation actuelle.“ 37 Als Beleg für seine These verweist er auf Ferhat Abbas. Abbas - „incontestablemet un produit de la culture française (…) esprit cultivé et indépendant“, so Camus - hatte wie die „Jeunes Algériens“ stets die Anwendung der republikanischen Prinzipien von Demokratie und Freiheit in Algerien verlangt, 1936 die Existenz einer algerischen Nation bestritten 38 und für den Blum-Viollette- Plan geworben. Inzwischen hatte er der Politik der Assimilation jedoch den Rücken gekehrt. Mitte der 50er Jahre wird er sich dem FLN (Front de libération nationale) anschließen und von 1958 bis 1961 erster Präsident des Gouvernement provisoire 98 Arts & Lettres de la République algérienne sein. Aufgrund seines Lebensweges ist Ferhat Abbas später von den Anhängern der Sicht der „verpassten Gelegenheiten“ („occasions manquées“) 39 als emblematische Figur des Scheiterns Frankreichs betrachtet worden, durch rechtzeitige Reformen den Algerienkrieg und die späteren Katastrophen zu verhindern. Auch Camus lässt sich dieser Sicht zuordnen, wenn er schreibt, mit dem Scheitern des Blum-Viollette-Plans habe Algerien seine „meilleure chance“ verloren. Später 1958 wird er in den Fälschungen der Ergebnisse der Wahlen zur Algerischen Versammlung von 1948 die entscheidende Zäsur sehen. 40 Abbas und die in der Bewegung „Les Amis du Manifeste et de la liberté“ zusammengeschlossenen Kräfte veröffentlichten im Februar 1943 ein Manifest, in dem sie das Ende des Kolonialismus und die Anerkennung Algeriens als Staat mit eigener Verfassung in einem mit Frankreich verbundenen föderalen System verlangten. 41 Camus gab in seinem Artikel vom 20.-21. Mai 1945 den Inhalt des Manifestes wieder, ohne sich seine Gedanken explizit zu eigen zu machen. 42 Camus’ Artikel in Combat erschienen nach dem Beginn der gewalttätigen Aufstände, die am 8. Mai in Sétif ausbrachen, sich von dort ausbreiteten und etwa 100 Europäern das Leben kosteten. Die französische Repression war unerbittlich. Die Zahl der arabischen Opfer, wie die Ursachen der Revolte bis heute Gegenstand heftiger Kontroversen, ist unklar. Schätzungen reichen von 1.000 bis 45.000 und mehr. Nach Sylvie Thénault dürfte sie sich auf 15.000 bis 20.000, nach Benjamin Stora auf 10.000 bis 15.000 belaufen haben. 43 Die blutigen Ereignisse vom Mai 1945 bewirkten einen tiefen Bruch zwischen den Gemeinschaften Algeriens. Zahlreiche Historiker, wie etwa Mohammed Harbi, sehen in ihnen heute den Ausgangspunkt des neun Jahre später offen ausbrechenden Algerienkrieges. In seinem letzten Artikel vom 15. Juni 1945 ging Camus direkt auf die Massaker von Sétif und Guelma ein, die ein Klima von Entrüstung, Furcht und Feindschaft geschaffen hätten. 44 Er forderte die Ausweitung der von der provisorischen Regierung übernommenen Verordnung des Comité français de la Libération vom März 1944, die die Gewährung der französischen Staatsbürgerschaft an etwa 80.000 Muslime und die Abschaffung von rechtlichen, die Algerier diskriminierenden Sonderbestimmungen vorsah. In einem später nicht in die Veröffentlichung seiner Chroniques algériennes von 1958 aufgenommenen Artikel vom 23. Mai 1945 war Camus weitergegangen. „C’est la justice qui sauvera l’Algérie de la haine“, lautete die programmatische Überschrift des Artikels. Neben der Ausweitung der Verordnung vom März 1944 sah Camus in einer Abschaffung der communes mixtes 45 und der Erweiterung der indigenen Munizipalrechte sowie einer „politique sociale d’égalité“, also einer Ausdehnung der französischen Sozialgesetze auf Algerien, Frankreichs „dernière chance“ in Algerien. 46 Unter Bezug auf eine Broschüre von Ferhat Abbas klagte er Europa scharf an und gab er angesichts der Repression in Nordafrika seiner Überzeugung Ausdruck „que le temps des impérialismes occidentaux est passé“. 47 99 Arts & Lettres IV Zwischen Mai 1955 und Februar 1956 veröffentlichte Albert Camus in der von Jean-Jacques Servan-Schreiber 1953 gegründeten Wochenzeitung L’Express vierunddreißig Artikel. 48 Das Blatt stand der nicht-marxistischen Linken nahe und setzte sich für die politische, wirtschaftliche und soziale Modernisierung Frankreichs ein. In L’Express schrieben eine Reihe bekannter Persönlichkeiten: Schriftsteller wie François Mauriac, Fachleute und Universitätsprofessoren wie Alfred Grosser oder Maurice Duverger, Politiker wie Pierre Mendès France und François Mitterrand. L’Express unterstützte offen die Reformbestrebungen von Pierre Mendès France („mendésisme“) und warb für dessen Rückkehr zur Macht. Als „pigiste de luxe“ 49 konnte Camus seine Themen frei wählen. Dreizehn seiner vierunddreißig Artikel waren der Situation in Algerien gewidmet; in zwei weiteren Artikeln beschäftigte er sich mit der Lage und den Diskriminierungen algerischer Arbeiter in Frankreich. Mithin war nahezu die Hälfte seiner Artikel in L’Express in der einen oder anderen Form direkt dem Algerienproblem gewidmet. Eine andere Serie seiner Beiträge behandelte die politische Situation in Frankreich. Im Unterschied zu den Artikelfolgen im Alger républicain und in Combat handelte es sich bei seinen Beiträgen zum Express nicht um Reportagen, sondern um meinungsbildende Artikel und Analysen. Camus wollte auf die französische Algerienpolitik konkret Einfluss nehmen. Bei den Kammerwahlen vom 2. Januar 1956 stimmte er (wie die gesamte Redaktion des Express) für Pierre Mendès France und den von ihm geführten Bloc républicain. Seine Wahlentscheidung begründete er in einem längeren Artikel vom 30. Dezember 1955 gerade auch mit der Algerienfrage. 50 Er hoffte, dass eine von Mendès France geleitete Regierung die Bedingungen für einen Politikwandel in Algerien verbessern würde. Am 1. November 1954 begann, mit einer gleichzeitigen Erhebung an mehreren Orten Algeriens, der Algerienkrieg. 51 Der Krieg - eine Folge des Kolonialismus mit seinen Ungleichheiten und des Willens der Algerier, die „koloniale Situation“ (Georges Balandier) zu beenden - kann als Abfolge ideologischer Radikalisierungen und eskalierender Gewalt verstanden werden. Mit der Erhebung vom 1. November 1954 betrat mit dem FLN (und seinem bewaffneten Arm, der Armée de libération nationale, ALN,) eine Unabhängigkeitsbewegung die politische Bühne, deren Führer einer neuen Generation entstammten und die sich in ihrer politischen Kultur und in ihrer Einstellung zur politischen Gewalt erheblich von den Vertretern der überkommenen Bewegungen wie Messali Hadj, dem Pionier des algerischen Nationalismus, oder Ferhat Abbas unterschieden. Der FLN 52 lehnte Bündnisse mit den übrigen Bewegungen ab, verlangte von ihnen die Anerkennung als alleinigem Repräsentanten des algerischen Volkes (verwarf mithin jeglichen Pluralismus) und bekämpfte rücksichtslos diejenigen, die sich, wie der MNA (Manifeste du peuple algérien), seinem Monopolanspruch nicht beugten. 53 Im Unterschied zum MNA von Messali Hadj, der politische Kampfformen zur Erlangung der Unabhängigkeit privilegierte, war der FLN ‚militärischer’. Für ihn war, neben einer Strategie der 100 Arts & Lettres Internationalisierung des Konfliktes, der bewaffnete Kampf „l’alpha et l’oméga du combat nationaliste“. In diesem sah er „le principal terrain sur lequel, vis-à-vis de l’opinion publique algérienne, on conquiert sa légitimité pour incarner l’espoir de l’indépendance.“ 54 Innerhalb kurzer Zeit gelang es dem FLN, sich im ganzen Land zu organisieren, über Verhandlungen, Druck und Gewalt die übrigen Bewegungen bzw. Parteien zu eliminieren, zu absorbieren (Ferhat Abbas’ Union démocratique du manifeste algérien, UDMA; die Oulémas, reformistische Muslims; den Parti communiste algérien, PCA) oder zu marginalisieren (MNA) und sich als bestimmende und, entsprechend seinem Ziel, einzige Gegenkraft zum kolonialen Frankreich und als Speerspitze des Unabhängigkeitskampfes zu etablieren. Camus misstraute der Führung des FLN zutiefst. Er verurteilte scharf ihre Praktiken und lehnte es ab, sie als Vertretung der Bewohner Algeriens anzuerkennen. Nur unvollständig nahm er ihren zunehmenden Einfluss auf die algerische Bevölkerung wahr. Im zunehmend gewalttätiger geführten Krieg bedienten sich beide Lager einer Reihe von Methoden. Nach Guy Pervillé strebten die „Rebellen“ ihre Verankerung in der Bevölkerung hauptsächlich durch Propaganda, die Bestrafung der „Verräter“ und die Provozierung von Repressalien der Kolonialmacht an. Zu den Methoden der „forces de l’ordre“ (der Kolonialmacht) zählte neben militärischen Maßnahmen die stillschweigende Duldung illegaler, offiziell verurteilter Praktiken: Folter und summarische Hinrichtungen. 55 Eine zentrale Stufe und scharfe Zäsur im Prozess der sich radikalisierenden Gewalt spielten der Aufstand, die Massaker und die Repression in Philippeville im Nord-Constantinois vom 20. August 1955. Der Aufstand kostete 123 Personen (darunter über 70 Europäer), die Repression der Kolonialmacht etwa 2.000 bis 3.000 (nach Angaben des FLN 12.000) Menschen das Leben. 56 Im Unterschied zum Aufstand vom 8. Mai 1945 war die Erhebung vom 20. August 1955 nach der heute vorherrschenden Auffassung der Forschung nicht spontan, sondern eine bewusste Aktion. Beschlossen und vorbereitet von der Führung des im Nordosten Algeriens gelegenen Verwaltungsbezirks II (Wilaya) des FLN-ALN, sollten durch die Provozierung einer französischen Repression der „algerischen Revolution“ eine breitere Basis in der Bevölkerung gegeben und der Konflikt internationalisiert werden. Die Offensive vom 20. August und die sich anschließende Repression schufen einen blutigen Graben zwischen den Gemeinschaften, der kein Zurück mehr zuließ. Sie markierten auch, so Renaud de Rochebrune und Benjamin Stora, den „point de non-retour dans le processus d’installation du FLN comme unique fer de lance du mouvement indépendantiste et comme seul interlocutuer valable du colonisateur.“ 57 In der Politik der Kolonialmacht bewirkte der 20. August über die unmittelbare Repression hinaus einen Umschwung. Generalgouverneur Jacques Soustelle, der bisher eine Reformpolitik nahe an den Interessen der algerischen Bevölkerung befürwortet hatte, stellte nun die Aufrechterhaltung der Ordnung an die erste Stelle und gab der Armee praktisch freie Hand. Der Ausnahmezustand wurde auf ganz Algerien ausgedehnt. 101 Arts & Lettres Wie in seinen Artikeln im Alger républicain und in Combat geißelte Camus in L’Express die Versäumnisse des französischen Kolonialismus und prangerte er seine Folgen an. Er sah in den französischen Regierungen die Hauptverantwortlichen für das „gegenwärtige Desaster“ und verlangte für das „arabische Volk“ „une grande, une éclatante réparation“. 58 Die Assimilation, so Camus 1958, sei eine „wiederholte Lüge“ geblieben und „nie“ wirklich in Angriff genommen worden („toujours proposée, jamais réalisée“). 59 Hellsichtig und klar legte Camus - der sich als einer der wenigen Schriftsteller Frankreichs grundsätzlich mit dem Problem des Terrors und der Gewalt auseinandergesetzt hat 60 und im Unterschied zu vielen von ihnen nie einer vermeintlichen ‚Faszination der Gewalt’ erlegen ist -, die Mechanismen der Gewalt und des Terrorismus frei: ihren „mortel mécanisme“, ihre „logique sanglante“, ihre „dialectique infernale (…) chacun rejetant la faute sur l’autre, et justifiant ses violences par la violence de l’adversaire. L’éternelle querelle du premier responsable perd alors son sens.“ 61 In seinem Artikel vom 9. Juli 1955 (einem seiner besten) geht er ausführlich auf die Ursachen des Terrorismus in Algerien (wie anderswo) ein. „On parle beaucoup à son propos d’influences étrangères et, sans doute, elles existent. Mais elles ne seraient rien sans le terrain où elles s’exercent, qui est celui du désespoir. En Algérie, comme ailleurs, le terrorisme s’explique par l’absence d’espoir. Il naît toujours et partout, en effet, de la solitude, de l’idée qu’il n’y a plus de recours ni d’avenir, que les murs sans fenêtres sont trop épais et que, pour respirer seulement, pour avancer un peu, il faut les faire sauter.“ 62 Der letzte Satz ähnelt den etwa gleichzeitigen Formulierungen Albert Memmis: „La situation coloniale, par sa propre fatalité intérieure, appelle la révolte. Car la condition coloniale ne peut être aménagée (kurs. i.O.); tel un carcan, elle ne peut qu’être brisée.“ An eine „innere Fatalität“ jedoch mochte Camus nicht glauben; und einer „Revolution“ (zumal wenn sie vom FLN ins Werk gesetzt wurde), die Memmi über die „Revolte“ hinaus für die Befreiung „des Kolonisierten“ für unausweichlich oder erforderlich hielt, 63 stand Camus ablehnend gegenüber. Er hielt „Dialog“, 64 Verhandlungen und ein Zusammenleben der unterschiedlichen Gemeinschaften weiterhin für möglich. Für Camus erklärte sich der Terrorismus freilich nicht nur als verzweifelte Antwort auf eine als ausweglos empfundene Situation. Er konnte für ihn auch, wie der Algerienkrieg zeigte (etwa im Fall der Offensive vom 20. August 1955 im Nord- Constantinois), aus einer bewussten politischen Entscheidung resultieren, auf die die Gegenseite mit unerbittlicher Repression reagierte. Camus hat beide - Terrorismus und Repression - mit gleicher Entschiedenheit verurteilt und es abgelehnt, beide voneinander zu trennen. „(…) je ne puis approuver le terrorisme civil qui frappe d’ailleurs beaucoup plus les civils arabes que les français. On ne peut me demander de protester contre une certaine répression ce que j’ai fait et de justifier un certain terrorisme ce que je ne ferai jamais.“ 65 Um Symmetrie 66 bemüht, geißelte er in seinen Artikeln die Repression der einen und den Terrorismus der anderen und legte er sachlich die Argumente beider Seiten dar. 67 Klischeehaften Vor- 102 Arts & Lettres stellungen von den im Krieg involvierten Parteien wirkte er entgegen: „Les Français ne sont pas tous des brutes assoiffés de sang, ni tous les Arabes des massacreurs maniaques. La métropole n’est pas peuplée seulement de démissionnaires ni d’officiers généraux nostalgiques.“ 68 Camus will, seinem Verständnis von der Rolle des Intellektuellen entsprechend, der Gewalt Grenzen setzen, „désintoxiquer les esprits et apaiser les fanatismes“. 69 Um den Konflikt aus der Sackgasse zu führen, versuchte er das Unmögliche. Er schlägt (dazu ausführlicher weiter unten) eine „Konferenz“, einen „runden Tisch“ und eine „trêve civile“ 70 vor: eine Verpflichtung beider Seiten, die Zivilbevölkerung zu schonen. Das übrige Kampfgeschehen soll davon zunächst unberührt bleiben. Diese Selbstverpflichtung sollte die gemäßigten Kräfte beider Parteien stärken, Spielräume für Verhandlungen schaffen, mit dem Ziel einer friedlichen Beilegung des Konfliktes und der Koexistenz der Gemeinschaften. Welche Überlegungen lagen seinem Vorschlag zugrunde? Für die „trêve civile“ sprach aus der Sicht Camus’ einmal ein grundsätzlicher Gedanke, den er stets konsequent vertreten hat: „aucune cause ne justifie la mort d’un innocent“. 71 Sie war ein Akt der Humanität. Auf der anderen Seite bewogen ihn ‚konjunkturelle’, den Umständen geschuldete Überlegungen zu seinem Schritt. Camus sah, dass die Assimilation gescheitert war. Als auch gemäßigte Berber und Araber (wie etwa Ferhat Abbas) nicht mehr an die Assimilation und Reformen glaubten, war abzusehen, dass bewaffneter Kampf für nationale Unabhängigkeit die einzige Alternative zum kolonialen System darstellen würde. Dies war einer der Gründe (um dies zu verhindern), warum sich Camus für radikale Reformen eingesetzt hatte. 72 Radikale Reformen freilich waren auch nach 1945 ausgeblieben. Mit dem Ausbruch des Unabhängigkeitskrieges schienen sich die Befürchtungen Camus’ zu bestätigen. Die Unabhängigkeit Algeriens jedoch lehnte Camus entschieden ab. Sie würde, war er überzeugt, „(…) tôt ou tard, l’éviction des Français d’Algérie“ aus Algerien bedeuten, 73 die Seinen - seine Mutter, 74 seinen Bruder, seine Verwandten… - bestenfalls zu Fremden in einem Land machen, das auch das ihre - und das seine - war. Camus fühlte sich zutiefst als Algerier. 80% der damaligen Algerien-Franzosen waren in Algerien geboren. Die Ablehnung des algerischen Nationalismus des FLN und eines unabhängigen vom FLN beherrschten Algerien - der Bezug auf den FLN ist hier zentral - folgte für Camus auch aus seiner politischen Philosophie, aus seiner Position als Moralist und Humanist und seinem Verständnis vom Verhältnis zwischen Zielen und Mitteln. Auf die Frage: rechtfertigt der Zweck die Mittel? hat Camus stets mit einem klaren Nein geantwortet - im Gegensatz etwa zu politischen Denkern marxistischer Provenienz seiner Zeit, die das genau umgekehrt sahen. Entsprachen die Mittel nicht den unantastbaren Werten des Humanismus, musste man nach Camus auf das Projekt verzichten, weil es nicht mehr gut sein konnte. „If the means are not just, with the ultimate test being whether they are in themselves murderous or lead to and justify murder, then the ends they serve can never make them just.“ 75 Schließlich sah Camus, auch von daher resultierten Vorbehalte, im 103 Arts & Lettres algerischen Nationalismus nur die vorgeschobene Spitze des arabischen und ägyptischen, von der Sowjetunion instrumentalisierten Imperialismus. 76 Die Forschung ist sich weitgehend darin einig, dass Camus „le fait national algérien“ unterschätzt habe. 77 Im Hinblick auf Algerien hat er die nationale Unabhängigkeit als „formule purement passionnelle“ bezeichnet. Es habe in der Vergangenheit „nie“ eine algerische Nation gegeben. Die Juden, die Türken, die Italiener, die Berber hätten einen ebenso großen Anspruch auf die Leitung dieser „nation virtuelle“ (Camus) wie die Araber. Vor allem aber, so Camus, sei gegenwärtig Algerien nicht nur von Arabern bewohnt. Auch die Algerien-Franzosen seien im strengen Sinne des Wortes „Eingeborene“ („indigènes“), 78 stellten „par leur nombre et l’ancienneté de leur implantation… un peuple“ dar, über das man nicht ohne seine Zustimmung verfügen könne. 79 Dem Recht des algerischen Volkes auf den eigenen Nationalstaat setzte Camus das für ihn nicht weniger begründete Recht der pieds-noirs entgegen, in dem Land ihrer Geburt zu bleiben. Schärfer - und in grundsätzlicher Form - hat Camus dieses Problem in einem Gespräch mit Jean Daniel 80 Anfang Januar 1956, also im unmittelbaren Vorfeld seines Appells in Algier, formuliert: „(…) ‚combien faut-il d’années de présence dans un pays’, so die Frage Camus’, ‚pour en faire partie? ’ Si tous les pays ne sont que les produits de conquêtes successives et diverses, quel est le critère pour que la conquête soit juste? Un historien peut répondre; non un moraliste. La conquête arabe s’est installée par le massacre et le despotisme. Tout comme la conquête française.“ 81 Einmal abgesehen davon, dass Camus hier wohl die Möglichkeiten der Historiker überschätzt hat, kann man das Problem wie Raymond Aron zu bewältigen versuchen. Er hat gegen die Behauptung Camus’, dass die nationale Unabhängigkeit eine „formule purement passionnelle“ sei und es bisher „nie“ eine algerische Nation gegeben habe, in realpolitischer Manier und mit der ihm eigenen intellektuellen Schärfe kühl eingewandt: „Peu importe que le nationalisme exprime une nation réelle ou irréelle: le nationalisme est une passion, il est résolu à créer l’identité qu’il invoque.“ 82 Man kann freilich auch, wie Paul Thibaud es getan hat, entgegnen, dass Camus’ Projekt einer französisch-arabischen Assoziation und seiner vehementen Ablehnung der algerischen Unabhängigkeit mit der von ihm erwarteten „éviction“ der Algerien-Franzosen eine „Schwachstelle“ („faille“) aufwies: „(…) il n’y avait pas de symétrie entre Algériens et Pieds-noirs. Les seconds avaient à la fois une patrie (la France) et un pays (l’Algérie); les premiers n’avaient pas de patrie. Fallait-il continuer à les en priver pour que les Pieds-noirs conservent un pays? Même selon la justice la plus abstraite, le droit politique des Algériens à une patrie était supérieur à celui, culturel, des Pieds-noirs à conserver leur pays.“ 83 Oder man kann, ohne auf das von Camus angesprochene grundsätzliche Problem direkt einzugehen oder eingehen zu müssen, auf Camus’ Vorstellung von Algerien verweisen, wie David Carroll diese neuerdings umrissen hat (und die uns heute modern erscheint): Algerien, so Carroll, war für Camus Heimatland einer hybriden Gemeinschaft mit unterschiedlichen Sprachen, Kulturen, Ethnien oder Völkern, ein offener, im Laufe der Geschichte von ganz unterschiedlichen Völkern bewohnter, 104 Arts & Lettres durchwanderter oder beherrschter Raum. 84 Vorstellungen von einer homogenen algerischen nationalen Identität, von Gründungsvätern, von Erstgeburtsrecht oder von Erstbesitz betrachte er als gefährliche nationalistische Mythen oder Fiktionen. Keine Ethnie, kein Volk, keine Religion - ob Muslime, Katholiken oder Juden - konnte für Camus ein primäres oder exklusives Recht auf das Land, auf Algerien, geltend machen. 85 Welche Lösung schwebte Camus für Algerien in politisch-institutioneller Hinsicht vor? Camus schlug eine Föderation zwischen Frankreich und Algerien vor. „Une Algérie constituée par des peuplements fédérés, et reliée à la France“: mit diesen Worten hat Camus seine Position Anfang 1958 knapp umrissen. 86 Wie suchte Camus seinen Vorschlag angesichts der offenkundigen Antagonismen plausibel zu machen? Franzosen und Araber sah er in einer Schicksalsgemeinschaft verbunden. „(…) en Algérie Français et Arabes sont condamnés à vivre ou à mourir ensemble“. 87 Er wiederholte seine Formeln von 1945: Algerien „existiert“; „le peuple arabe a gardé sa personnalité qui n’est pas réductible à la nôtre“. 88 Er beschwor eine (fiktive) „communauté franco-arabe“, 89 sprach von einer „association de deux peuples dans la liberté et le respect mutuel“ 90 und bemühte Frankreichs „vocation arabe“. 91 Zur Untermauerung seines Vorschlags griff er auf die früher von ihm formulierten Gedanken zurück, in denen er das Mittelmeer als Begegnungsstätte schöpferischer Synthesen, von Okzident und Orient, gepriesen hatte. 92 Ein unabhängiges, souveränes, dazu noch von Moskau oder Kairo instrumentalisiertes und einseitig auf die arabische, muslimische Welt ausgerichtetes Algerien würde mit seiner Orientierung nach Osten (und seiner Abwendung vom Süden und Westen) diese Bande zerreißen. Als Ziel skizzierte Camus das (grandiose) Bild einer Frankreich und die französischen Überseegebiete vereinenden Föderation, deren Drehscheibe das Mittelmeer wäre, mit Algier als „capitale fédérale“ und Sitz des „parlement fédéral“, einer Föderation, die sich „eines Tages mit einem schließlich vereinten Europa“ zusammenschließen würde. 93 In seinem die Chroniques algériennes abschließenden Beitrag „Algérie 1958“ wird er sich im Hinblick auf die innere Verfasstheit Algeriens den von Marc Lauriol, einem Rechtsexperten der Universität Algier, vorgeschlagenen Plan eines „fédéralisme personnel“ zu eigen machen. 94 Für Camus war der Föderalismus ein attraktives Konzept, weil er die Verschiedenartigkeit der Gruppen aufgrund von Geschichte, Kultur, Sprache oder Geographe akzeptiert und es erlaubt, unterschiedliche Völker und Ethnien (Franzosen, Araber, Berber …) in einer Gemeinschaft zu vereinen oder zusammenzuführen, ohne die Unterschiede zu negieren. „La fédération“, so Camus, „est d’abord l’union des différences“. 95 Föderale Ideen hatte Camus schon vor dem Krieg vertreten. Ihm war bewusst, dass sie schwer mit den jakobinischen Traditionen Frankreichs zu vereinbaren waren. Mit föderalem Gedankengut war Camus verstärkt in der Résistance in Kontakt gekommen. Altiero Spinelli, überzeugter Föderalist und Verfasser des berühmten Manifestes von Ventotene, hatte mit ihm Kontakt aufgenommen. Camus war Mitglied des Comité français pour la Fédération européenne und leitete im März 1945 das erste Treffen europäischer Föderalisten in Paris. 105 Arts & Lettres Föderale (oder konföderale) Gedanken - im zeitgenössischen Sprachgebrauch wurde, wie auch heute noch, zwischen beiden nicht immer klar unterschieden - wurden in den fünfziger Jahren im Hinblick auf Frankreichs Überseebesitzungen keineswegs nur von Camus vertreten. In den Überlegungen zur Zukunft und Umwandlung des französischen Kolonialreiches haben sie bis etwa 1960 nicht nur in den Plänen der Metropole, sondern gerade auch bei afrikanischen Politikern eine große und bislang kaum untersuchte Rolle gespielt. Andere Strukturen als der unabhängige Nationalstaat wurden von ihnen für durchaus denkbar und realistisch gehalten. Die Vorstellungen reichten von einer afrikanischen Föderation, die mit Frankreich in einer Konföderation verbunden sein würde (so etwa Léopold Sédar Senghor und Mamadou Dia), bis hin zu einer Föderation zwischen Frankreich und einzelnen afrikanischen Staaten, einer „fédération française“, wie sie Félix Houphouët-Boigny für die Elfenbeinküste vertrat. 96 Für Algerien freilich war die Idee einer Föderation angesichts der Antagonismen zwischen den Gemeinschaften und des Verhältnisses Algeriens zu Frankreich unrealistisch und weltfremd. Um für die „trêve civile“ zu werben, flog Camus im Januar 1956 nach Algier. In der angespannten Lage war das Vorhaben nicht ungefährlich. André Mandouze, Dozent an der dortigen Universität und dem FLN nahe stehend, alarmierte Jean Daniel: „Dissuadez Camus de venir. Il va se faire assassiner.“ Und tatsächlich erhielt er Morddrohungen. 97 Entstehung, Verlauf und Folgen seines spektakulären Appells vom 22. Januar sind wiederholt dargestellt worden 98 und sollen hier nicht erneut ausgebreitet werden. Die Initiative ging aus von einem die „Liberalen“ genannten Kreis von Intellektuellen und Künstlern Algeriens, die gemeinsam mit einer Gruppe von Muslimen einen Ausweg aus der Lage suchten und sich Ende 1955 im Comité pour la Trêve civile zusammenschlossen. Camus gab seine Zustimmung Anfang Dezember 1955. In Algier war das Klima im Vorfeld von Camus’ Auftritt äußerst gespannt. Während seines gesamten Aufenthaltes in Algier (18.-25. Januar) war bei den Initiatoren die Furcht vor gewalttätigen Auseinandersetzungen und einem Anschlag auf Camus groß. Nach einem vertraulichen Hinweis des Direktors der örtlichen Nachrichtenpolizei (Police des renseignements généraux, P.R.G.), Camus könne entführt werden, wurden ihm zwei von Camus selbst ausgewählte Leibwächter zur Seite gegeben - „des copains de Belcourt, deux anciens boxeurs… de véritables armoires à glace“. 99 Der Bürgermeister zog kurzfristig seine Zusage zurück, die Veranstaltung in einem der Festsäle seines Amtssitzes stattfinden zu lassen. Stattdessen hielt Camus seinen Vortrag auf Vorschlag von Mohamed Lebjaoui im von Muslimen frequentierten, zwischen der Place du Gouvernement und der Kathedrale am Rande der Casbah gelegenen Cercle du Progrès. Der Cercle du Progrès war ein Zentrum muslimischer Kultur und von den Oulémas gegründet worden. Im letzten Augenblick mussten neue Eintrittskarten gedruckt werden, da bekannt wurde, dass gefälschte Eintrittskarten im Umlauf waren. Camus sprach vor etwa 1.000 bis 1.500 Zuhörern 100 (mehrheitlich Europäer, viele Frauen, wenige Muslimas, kaum Arbeiter), zu denen während des Vortrags auch Ferhat Abbas stieß. Camus und Abbas umarmten sich, der aber in der fol- 106 Arts & Lettres genden Aussprache nicht das Wort ergriff. 101 Stark beachtet wurde die Anwesenheit von Scheich El Okbi, den Camus 1939 im Alger républicain in einem Strafprozess verteidigt hatte und der wegen seiner Gebrechen auf einer Bahre in den Saal getragen wurde. Auf dem Platz vor dem Veranstaltungsgebäude hatte sich derweil eine große Menge von Demonstranten, darunter zahlreiche ‚Ultras’ - radikale, fanatische Anhänger der Aufrechterhaltung der kolonialen Präsenz Frankreichs - versammelt, die die von Emmanuel Roblès geleitete Veranstaltung mit allen Mitteln störten. Sie schleuderten Steine gegen das Veranstaltungsgebäude, drohten das Absperrgitter zu durchbrechen und stießen Drohungen gegen den von seinen Gegnern als „bradeur“ des Kolonialreiches stigmatisierten Mendès France 102 („Mendès au poteau! “) und gegen Camus aus („A mort Camus! “). Dessen Eintreten für Mendès France im Wahlkampf hatte dem Hass auf den von den ‚Ultras’ als „pied-noir renégat“ und Verräter geschmähten Camus zusätzliche Nahrung gegeben. Im Anschluss an den Vortrag und zwei oder drei Redebeiträge wurde eine kurze, offenbar aber nur von wenigen Teilnehmern unterzeichnete Resolution verabschiedet. Angesichts des Tumultes auf dem Vorplatz und aus Furcht vor Zusammenstößen wurde, auch auf ein Zeichen des bei dem Vortrag blass gewordenen und schneller sprechenden Camus hin, die Veranstaltung rasch beendet, so dass praktisch keine Zeit für eine Aussprache blieb. Camus stellte am folgenden Tag Generalgouverneur Soustelle den Vorschlag vor, der „im Prinzip“ einverstanden war, aber auf praktische Schwierigkeiten hinwies. 103 Auch die Organisatoren suchten die Initiative zu verlängern und zu verbreitern, die von der französischen Regierung jedoch nicht ernsthaft aufgegriffen wurde 104 und bald im Sand verlief. Selbst Mendès France, Minister ohne Geschäftsbereich in der neuen Regierung, von dem Camus noch am ehesten Unterstützung erwarten konnte, sprach im April 1956 in einem vertraulichen Memorandum für den Ministerpräsidenten abfällig von „vains appels à la trêve - auxquels personne ne croit, pas même ceux qui les lancent“. 105 Camus selbst waren nach seiner Ankunft in Algier Zweifel an seiner Initiative gekommen. Im Laufe der - chaotisch verlaufenden - Vorgespräche hatte er erfahren, dass die muslimischen Mitglieder des Comité pour la Trêve civile wie Ouzegane und Lebjaoui dem FLN angehörten. Camus fürchtete, dass dies ruchbar werden und den Protesten weiteren Auftrieb geben könnte. Ouzegane hatte gegenüber einem Vertrauten von Camus unmissverständlich klar gemacht, dass sie (die Algerier) nach „150 Jahren Irredentismus“ am Ende der Feindseligkeiten „une Algérie entièrement libre et indépendante“ anstrebten. 106 Wie sich später herausstellte, hatte die Führung des FLN der Operation offenbar zugestimmt. 107 Lebjaoui und Ouzegane, die seit längerem Kontakte zu europäischen Intellektuellen und Künstlern unterhielten, standen Abane Ramdane nahe, der zu der Zeit eine der Führungsfiguren des FLN war und für eine Politik der Öffnung gegenüber den Algeriern europäischer Herkunft eintrat. 108 Ihr Ziel war es (möglicherweise mit Einverständnis Ramdanes), den Einfluss des FLN bei aufgeklärten Kräften der europäischen Bevölkerung Algeriens zu stärken, sie von der „grosse colonisation“ zu iso- 107 Arts & Lettres lieren und für direkte Verhandlungen mit dem FLN zu gewinnen. 109 Andererseits: Scheiterte, wie zu erwarten oder wahrscheinlich war, die Initiative, 110 würden sich die „Liberalen“ um so eher von der Unvermeidlichkeit der Unabhängigkeit Algeriens überzeugen lassen - einer Unabhängigkeit, die Camus mit seinem Appell ja gerade verhindern wollte. 111 Auch in Frankreich erlitt Camus’ reformerische Strategie innerhalb kurzer Zeit schwere Rückschläge. Die Kammerwahlen vom 2. Januar 1956 fielen für Camus enttäuschend aus. 112 Dem Front républicain (27,7% der Stimmen) brachten sie nicht den erwarteten Durchbruch. Die eigentlichen Sieger waren die Kommunisten (25,9%) und die Poujadisten (etwa 12%), also die beiden extremistischen Parteien. Mit der Bildung der Regierung wurde Guy Mollet, nicht Pierre Mendès France, beauftragt. Am 6. Februar („journée des tomates“) kapitulierte dieser bei seinem Besuch in Algier vor den ‚Ultras’. Mollet, der in seiner Regierungserklärung vom 31. Januar die Herstellung des Friedens in Algerien und umfassende Reformen, mit freien Wahlen zu einem ‚Collège unique’ als Kernstück, angekündigt hatte, machte unter dem Eindruck der gewaltsamen Proteste die Ernennung von General Catroux, eines liberalen, den pieds-noirs verhassten Gaullisten, rückgängig und berief stattdessen Robert Lacoste, einen „socialiste à poigne“, zum „ministre résident“, der damit Mitglied des Kabinetts wurde (die Bezeichnung Generalgouverneur wurde aufgegeben). Am 12. März 1956 verabschiedete die französische Kammer das Gesetz über die Sondervollmachten. Die Befugnisse der Militärs wurden erweitert, die Stärke der Truppen in Algerien Schritt für Schritt erhöht. Im Juli 1956 belief sich die Zahl der Soldaten auf etwa 400.000. Algerien versinkt im Zyklus von Revolution-Repression-Gewalt und Terror. Für Camus endete die Episode der „trêve civile“ mit einem Fiasko. Dabei zeigt eine genaue Analyse der Texte, dass Camus hinsichtlich Methode und Umsetzung seiner Vorschläge immer bescheidener geworden war. 113 Im Juli 1955 schlug er „la convocation immédiate à Paris, d’une conférence réunissant les représentants du gouvernement, ceux de la colonisation, et ceux des mouvements arabes“ vor (bei der Nennung der nationalistischen Bewegungen überging er den FLN). 114 Nach dem Aufstand und der Repression im Nord Constantinois vom 20. August 1955 sprach Camus im Artikel vom 18. Oktober 1955 statt von einer „conférence“ nur mehr von einer „table ronde“. 115 Am 1. November 1955 regte Camus an, dass „(…) les deux parties en présence prennent, simultanément, l’engagement de ne pas toucher, quelles que soient les circonstances, aux populations civiles“, als erster Schritt hin zu einer umfassenderen Lösung. Den hier formulierten Gedanken der „trêve civile“ wird Camus in späteren Artikeln - „Trêve pour les civils“ (10. Januar 1956) und „Le parti de la trêve“ (17. Januar 1956) - weiter entwickeln und, als Herzstück, in seinem Vortrag in Algier am 22. Januar 1956 erläutern. Die Initiative hierzu, schrieb er am 1. November 1955, könnte von den „chefs religieux des trois grandes communautés d’Algérie“ ausgehen. Am 10. November 1955 führte er aus, dass die Initiative von den „Francais d’Algérie“ ergriffen werden müsste. Auch hier schraubte Camus, parallel zum eskalierenden Krieg, seine Erwartungen zurück. In 108 Arts & Lettres seinem „Appel pour une trêve civile en Algérie“ vom 22. Januar hieß es nur mehr: „De quoi s’agit-il? D’obtenir que le mouvement arabe et les autorités françaises, sans avoir à entrer en contact (kursiv von mir, CAW), ni à s’engager à rien d’autre, déclarent simultanément, que pendant toute la durée des troubles, 116 la population civile sera, en toute occasion, respectée et protégée.“ Nur eine solch begrenzte Selbstverpflichtung - „position étroite (…) action, à la fois limitée et capitale“ - könne die Chance für eine spätere „réunion“ (deren Zusammensetzung Camus nicht weiter erläutert) wahren und den Boden für eine „compréhension plus juste et plus nuancée du problème algérien“ bereiten. 117 Auch in dieser Form war die Idee der „trêve civile“ angesichts der Leidenschaften und Antagonismen in Algerien utopisch. Camus scheint seinen eigenen Einfluss auf den beiden Seiten des Mittelmeeres und das Gewicht der die Initiative unterstützenden Gruppen überschätzt zu haben. Überspitzt formuliert, repräsentierten die Initiatoren offenbar nicht viel mehr als sich selbst. Über größeren Einfluss bei den Algerien-Franzosen verfügten sie nicht. 118 Mit den veränderten Verhältnissen in Algerien war Camus nur mehr unzureichend vertraut. „Camus savait que les difficultés seraient nombreuses mais ne me semblait pas les estimer à leur véritable importance.“ 119 Über die Vorstellungen von Ferhat Abbas oder Messali Hadj war die Zeit hinweggegangen. Die Führer des FLN, die zunehmend das Feld beherrschten und die Bevölkerung kontrollierten, waren ihm unbekannt. FLN-Chefs wie Abane Ramdane, die noch am ehesten seine Vorstellungen teilten, wurden liquidiert oder kaltgestellt. 120 Camus, der sich in seinen letzten Lebensjahren der europäischen Gemeinschaft angenähert zu haben scheint, dürfte die Reformbereitschaft der Algerien-Franzosen überschätzt, ihren Egoismus - nach Ansicht von Jean Amrouche waren sie zu „99% ‚férocement attachés à leurs privilèges’ de petits Blancs“ 121 -, ihre Anfälligkeit für politischen Radikalismus und ihre Militanz unterschätzt haben; über das „grand colonat“ machte er sich hingegen keinerlei Illusionen: „La grande propriété … sait, clairement et fortement, ce qu’elle ne veut pas et ne reculera devant rien pour assurer sa victoire. La proclamation de la responsabilité collective en est le premier et sinistre avertissement.“ 122 Im Februar 1956 stellte Camus die Mitarbeit im Express ein. Er befindet sich fortan im Hinblick auf die Entwicklungen in Algerien in einer Art politischem „Niemandsland“. 123 Sein letzter Artikel in L’Express ist Mozart und seiner Musik gewidmet. 124 Das Schicksal Algeriens wird Camus auch in der Folgezeit nicht loslassen. Er erlebte, wie immer wieder zu Recht geschrieben wird, den Algerienkrieg als persönliche Tragödie. Öffentlich äußern wird er sich dazu aber, von Ausnahmen abgesehen, nicht mehr. An der im Herbst 1955 verstärkt einsetzenden, 1960 ihren Höhepunkt erreichenden „bataille de l’écrit“, 125 die sich Frankreichs Schriftsteller, Künstler und Intellektuelle über Algerien und den Algerienkrieg lieferten, 126 beteiligte sich Camus nicht. Im April 1957 skizzierte er in einem offenen Brief an den Encounter seine Vorstellungen und Lösungsvorschläge für Algerien. 127 Grosses Aufsehen erregte seine Antwort auf die Frage eines jungen Algeriers auf der Pressekonferenz vom 13. Dezember 1957 in Stockholm, wo ihm am 10. Dezember 109 Arts & Lettres 1957 der Nobelpreis verliehen worden war. Seine angebliche, aus dem Zusammenhang gerissene, zu Missverständnissen Anlass gebende und nicht ganz logische Formulierung „Je crois à la justice, mais je défendrai ma mère avant la justice“ wurde in Frankreich breit kommentiert und wird ihm später immer wieder vorgeworfen werden. 128 Im Sommer 1958 veröffentlichte Camus die meisten seiner Artikel zu Algerien unter dem Titel Chroniques algériennes 1939-1959. Actuelles III. In dem den Band abschließenden Beitrag „L’Algérie 1958“ legte er noch einmal prägnant seine Position dar und merkte er am Ende der Abhandlung an, dass er sich in Zukunft zu dem Thema nicht mehr äußern werde. Das Buch erschien im Juni 1958; es fand kaum mehr Beachtung. Camus’ Plädoyer für einen dritten, mittleren Weg, für einen föderalen Staat, in dem die Araber, Kabylen und Europäer ihren gleichberechtigten Platz haben würden, wurde indes immer weltfremder. Die Eskalation des Krieges und die Polarisierung der Meinungen mit ihrer Begünstigung der Extreme ließen Stimmen der Mäßigung keinen Raum. Wollte er sich nicht untreu werden, standen ihm effektive Mittel zur Beeinflussung der Entwicklung in Algerien praktisch nicht mehr zur Verfügung. „As alternatives to ideological terror that would not themselves be counterterrorist forms of terror, Camus (…) had very little to propose: critical reflection, dissent, and dialogue as forms of resistance and rebellion.“ 129 Camus wird weiterhin diskret Opfer der Justiz unterstützen. Nach Jean Daniel und Germaine Tillion intervenierte er bei Regierungsstellen in über 150 Fällen. 130 Er schwankte zwischen Skepsis („je crois (…) qu’il est trop tard pour l’Algérie“), Niedergeschlagenheit („l’Algérie m’obsède. Trop tard, trop tard … Ma terre perdue, je ne vaudrais plus rien“) und Hoffnung („j’ai bon espoir pour l’Algérie“). 131 In einem Gespräch mit Charles Poncet zeigte er sich beeindruckt von der wirtschaftlichen Entwicklung Algeriens (besonders nach der Entdeckung von Erdöl), die die Dinge in eine andere Richtung lenken könnte. 132 Zeitweilig scheint er geglaubt zu haben, dass de Gaulle, der zunächst eine Trennung zwischen Algerien und Frankreich ablehnte, die petits blancs würde retten können. De Gaulles für die weitere Entwicklung des Algerienproblems zentrale Rede vom 16. September 1959 stieß bei Camus auf Zustimmung. Der dort formulierte Gedanke einer „Union“ oder Assoziation, eines mit Frankreich verbundenen Algerien, wies Ähnlichkeiten mit seinem eigenen Konzept auf. 133 Für kurze Zeit konnte Camus dem Gedanken einer Teilung Algeriens mit Bevölkerungsaustausch etwas abgewinnen. 134 Selbst Camus’ Freunde und Bekannte aus der Vorkriegszeit reagierten auf seine Haltung zunehmend mit Unverständnis oder trennten sich von ihm. Freundschaft und gegenseitiger Respekt kollidierten mit politischen Meinungsverschiedenheiten. Auch für die Mitglieder der Communauté algérienne des écrivains war das „algerische Algerien“ immer unvermeidlicher. Jean Amrouche etwa plädierte entschlossen für den FLN und für ein unabhängiges Algerien, dem er eine leuchtende Zukunft vorhersagte. Sein eloquentes Engagement entfernte ihn zunehmend von Camus und machte ihn zu dessen „parfaite antithèse“. 135 Auch Mouloud Feraoun ergreift Partei für Algeriens Unabhängigkeit, ohne sich freilich Illusionen über die Zu- 110 Arts & Lettres kunft eines unabhängigen Algerien zu machen. Er wird weiterhin große Achtung für Camus hegen und ihm freundschaftlich verbunden bleiben. Jean Sénac, der große Hoffnungen in den von ihm bewunderten und tief verehrten Camus gesetzt und von ihm eine unzweideutige Stellungnahme zugunsten der Unabhängigkeit Algeriens erwartet hatte, wird sich vollständig dem Kampf für die nationale Unabhängigkeit verschreiben. 136 Die Algerien-Franzosen und die politische Rechte sahen in Camus einen „Verräter“, weil er sich nicht für die „Algérie française“ einsetzte. Die (metropolitane) Linke ignorierte oder kritisierte ihn, weil er nicht für den FLN und die Unabhängigkeit Algeriens Partei ergriff. Die Ablehnung der „algerischen Revolution“ - und sein Antikommunismus - machten Camus, so Todd, zum „Prügelknaben“ („souffre-douleur“) der Pariser Linken oder, wie Guérin gar gemeint hat, zum „Paria“ von Saint- Germain-des-Prés. 137 Camus hat seine Befürchtungen angesichts der Situation in Algerien auch in seinen literarischen Werken geäußert. Am überzeugendsten und eindrucksvollsten hat er das in seiner Novelle L’Hôte getan, die neben La femme adultère zu seinen wohl schönsten Erzählungen gehört. Die Novelle beleuchtet nicht nur seine Sorgen um Algerien; sie illustriert auch seine eigene Rolle und Position: die Ohnmacht, die Isolierung und Ausweglosigkeit seiner Lage. L’Hôte - was sowohl mit Gast wie Gastgeber übersetzt werden kann - scheint im Wesentlichen vor dem Ausbruch des Algerienkriegs im November 1954 konzipiert worden zu sein. Mit fünf weiteren Novellen wird L’Hôte 1957 im März auf dem Höhepunkt der „Schlacht um Algier“ unter dem Titel L’Exil et le royaume erscheinen. Daru, die Hauptperson der Novelle, unterrichtet als Lehrer in einer verlassenen Region am Rande der Wüste Algeriens. Eines Tages wird er aufgefordert, einen Araber, der seinen Vetter umgebracht hat, auszuliefern. Daru löst den Gefangenen von seinen Fesseln und teilt die Mahlzeit mit ihm. Von Beginn der Geschichte an befindet sich Daru weder auf der Seite des französischen Gesetzes (des Gendarmen) noch des Opfers bzw. des arabischen Gefangenen. Wie Camus im Algerienkrieg nimmt er für keine der beiden Lager Partei. Am nächsten Morgen führt Daru den Gefangenen an eine Kreuzung und gibt ihm ein Paket mit Essen für zwei Tage. Er zeigt ihm den Weg, der ins Gefängnis führt, und er zeigt ihm Wege, die in die Freiheit führen. Der Araber bewegt sich in Richtung des Gefängnisses. Bei seiner Rückkehr findet Daru in seiner Schule auf der Tafel eine Inschrift: „Tu as livré notre frère. Tu paieras.“ Der Erzähler schließt die Novelle mit den Worten: „Dans ce vaste pays qu’il avait tant aimé, 138 il était seul.“ V Dreimal hat Camus als Journalist in Artikelserien für Algerien zur Feder gegriffen. 139 Er forderte tiefgreifende Reformen zu einem Zeitpunkt, als von Algerien in Frankreich abgesehen von einer Handvoll Spezialisten kaum Notiz genommen wurde - auch von denen nicht, die später, und viel später als weithin angenom- 111 Arts & Lettres men, beredt für die „algerische Revolution“ Partei ergriffen. Er zog sich aus der öffentlichen Arena zurück, als das Algerienproblem in Frankreich in aller Munde war und er erkennen musste, dass seine Stimme nicht mehr gehört würde. Stets waren seine Artikelserien von praktisch-politischen und humanitären Erwägungen geleitet. Die Schwerpunkte, die Themen und die Betrachtungsweise seiner Artikel haben sich zwischen 1939 und den fünfziger Jahren geändert. Ging es ihm zunächst um soziale Gerechtigkeit und Gleichheit Algeriens und der Algerier im Rahmen eines, wie er hoffte und 1939 noch annahm, seine eigenen Prinzipien einlösenden republikanischen Frankreich, standen später politische Fragen im Vordergrund. Nach dem offenkundigen Scheitern der von der Kolonialmacht nie ernsthaft in Angriff genommenen Assimilation plädierte Camus für eine Föderation zwischen Frankreich und Algerien. Verhandlungen mit dem FLN und eine Trennung Algeriens von Frankreich lehnte er wegen der befürchteten Verdrängung („éviction“) der Europäer aus Algerien ab. Seinen Grundsätzen ist sich Camus treu geblieben. Er hat sie auch im Algerienkrieg nicht verraten. “(…) la guerre d’Algérie“, hat Paul Thibaud angemerkt, „ne s’est pas terminée sur le triomphe de la pure justice mais par celui d’une injustice moindre sur une injustice pire“. 140 Man kann endlos darüber streiten, ob Camus’ Eintreten für ein multiethnisches, pluralistisches Algerien ‚nur’ zu spät kam, oder aber ob ein solches Unterfangen angesichts der kolonialen Hypothek nicht von vorneherein zum Scheitern verurteilt sein musste. Er selbst hat seine Berichte und Artikel im Vorwort zu den Chroniques algériennes eine „Geschichte des Versagens“ genannt 141 was nicht heißt, „dass er nicht recht daran tat, es zu versuchen“. 142 Und unstrittig dürfte sein, dass zur Vermeidung ähnlicher Katastrophen seine Gedanken und seine Erfahrung uns auch heute wichtige Aufschlüsse über das Verhältnis von Moral, Politik und Gewalt vermitteln können. 1 Aus der Fülle der Literatur Conor Cruise O’ Brien: Camus, Glasgow, Fontana / Collins, 1970 (Modern Masters); Edward W. Said: Kultur und Imperialismus. Einbildungskraft und Politik im Zeitalter der Macht, Frankfurt am Main, S. Fischer Verlag, 1994, 235-255 („Camus und die Wirklichkeit des französischen Imperialismus“); Albert Memmi: „Camus ou le colonisateur de bonne volonté“, in: La Nef, no. 12, 14. Jg. (Dezember 1957), 95 (in seinem Versuch, Verständnis für Camus zu wecken. Camus hatte das Vorwort zur stark autobiographischen Schrift von Memmi: La statue de sel, Paris, Editions Gallimard, 1953, geschrieben); ders.: Portrait du colonisé précédé de Portrait du colonisateur et d’une préface de Jean-Paul Sartre, Paris, Editions Gallimard, 1985, 43sqq. (1. Aufl. 1957). So auch („colonisateur de bonne volonté“) Raymond Aron: L’Algérie et la république, Paris, Plon, 1958, 107. Von einer postkolonialen Perspektive geleitete Arbeiten sehen in Camus nach wie vor einen Kolonialisten oder Rassisten. Überzeugende Entgegnung bei (u.a.) Guy Pervillé, „Albert Camus était-il raciste? Le témoignage du Premier homme“, in: Jacques Cantier, Laurent Jalabert et Jean-François Soulet (dir.): Histoire et littérature au XX ème siècle. Hommage à Jean Rives, Toulouse, GRHI, 2003, 431- 445 (Sources et travaux d’histoire immédiate). Zu den Defiziten der postkolonialen Studien (‘doing history 112 Arts & Lettres backward’, ‚story plucking’, ‚leapfrogging legacies’, ‚the epochal fallacy’…) cf. Frederick Cooper: Colonialism in Question: Theory, Knowledge, History, Berkeley, University of California Press, 2005. 2 Camus hat die meisten seiner Artikel zu Algerien, versehen u.a. mit einem Vorwort und einer zusätzlichen kurzen, den Band abschließenden Abhandlung „L’Algérie 1958“, im Sommer 1958 unter dem Titel Chroniques algériennes 1939-1958 (Actuelles III) veröffentlicht (wie seine übrigen Publikationen bei Gallimard, neu aufgelegt in der Reihe Folio / Essais, no. 400 ). Zugrundegelegt und zitiert werden seine Schriften hier nach der Ausgabe seiner Werke in der Bibliothèque de la Pléiade: Albert Camus: Œuvres Complètes (zit. AC, OC), t. I - IV, Paris, Editions Gallimard, 2006-2008. 3 Albert Camus: Essais. Introduction par Roger Quilliot. Edition établie et annotée par Roger Quilliot et Louis Faucon, Paris, Editions Gallimard, 1965, 1892, fn. 4 AC, OC, IV, 379: „Appel pour une trêve civile en Algérie“, 22. Januar 1956. 5 Gegenüber Jean Daniel meinte er Anfang 1956 gar, er sei sicher, mit „einem Muslim des FLN“ (dessen Methoden er vehement ablehnte) „besser auskommen zu können“ als mit einem „Pariser Intellektuellen“; Jean Daniel: Avec Camus. Comment résister à l’air du temps, Paris, Editions Gallimard, 2006, 61. - Die Frage, welcher Gemeinschaft sich Camus als Gesellschaftskritiker zugehörig gefühlt hat, steht im Mittelpunkt bei Michael Walzer: „Albert Camus und der Algerienkrieg“, in: Ders.: Zweifel und Einmischung. Gesellschaftskritik im 20. Jahrhundert. Aus dem Amerikanischen von Anita Ehlers und Hans- Horst Henschen, Frankfurt am Main, S. Fischer Verlag, 1991, 189-209. 6 AC, OC, III, 1060: „La trêve du sang“, L’Express, 16. Dezember 1955. 7 Germaine Tillion: L’Algérie en 1957, Paris, Les Editions de Minuit, 1957, 16. 8 AC, OC, IV, 359: „La bonne conscience“, L’Express, 21.Oktober 1955. 9 Jean-Paul Sartre: „Le colonialisme est un système (1956)“, Situations, V: Colonialisme et néo-colonialisme, Paris, Editions Gallimard, 1964, 43 (ursprünglich in Les Temps Modernes, 123, März-April 1956). 10 Von der französischen Verwaltung wurden sie „Français musulmans“ genannt. Es wäre logisch gewesen, entsprechend die Europäer „Français chrétiens“ zu nennen. Cf. Pierre- Louis Rey: „Camus l’Algérien“, in: L’Histoire, no. 349, janvier 2010, 8-15, 9. 11 Camus lässt sich dem zunehmend ins Blickfeld der Forschung rückenden „monde du contact“ zwischen indigener und kolonialer Gesellschaft zurechnen; für Algerien cf. das von Emmanuel Blanchard und Sylvie Thénault betreute Dossier „Quel ‚monde du contact’? Pour une histoire sociale de l’Algérie pendant la période coloniale“, in: Le Mouvement Social, 236, Juli-Sept. 2011. 12 Cf. etwa Guy Pervillé: „La communauté algérienne des écrivains face à la guerre d’Algérie“, in: Jean-Charles Jauffret et Charles-Robert Ageron (dir.): Des hommes et des femmes en guerre d’Algérie, Paris, Editions Autrement, 2003, 94-110; Agnès Spiquel: „Camus: amitiés et question(s) algériennes (1954-1960)“, in: The French Review 83, 2010, 1190-1201; Guy Dugas: „Camus, Sénac, Roblès: les écrivains de l’Ecole d’Alger face au terrorisme“, in: Christine Margerrison, Mark Orme and Lissa Lincoln (eds.): Albert Camus in the 21 st Century. A Reassessment of his Thinking at the Dawn of the New Millenium, Amsterdam, Editions Rodopi B.V., 2008, 189-205. 13 Sylvie Thénault: Histoire de la guerre d’indépendance algérienne, Paris, Editions Flammarion, 2005, 35. Cf. auch für die Abgeschiedenheit beider Gemeinschaften voneinander statt vieler das Zeugnis von Mouloud Feraoun: „La vérité, c’est qu’il n’y a jamais eu mariage. Non. Les Français sont restés à l’écart. Dédaigneusement à l’écart. Les Français sont restés étrangers. Ils croyaient que l’Algérie c’était eux.“ Mouloud Feraoun: Journal 113 Arts & Lettres 1955-1962, Paris, Editions du Seuil 1962, 45 (Tagebucheintrag vom November- Dezember 1955). Feraoun, ein algerischer Schriftsteller aus der Kabylei, wurde 1962 von einem Kommando der rechtsradikalen, terroristischen Organisation Armée Secrète (OAS) ermordet. 14 Camus hat wiederholt auch auf diesen Sachverhalt hingewiesen. „Le niveau de vie des salariés (des Français d’Algérie, CAW), bien que supérieur à celui des Arabes, est inférieur à celui de la métropole.“ AC, OC, IV, 359: „La bonne conscience“, L’Express, 21. Oktober 1955. 15 Annie Cohen-Solal: „Camus, Sartre et la guerre d’Algérie“, in: Jeanyves Guérin (dir.): Camus et la politique. Actes du colloque de Nanterre 5-7 juin 1985, Paris, Editions l’Harmattan, 1986, 177-184, 178. - Anders Hacène Hirèche, der in den Berichten und Reportagen „die Emotionen“ vermisst. Camus habe die Kabylei wie „ein Ethnologe“ oder wie „ein Anthropologe“ durchstreift, der ein fernes Land bzw. eine „peuplade lointaine“ studiere. Er meint gar, bei Camus’ Reportagen handele es sich um einen Text „susceptible de susciter une justification supplémentaire pour mépriser un peuple réduit à la misère“. Hacène Hirèche: „Les émotions dans le texte: La misère en Kabylie“, in: Actualités et culture berbères, numéro 52-53, automne-hiver 2006-2007, 23-27, 41. 16 AC, OC, IV, 307-311, 310 und 1429 (Zwischenüberschrift): „Le dénuement“, Alger républicain, 6. Juni 1939. 17 AC, OC, I, 661-664: „L’assistance“, Alger républicain, 10. Juni 1939; AC, OC, IV, 316- 319: „Les salariés“, Alger républicain, 8. Juni 1939 („le régime du travail en Kabylie est un régime d’esclavage“, 316). 18 AC, OC, I, 656-657: „L’habitat. ‘Des enfants dans la boue noire des égouts…’“, Alger républicain, 9. Juni 1939. 19 AC, OC, IV, 315sq.: „Le dénuement - suite -“, Alger républicain, 7. Juni 1939. 20 Von daher ist die Kritik nicht richtig, Camus sei in seiner Analyse bei sozioökonomischen Faktoren stehen geblieben und habe politische Faktoren ausgeblendet. Wenn freilich mit ‚politischen Faktoren’ das Kolonialsystem als solches gemeint ist (und das Verständnis von Politik auf diesen Aspekt reduziert wird), trifft die Kritik zu. - Auf der kommunalen Ebene setzte auch das Colonial Office in London im Zweiten Weltkrieg und in der frühen Nachkriegszeit an, als es Vorstellungen für den Weg der indigenen Bevölkerung des Empires hin zu größerer Selbständigkeit der Kolonien entwickelte. 21 Während die Anzahl der europäischen und der muslimischen Schulkinder im Alter von sechs bis vierzehn Jahren etwa gleich war (jeweils 200.000), besuchten alle europäischen Kinder die Schule, die muslimischen Kinder aber nur im Verhältnis von eins zu zwölf (d.h. nur jedes zwölfte Kind); AC, OC, IV, 1409, fn. Die Zahlen beziehen sich auf ganz Algerien im Jahr 1950. 22 AC, OC, IV, 323: „L’enseignement“, Alger républicain, 11. Juni 1939. 23 AC, OC, IV, 330, 334: „L’avenir économique et social“, Alger républicain, 14. Juni 1939. 24 AC, OC, IV, 336: „Conclusion“, Alger républicain, 15. Juni 1939. In fast identischen Worten schreibt Camus 1955: „Si la colonisation pouvait jamais trouver une excuse, ce serait dans la mesure où elle favorise la personnalité du peuple colonisé.“ AC, OC, III, 1029: „L’avenir algérien“, L’Express, 23. Juli 1955 (i. O. kursiv). 25 Die Analyse der Ursachen von Hunger und Krise bleibt allerdings selektiv. Unter den Faktoren erwähnt er z.B. nicht, dass im Zuge der Landnahme durch Frankreich die kabylische Bevölkerung auf die unfruchtbareren Böden zurückgedrängt wurde. 26 AC, OC, IV, 324: „L’avenir politique“, Alger républicain, 13. Juni 1939. 114 Arts & Lettres 27 Camus’ Auffassung von Assimilation unterschied sich von derjenigen der Kolonialisten. Sie beruhte im Gegensatz zu deren Vorstellungen nicht auf dem Mythos einer angeborenen Hierarchie von Völkern und Kulturen, sondern ging im Gegenteil von deren Gleichheit und „grandeur“ aus. Cf. David Carroll: Albert Camus, the Algerian. Colonialism, Terrorism, Justice, New York, Columbia University Press, 2007, ch. 6. Es ist die Kluft zwischen theoretischen Versprechen, faktischen Ungleichheiten und ausbleibenden Maßnahmen, die Camus in seinen Schriften über Algerien anprangert. Man könne nicht, so Camus im Mai 1954, den Titel eines „Lehrmeisters der Zivilisation“ beanspruchen, wenn man „in der einen Hand die Erklärung der Menschenrechte“ halte, mit der anderen aber „den Knüppel der Repression“ schwinge. AC, OC, III, 1111: „Message au ‚Comité pour l’amnistie aux condamnés politiques d’outre-mer’ (Mai 1954)“. Zu Ende gedacht und ohne Einschränkungen umgesetzt, hätte Assimilation zum Ende des Kolonialreiches geführt. Kolonisation und Assimilation waren letztlich, so bereits Albert Memmi, „Gegensätze“ („contradictoires“); ders.: Portrait, 142. - Jacques Soustelle, ein renommierter Ethnologe, von Januar 1955 bis Februar 1956 Generalgouverneur Algeriens, sprach, statt von Assimilation, von „Integration“, die die muslimische Persönlichkeit Algeriens stärker respektiere. 28 Mit dem Scheitern des Blum-Viollette-Planes, so Camus später, „l’Algérie perdit sa meilleure chance“. AC, OC, III, 1024: „Terrorisme et répression“, L’Express, 9. Juli 1955. Der Plan wurde angesichts des von den Algerien-Franzosen organisierten Widerstandes nicht einmal dem französischen Parlament vorgelegt. 29 Macha Séry: Albert Camus à 20 ans. Premiers combats, Vauvert, Editions Au diable vauvert, 2011, 134. 30 Zit. ibid.: Albert Camus, 132. 31 Cf. auch Olivier Todd: Albert Camus. Une vie, Paris, Editions Gallimard, 1996, 265. 32 Als Zusammenstellung seiner Artikel in Combat cf. Camus à Combat, édition établie, présentée et annotée par Jacqueline Lévi-Valensi, Paris, Editions Gallimard, 2002 (Cahiers Albert Camus, no. 8). 33 AC, OC, IV, 337-338: „Crise en Algérie“, Combat, 13.-14. Mai 1945. 34 Ibid., 337-339. 35 AC, OC, IV, 342-344: „Des bateaux et de la justice“, Combat, 16. Mai 1945. Bei den Rationen hatte ein Franzose Anspruch auf 300 Gramm pro Tag, ein Araber auf nur 250. Faktisch erhalte der Araber aber, vor allem aufgrund von Korruption und „favoritisme“ der Caïds (Stammesfürsten, die von der Kolonialverwaltung „allzu oft“ mit der Verteilung der Rationen beauftragt worden seien), lediglich 100 bis 150 Gramm. Die von der französischen Verwaltung selbst vorgenommenen Zuteilungen seien, „quoique insuffisantes, (…) toujours honnêtes“: ibid., 343. 36 Der Zweite Weltkrieg wird von der Forschung als zentraler Einschnitt auf dem Weg der abhängigen Volker auf dem Weg zur Unabhängigkeit gesehen - trotz aller Bestrebungen der Kolonialmächte nach 1945, die Entwicklung rückgängig zu machen. 37 AC, OC, IV, 344-347: „Le malaise politique“, Combat, 18. Mai 1945. 38 „L’Algérie en tant que patrie est un mythe. Je ne l’ai pas découverte. J’ai interrogé l’histoire; j’ai interrogé les morts et les vivants; j’ai visité les cimetières: personne ne m’en a parlé.“ Ferhat Abbas: „La France, c’est moi! “, in: L’Entente franco-musulmane, 27. Februar 1936; zit. AC, OC, IV, 1410, fn. 2. 39 Herausragende Vertreter dieser Interpretationsrichtung: Charles-André Julien und sein Schüler Charles-Robert Ageron. Zu Ageron cf. die Würdigung durch Daniel Rivet: „Charles-Robert Ageron, historien de l’Algérie coloniale“, in: La guerre d’Algérie au miroir des 115 Arts & Lettres décolonisations françaises. Actes du colloque international Paris, Sorbonne (23, 24, 25 novembre 2000), Abbeville, Imprimerie F. Paillart, 2000, 5-16. 40 „Jusqu’à cette date“, meinte er, „les Arabes voulaient tous être français. A partir de cette date, une grande partie d’entre eux n’a plus voulu l’être.“ AC, OC, IV, 388: Chroniques algériennes, „Algérie 1958“. Die diesbezüglichen Einlassungen Camus’ sind nicht widerspruchsfrei. 1945 hatte er geschrieben, dass sich die Araber im Krieg von der Idee der Assimilation abgewandt hätten. Mit der Behauptung, bis 1948 hätten „alle Araber“ Franzosen werden wollen, lag er sicher völlig falsch. 41 Text des ‚Manifeste du peuple algérien’ in Claude Collot et Jean-Robert Henry: Le mouvement national algérien. Textes 1912-1954. Préface de Ahmed Mabiou, Paris, Librairie- Editions L’Harmattan, 1978, 155-165. In einem General Catroux, dem damaligen Generalgouverneur Algeriens, von Ferhat Abbas u.a. übergebenen Dokument vom 26. Mai 1943 wurde die „politische Autonomie Algeriens als souveräne Nation“ verlangt (ibid., 168). 42 AC, OC, IV, 347-350: „Le parti du manifeste“, Combat, 20-21. Mai 1945. 43 Thénault: Histoire de la guerre d’indépendance, 40; Benjamin Stora: La guerre d’Algérie expliquée à tous, Paris, Editions du Seuil, 2012, 18. 44 Unklar ist, welche Informationen Camus über die Revolte von Sétif und die sich anschließende Repression besaß, als er seine Artikel schrieb. Er hatte Algerien vor den Aufständen vom 8. Mai verlassen; cf. Paul Siblot et Jean-Louis Planche: „Le 8 mai 1945: éléments pour une analyse des positions de Camus face au nationalisme algérien“, in: Guérin (dir.): Camus et la politique, 153-171. 45 Communes mixtes wurden, im Unterschied zu den Communes de plein exercice, von einem Beamten der Kolonialverwaltung, unterstützt von einer Kommission mit nur geringen Befugnissen, regiert. Die Communes mixtes umfassten etwa 5/ 6 des vor allem von der indigenen Bevölkerung bewohnten Territoriums Nordalgeriens. 46 Camus machte sich hier das Programm der „Amis de la Démocratie“, einer von den Kommunisten ins Leben gerufenen Bewegung, zu eigen, das „praktisch“ die Billigung der Sozialisten und der Radikalen habe. 47 AC, OC, II, 617-620. In der Forschung gibt es unterschiedliche Hypothesen, warum Camus diesen Artikel nicht in die spätere Veröffentlichung aufgenommen hat; cf. dazu AC, OC, IV, 1434-1435. 48 Albert Camus éditorialiste à „L’Express“, mai 1955-février 1956. Textes réunis, presentés et commentés par Paul-F. Smets, Paris, Editions Gallimard, 1987 (Cahiers Albert Camus, no 6). Die Angaben weichen voneinander ab. Ich folge hier der Kommentierung in: AC, OC, IV, 1441. Jeanyves Guérin (Dictionnaire Albert Camus, Paris, Editions Robert Laffont, 2009, 311) spricht von 35 Artikeln. - Zwischen Oktober 1955 und März 1956 erschien L’Express als Tageszeitung. 49 Daniel: Avec Camus, 56. 50 AC, OC, III, 1068-1071: „Explication de vote“, L’Express, 30. Dezember 1955. 51 Als Darstellungen zum Algerienkrieg cf. Guy Pervillé: Pour une histoire de la guerre d’Algérie 1954-1962, Paris, Editions A. et J. Picard, 2002; ders.: La guerre d’Algérie (1954-1962), Paris, PUF, 2007 (Que sais-je? 3765); Benjamin Stora: Histoire de la guerre d’Algérie (1954-1962), Paris, Editions La Découverte, 2002 (Repères); Sylvie Thénault: Histoire de la guerre d’indépendance algérienne, Paris, Editions Flammarion, 2005. Unter den zahlreichen Sammelbänden hervorzuheben Mohammed Harbi et Benjamin Stora (dir.): La guerre d’Algérie 1954-2004, la fin de l’amnésie, Paris, Editions Robert Laffont, 116 Arts & Lettres 2004. Zum Algerienkrieg in der Geschichtswissenschaft Raphaëlle Branche: La guerre d’Algérie: une histoire apaisée? , Paris, Editions du Seuil, 2005 („L’histoire en débats“). 52 Zum FLN cf. vor allem Mohammed Harbi et Gilbert Meynier: Le FLN. Documents et histoire 1954-1962, Paris, Librairie Arthème Fayard, 2004; Gilbert Meynier: Histoire intérieure du F.L.N. 1954-1962. Préface de Mohammed Harbi, Paris, Librairie Arthème Fayard, 2002. 53 Der Krieg zwischen FLN und MNA („Krieg im Krieg“) kostete in Algerien etwa 6.000, in Frankreich etwa 4.000 (also insgesamt ungefähr 10.000) Opfer; cf. Stora, Histoire, 35-36. So wurden in der Nacht vom 28. zum 29. Mai 1957 vom FLN 374 Bewohner des Dorfes Melouza massakriert, weil sie für Anhänger von Messali Hadj und des MNA gehalten wurden. 54 Renaud de Rochebrune et Benjamin Stora: La guerre d’Algérie vue par les Algériens. 1. Le temps des armes. (Des origines à la bataille d’Alger), Paris, Editions Denoël, 2011, 261. 55 Pervillé: Pour une histoire, 142-155 („Les méthodes des ‘rebelles’“), 156-166 („Les méthodes des ‘forces de l’ordre’“). 56 Zum 20. August 1955 cf. Charles-Robert Ageron: „L’insurrection du 20 août 1955 dans le Nord-Constantinois. De la résistance armée à la guerre du peuple“, in: Ders. (dir.): La guerre d’Algérie et les Algériens 1954-1962, Paris, Armand Colin, 1997, 27-50 (mit einer Bilanz der Toten); Benjamin Stora: „Les massacres du 20 août 1955: récit historique, bilan historiographique“, in: Historical Reflections, 36, no.2, 2010, 97-107; Claire Mauss- Copeaux: Algérie, 20 août 1955, Paris, Payot, 2011 (Mauss-Copeaux schätzt die Opfer der Repression auf über 10.000); Roger Vétillard: 20 août dans le Nord-Constantinois. Un tournant dans la guerre d’Algérie? Préface de Guy Pervillé, Paris, Riveneuve éditions, 2012. 57 de Rochebrune et Stora: La guerre d’Algérie, 239. 58 AC, OC, IV, 359-361: „La bonne conscience“, L’Express, 21. Oktober 1955. 59 AC, OC, IV, 361-363: „La vraie démission“, L’Express, 25. Oktober 1955 und AC, OC, IV, 387: Chroniques algériennes, „Algérie 1958“. 60 Als Sammlung seiner Schriften zum Terrorismus cf. Albert Camus: Réflexions sur le terrorisme. Textes choisis et introduits par Jacqueline Lévi-Valensi, commentés par Philippe Garapon et Denis Salas, Paris, Editions Nicolas Philippe, 2002; siehe auch die Beiträge von Jeanyves Guérin zu ‚Terrorisme’ und ‚Violence’ in: Ders. (dir.): Dictionnaire Albert Camus, Paris, Robert Laffont, 2009, 877-881 und 924-926. 61 AC, OC, III, 1024: „Terrorisme et répression“, L’Express, 9. Juli 1955; AC, OC, IV, 365: „Premier novembre“, L’Express, 1. November 1955; AC, OC, IV, 375: „Appel pour une trêve civile en Algérie“ (22. Januar 1956). 62 AC, OC, III, 1022-1029, 1023: „Terrorisme et répression“, L’Express, 9. Juli 1955. 63 Memmi: Portrait, 160, 143 (verfasst 1955-1956). 64 AC, OC, IV, 353: „Lettre à un militant algérien“ (offener Brief vom 1. Oktober 1955). 65 Brief Camus’ an den Encounter, 18. April 1957: AC, OC, IV, 574. 66 Keine Symmetrie gab es etwa bei der Anzahl der Opfer von Repression und Terror. Hier ergab sich nach einem Brief von Germaine Tillion an Albert Camus vom 3. Januar 1959 ein Verhältnis von eins zu hundert: „(…) la proportion des assassinats entre les deux populations est pour un assassinat commis par eux [FLN] cent commis par nous“. Camus hat die Zahlen auf dem Brief eingerahmt; cf. Todd: Albert Camus, 946. 67 AC, OC, IV, 363-365: „Les raisons de l’adversaire“, L’Express, 28. Oktober 1955. 68 AC, OC, IV, 357-358: „La table ronde“, L’Express, 18. Oktober 1955. 69 AC, OC, IV, 303: Chroniques algériennes, „Avant-propos“ (Mars-avril 1958). 117 Arts & Lettres 70 Die in deutschsprachigen Publikationen anzutreffende Übersetzung von „trêve civile“ mit „Burgfrieden“ ist irreführend, da Camus’ „trêve civile“ weit enger gefasst war. Ich verwende im Folgenden den französischsprachigen Terminus, ohne ihn zu übersetzen. 71 AC, OC, IV, 374: „Appel pour une trêve civile en Algérie“ (22. Januar 1956). 72 „La seule façon d’enrayer le nationalisme algérien, c’est de supprimer l’injustice d’où il est né“, hatte Camus vor dem Krieg im Alger républicain geschrieben; cf. Jeanyves Guérin, in: Dictionnaire Albert Camus, 880 (Art. zu „Terrorisme“). 73 AC, OC, IV, 369: „Le parti de la trêve“, L’Express, 17. Januar 1956 74 Die Forschung hat übereinstimmend auf die enge Bindung Camus’ an seine Mutter und die hohe Bedeutung hingewiesen, die sie für ihn gehabt hat. 75 Carroll: Albert Camus, 101; Denise Brahimi: „Camus, la Méditerranée et l’Europe“, in: Actualités et Culture berbères, no. 52-53, Automne-hiver 2006-2007, 28-31; ähnlich Maurice Robin: Camus habe der „révolution algérienne“ positiv gegenübergestanden, bis der FLN mit seinen inakzeptablen Methoden die Führung der nationalistischen Bewegung übernommen habe; ders.: „Remarques sur l’attitude de Camus face à la guerre d’Algérie“, in: Guérin (dir.): Camus et la politique, 185-190. 76 Camus führte dieses Argument ab Mitte 1956 wiederholt gegen den algerischen Nationalismus und ein unabhängiges Algerien an. Es ist in seiner Bedeutung für seine Haltung schwer einzuschätzen. Richtig ist, dass sein Antikommunismus im Laufe der 1950er Jahre militanter wurde. Ob der algerische Nationalismus von Moskau und Kairo gesteuert wurde, wie auch Guy Mollet und seine Regierung behaupteten, scheint unzutreffend; zu den Außenbeziehungen des FLN und seinen diplomatischen Aktivitäten cf. Meynier: Histoire, 547-634 („Le F.L.N./ Etat dans le monde“), Maurice Vaïsse: „Victoire militaire, défaite diplomatique? “, in: Yves Michaud (dir.): La guerre d’Algérie (1954-1962), Paris, Odile Jacob, 2004, 28-46. 77 Mir scheint eher, dass er lange geglaubt oder gehofft hat, dem algerischen Nationalismus durch umfassende Reformen (Gerechtigkeit, Rechtsgleichheit…) das Wasser abgraben zu können. 78 AC, OC, IV, 388-389: Chroniques algériennes, „Algérie 1958“. 79 AC, OC, IV, 369: „Le parti de la trêve“, L’Express, 17. Januar 1957 80 Jean Daniel war ein Freund Camus’ und hatte diesen für den Express gewonnen. Er trat wie die übrige Redaktionsleitung des Express für Verhandlungen mit dem FLN ein und stellte sich auf die Seite der Befürworter eines unabhängigen Algerien. 81 Daniel: Avec Camus, 61-62. 82 Aron: L’Algérie, 107. 83 „Intervention de Paul Thibaud“, in: Guérin (dir.): Camus et la politique, 196-197. So auch François Chavanes: „Albert Camus et l’indépendance de l’Algérie“, in: Laurent Gervereau, Jean-Pierre Rioux et Benjamin Stora (dir.): La France en guerre d’Algérie. Novembre 1954-Juillet 1962, Paris, Publications de la BDIC, 1992, 114-121, 120. - Angesichts ihrer ‚Aufnahme’ in Frankreich nach 1962 kann man bezweifeln, ob die pieds-noirs bzw. „rapatriés“, wie sie genannt wurden, tatsächlich „une patrie (la France)“ hatten. 84 In den ersten Sätzen seines postum veröffentlichten Le premier homme wird Algerien von Camus beschrieben als ein „pays sans nom“, über das „pendant les millénaires les empires et les peuples“ hinweggezogen seien. 85 Carroll: Albert Camus, bes. ch. 7. 86 AC, OC, IV, 305: Chroniques algériennes, „Avant-propos“. 87 AC, OC, IV, 358: „La table ronde“, L’Express, 18. Oktober 1955. 88 AC, OC, IV, 362: „La vraie démission“, L’Express, 25. Oktober 1955. 118 Arts & Lettres 89 AC, OC, IV, 354: „Lettre à un militant algérien“ (offener Brief vom 1. Oktober 1955). 90 AC, OC, III, 1070: „Explication de vote“, L’Express, 30. Dezember 1955 91 AC, OC, III, 1031: „L’avenir algérien“, L’Express, 23. Juli 1955. 92 Grundlegend hierzu Camus’ Rede zur Eröffnung der ‚Maison de la Culture’ in Algier vom 8. Februar 1937: „La culture indigène. La nouvelle culture méditerranéenne“, AC, OC, I, 565-572. Die dort formulierten Auffassungen finden sich im gesamten Werk Camus’. Für seine Haltung im Algerienkrieg waren sie nicht ausschlaggebend. Aus der Fülle der Literatur zu Camus’ „nouvelle culture méditerranéenne“ cf. die auch methodisch überzeugende Arbeit von Neil Foxlee: Albert Camus’s ‚The New Mediterranean Culture’. A Text and its Contexts, Bern, Peter Lang, 2010 (Modern French Identities, v. 38). 93 AC, OC, III, 1028-1033: „L’avenir algérien“, L’Express, 23. Juli 1955. 94 AC, OC, IV, 387-394, 391-393. Auf die Merkmale dieser Variante des Föderalismus kann hier nicht eingegangen werden; cf. Marc Lauriol: Le fédéralisme et l’Algérie, Paris, La Fédération, 1957. Charles Poncet sah im „fédéralisme personnel“ Lauriols „une idée farfelue“; cf. Todd: Albert Camus, 984. 95 AC, OC, IV, 392: Chroniques algériennes, „Algérie 1958“. 96 Cf. L’Histoire, Déc. 2010, 76-84: „Entretien avec Frederick Cooper“ (Les Collections de l’Histoire, no. 49: La fin des empires coloniaux). 97 Daniel: Avec Camus, 63; Todd: Albert Camus, 861; Roger Grenier: Albert Camus, soleil et ombre. Une biographie intellectuelle, Paris, Editions Gallimard, 1987, 367. 98 Todd: Albert Camus, 859-868; Yves Courrière: La guerre d’Algérie. II: Le temps des léopards, Paris, Librairie Arthème Fayard, 1969, 239-267; Guy Dugas: „Camus et l’épisode de la Trêve civile“, in: Guerre d’Algérie Magazine, no. 1, 2002, 41-45. Zu der Episode liegen mehrere, in wichtigen Punkten allerdings voneinander abweichende, Zeugnisse von an der Initiative Beteiligten vor. 99 Emmanuel Roblès: Albert Camus et la trêve civile, Philadelphia, Celfan Edition Monographs, 1988, 12-16. „Meine Gorillas“, wie Camus sie nannte. Den ihm nahe gelegten Umzug aus dem Hotel lehnte Camus ab. Bei der Rückkehr wird ihn auf dem Weg zum Flughafen eine von z.T. bewaffneten Freunden gebildete Auto-Eskorte begleiten. 100 Die Schätzungen zur Anzahl der Teilnehmer schwanken von 500 bis 3.000; Todd: Albert Camus, 1127 (note 29); Herbert R. Lottman: Camus. Eine Biographie, Hamburg, Hoffmann und Campe, 1986, 484. 101 Angeblich war ihm das von der Führung des FLN untersagt worden; cf. Roblès: Camus, 25. Ferhat Abbas hatte sich im Juni 1955 (also zeitlich vor Camus’ Vortrag) „secrètement“ dem FLN angeschlossen (offiziell wird er das im April 1956 tun); Stora: Le mystère de Gaulle, 146. - Im Saal befand sich auch Frantz Fanon, der Camus’ Ansprache abschätzig „Liebe Schwester-Rede“ nannte; cf. Walzer, „Camus“, 206. 102 Mendès France hatte im Juli 1954 als Ministerpräsident die Abkommen von Genf unterzeichnet (die den Indochinakrieg beendeten und die ‚Preisgabe’ Indochinas bedeuteten) und die interne Autonomie Tunesiens anerkannt. Er war für eine Neudefinition der Beziehungen Frankreichs zu den afrikanischen Besitzungen eingetreten, aber nicht, um die Beziehungen zu beenden, sondern diese auf eine festere Basis zu stellen. Wie die meisten Abgeordneten war Mendès France Gegner einer Unabhängigkeit Algeriens. Er wird sich der Politik de Gaulles widersetzen und lange (1960) für eine „communauté franco-algérienne“ plädieren. 103 Was, so Soustelle, ist in diesem „conflit tout en guérilla et terrorisme aveugle, auquel des femmes participent“, zivil und was nicht? Sind die algerischen Bauern, die abends den Pflug aus der Hand legen, um das Gewehr des „fellagha“ zu ergreifen (die „demi-pensi- 119 Arts & Lettres onnaires“, wie die Militärs sie nannten), als Zivilpersonen zu betrachten? Charles Poncet: „L’impossible trêve civile“, in: Le Magazine littéraire, April 1990, 28-30. 104 Eine Unterredung mit Mollet in Algier verlief entmutigend; Lacoste drohte den Mitgliedern des Komitees, sie zu „zerbrechen“ („briser“), falls sie sich ihm in den Weg stellten; cf. Roblès: Albert Camus, 33-38, 46-47, 52. - Messali Hadj erklärte sich mit dem Vorschlag „im Prinzip“ einverstanden, der FLN „prêt à en discuter“; cf. Poncet: „L’impossible trêve civile“. Eine eindeutige Zustimmung haben Camus und seine Freunde vom FLN nicht erhalten. Lebjaoui und Ouzegane hatten dessen Einverständnis von der (vorherigen? ) Billigung durch die französische Regierung abhängig gemacht. 105 Zit. bei Jeannine Verdès-Leroux: Les Français d’Algérie de 1830 à aujourd’hui. Une page d’histoire déchirée, Paris, Librairie Arthème Fayard, 2001, 430, fn. 37. Mendès France trat im Mai 1956 aus der Regierung aus. 106 So nach dem Vortrag Ouzegane gegenüber Bénisti; cf. Todd: Albert Camus, 865. 107 So etwa Mohamed Lebjaoui: Vérités sur la revolution algérienne, Paris, Editions Gallimard, 1970, 47: Die Entscheidung, sich an der Initiative zu beteiligen, sei von der „direction nationale“ des FLN nach einer „longue et sérieuse discussion“ getroffen worden. Sicher ist das aber nicht; cf. Todd: Albert Camus, 865-866, 875; Jeanyves Guérin: Albert Camus. Portrait de l’artiste en citoyen, Paris, Editions François Bourin, 1993, 242. 108 Nach Benjamin Stora wurde der „Appel pour une trêve civile“ von Camus gemeinsam mit Abane Ramdane geheim vorbereitet („préparée secrètement avec le dirigeant du FLN Abane Ramdane“): „L’emblème d’une Algérie plurielle. Entretien avec Bejamin Stora“, in: Télérama hors série: Camus. Le dernier des justes, Paris, 2009, 29. Leider gibt Stora keine Quelle für seine Behauptung an. Abane Ramdane war der politische Kopf des FLN, der Inspirator und Organisator des ersten Kongresses des FLN in Soummam (August 1956). Ramdane war Kritiker von Gewalt (er hat die Offensive vom 20. August 1955 verurteilt), aber auch ihr entschiedener Befürworter und Anwalt, um die Ziele des FLN durchzusetzen. 109 Amar Ouzegane: Le meilleur combat, Paris, René Julliard, 1962, 210-244; Lebjaoui: Vérités, 38-49. Ouzegane und Camus kannten sich aus ihrer gemeinsamen Zeit in der kommunistischen Partei; er war (wie Camus) später aus der Partei ausgeschlossen worden. Der Entwurf der Charta von Soummam stammt im Wesentlichen aus der Feder von Ouzegane. 110 Lebjaoui sah die Ablehnung der französischen Regierung voraus, wenn er nach dem Vortrag gegenüber Camus erklärte, dass „la répression contre les civils est la base même de sa politique dite ‚de pacification’“; cf. Roblès: Albert Camus, 51. 111 Zu Charles Poncet, der zu den Initiatoren der Konferenz gehörte, wird ein sich getäuscht fühlender Camus später sagen: „Ils nous ont bien eus tout de même…“; cf. Todd: Albert Camus, 946. Nach André Rossfelder, einem weiteren Freund Camus’, hat sich Camus diesem gegenüber unmittelbar im Anschluss an den Vortrag im gleichen Sinne geäußert („Je crois qu’ils nous ont eus“). 112 Cf. seinen Artikel in L’Express vom 6. Januar 1956: „Le seul espoir“; AC, OC, III, 1074- 1076. 113 Dass dies bislang übersehen wurde, ist vermutlich auch darauf zurückzuführen, dass Camus die beiden Artikel vom Juli 1955, in denen er die Einberufung einer „Konferenz“ vorschlug, nicht in seine spätere Sammlung der Chroniques algériennes aufgenommen hat. Dadurch vermitteln die Artikel im Express eine Kohärenz, die sie in dem Maße nicht hatten. 114 AC, OC, III, 1027: „Terrorisme et répression“, L’Express, 9. Juli 1955; weiter erläutert wird der Vorschlag einer „Konferenz“ im Artikel vom 23. Juli 1955: „L’avenir algérien“, ibid., 1028-1033. 120 Arts & Lettres 115 AC, OC, IV, 358. Von einer „table ronde“ sprach Camus auch in seinem Artikel vom 4. November 1955: „La charte de janvier“, ibid., 1037-1039. 116 Camus vermeidet wie die offiziellen Stellen Frankreichs den Terminus „Krieg“. Die Bezeichnung als Krieg würde bedeuten, dass man dem Gegner die Qualität eines Gesprächspartners zuerkennt, mit dem man eventuell verhandelt und Frieden schließt, mit der Möglichkeit der späteren Unabhängigkeit. Offiziell wurde der Algerienkrieg in Frankreich erst ab 1999 als „Krieg“ bezeichnet. 117 AC, OC, IV, 372 - 380: „Appel pour une trêve civile en Algérie“ (22. Januar 1956). 118 Das war ihnen auch bewusst. Um breitere Resonanz zu finden, gründeten sie, als „La Fédération des Libéraux“, die von Juni 1956 bis April 1957 erscheinende Zeitschrift Espoir-Algérie. Camus beteiligte sich nicht. Mit der Radikalisierung des Konflikts und der Polarisierung der Meinungen wurden gemäßigte, reformbereite Kräfte weiter marginalisiert, während sich die Masse der Algerien-Franzosen immer stärker an ihre Privilegien klammerte. 119 Roblès: Albert Camus, 6. 120 Abane Ramdane wurde Ende Dezember 1957 von seinen eigenen Kampfgenossen ermordet (FLN-offiziell war er im Mai 1958 auf dem ‚Feld der Ehre’ gestorben). 121 Jean El Mouhoub Amrouche: Journal 1928-1962, Non Lieu, 2009, 373, zit. bei Virgil Tanase: Camus, Paris, Editions Gallimard, 2010, 298-299. 122 AC, OC, III, 1026: „Terrorisme et répression“, L’Express, 9. Juli 1955. Zum Prinzip der „responsabilité collective“, auf das sich die Armee ab Mai 1955 zur Rechtfertigung von Vergeltungsmaßnahmen gegen vermeintliche „Komplizen“ von Attentaten berief, cf. ibid., 1444. 123 Camus spricht selbst vom „no man’s land“ in seinem offenen Brief an Aziz Kessous vom 1. Oktober 1955 und in seinem Vortrag in Algier vom 22. Januar 1956: AC, OC, IV, 353 und 377. Allerdings wollte er zu der Zeit noch von dieser gefährlichen Position aus „zwischen den beiden Armeen“, wo „die Kugeln des Krieges“ von allen Seiten einschlagen, gemeinsam mit gemäßigten Arabern und reformbereiten Franzosen den Kampf gegen Fatalismus und Terror und für die Koexistenz beider Völker fortführen. 124 AC, OC, III, 1078-1081: „Remerciement à Mozart“, L’Express, 2. Februar 1956. 125 Michel Crouzet, „La bataille des intellectuels français“, in: La Nef, no. 12-13, octobre 1962-janvier 1963, 47-65, 51. 126 Das Engagement der Intellektuellen lässt sich nicht auf ein Rechts-Links-Schema reduzieren und war weit vielfältiger als angenommen. Das zeigen die Ausstellung (Juni-Oktober 2012) des Institut Mémoire de l’Edition Contemporaine (IMEC)-Abbaye d’Ardenne und der die Ausstellung begleitende Katalog: Catherine Brun et Olivier Penot-Lacassagne: Engagements et déchirements. Les intellectuels et la guerre d’Algérie, Paris, Editions Gallimard/ IMEC, 2012. Die Autoren haben für die Ausstellung und den hervorragenden, Neues bietenden Band auch Archive ausgewertet. 127 „Lettre à une revue étrangère“, 18. April 1957 (veröffentlicht im Encounter, no. 45, Juni 1957) und „Ebauche de lettre manuscrite“ (undatiert): AC, OC, IV, 574-577. 128 Zu dieser Episode und Camus’ Aufenthalt in Stockholm siehe Todd: Albert Camus, ch. 47; Tanase: Camus, 331-333. Bei beiden auch der Verweis auf die Version der Ausführungen Camus’, wie sie sein schwedischer Dolmetscher Carl Gustav Bjurström in Erinnerung hat (die stets kommentierte Version beruht auf dem Bericht des Journalisten von Le Monde, der behauptete, im Besitz einer Aufnahme zu sein, die er aber nicht finden konnte, als man später danach fragte). Mit hämischem Unterton wird Simone de Beauvoir bei Camus’ Tod von „ce juste sans justice“ sprechen. Dies.: La force des choses, Paris, Editions Gallimard, 1963, 508. Tanase schreibt diese Formulierung (auch? ) Sartre zu, 121 Arts & Lettres gibt aber keine Quelle an; Tanase: Camus, 333. - Die auf die handliche Formel „la mère avant la justice“ reduzierte und in alle Richtungen ausgedeutete Äußerung liegt freilich durchaus auf der Linie von Camus’ Tagebucheinträgen und seinen früheren Äußerungen, etwa gegenüber Roblès im März 1956, allerdings mit einer anderen Nuance, wenn es dort heißt: „(…) J’aime la justice mais j’aime aussi ma mère.“ Roblès: Albert Camus, 48. 129 Carroll: Albert Camus, 182. 130 Todd: Albert Camus, 945. Camus setzte sich auch für Ouzegane ein, der ihn, „au moins par omission“, bei der Sache der „trêve civile“ dupiert hatte; ibid., 946. 131 Brief an Jean Grenier, 4. August 1958, Œuvres complètes d’Albert Camus, vol. IX : Albert Camus - Jean Grenier Correspondance 1932-1960, Notices de Roger Grenier, Paris, Editions Gallimard et Club de l’Honnête Homme, 1983, 394; Tagebucheintrag vom 29. Juli 1958: AC, OC, IV, 1284; Brief an Nicolas Chiaromonte, 19. Oktober 1959, zit. bei Rey: „Camus l’Algérien“, 14. 132 „Mais tu oublies (…) l’importance décisive que peut avoir le développement économique de l’Algérie“; so Camus zu Poncet im März/ April 1958; cf. Todd: Albert Camus, 983-984. In Algerien waren Erdölfelder im Januar, Juni und November 1956 entdeckt worden. 133 Cf. Stora: Le mystère de Gaulle. In seiner Rede („Discours sur l’autodétermination de l’Algérie“) hatte de Gaulle neben der Unabhängigkeit („sécession“) und der „francisation complète“ eine „union étroite“ zwischen Frankreich und Algerien als Lösungsmöglichkeit skizziert. Das algerische Volk sollte über diese Lösungen abstimmen; Text der Rede de Gaulles, ibid., 235-242. - In einer Unterredung mit de Gaulle vom 5. März 1958 hatte Camus den Eindruck gewonnen, dass de Gaulle eine „föderale Lösung für Algerien“ befürwortete; cf. Todd: Albert Camus, 983; zur Unterredung siehe auch Camus’ knappen Tagebucheintrag vom 5. März 1958 (allerdings ohne Hinweis auf den föderalen Aspekt ); AC, OC, IV, 1268: Carnets 1949-1959, Cahier VIII (août 1954-juillet 1958). 134 Cf. Todd: Albert Camus, 932 und 933 (ungefähr im April 1957). Von daher nicht zutreffend Walzer: „Albert Camus“, 204. 135 Pervillé: „La communauté algérienne“, 106. 136 Hamid Nacer-Khoda: Albert Camus Jean Sénac ou le fils rebelle. Préface de Guy Dugas, Paris, Editions Paris-Méditerranée, 2004; Christiane Chaulet-Achour: „Camus, Roblès, Sénac: le choc des humanismes“, in: Actualités et culture berbères, no. 52-53, automnehiver 2007, 34-37. Zu den übrigen Mitgliedern der communauté algérienne des écrivains und deren Haltung cf. Pervillé: „La communauté algérienne“; Spiquel: „Camus“; Dugas: „Camus“. 137 Todd: Albert Camus, 1049; Guérin, in: Ders. (dir.): Dictionnaire Albert Camus, 423 (Artikel zum Stichwort „Intellectuel“). 138 Auffallend ist der Gebrauch des Plusquamperfektes („avait…aimé“). Für Alain Schaffner klingt dies wie das Läuten einer „Totenglocke“ („sonne comme un glas“); AC, OC, IV, 1356. 139 Der beste Journalist ist für mich der Camus von 1939 mit seinen Artikeln im Alger républicain. So auch Todd: Albert Camus, 1049. 140 Paul Thibaud: „L’événement qui nous tourmentait“, in: Jean-Pierre Rioux et Jean-François Sirinelli (dir.): La guerre d’Algérie et les intellectuels français, Paris, Editions Complexe, 1991, 377-386, 378-379. 141 AVC, OC, IV. 303: Chroniques algériennes, „Avant-propos“. - Auch Camus, so Albert Memmi später, „(…) n’ pas su faire la philosophie de nos impossibilités“ (kurs. i. O.); „Intervention d’Albert Memmi“, in: Guérin (dir.): Camus et la politique, 195. Beide, Camus und Memmi (ein aus Tunis stammender Jude), befanden sich, so Memmi, aufgrund Her- 122 Arts & Lettres kunft und Lebensweg in einer „situation commune“ (ibid.). Aus der „gemeinsamen Situation“ zogen beide freilich unterschiedliche praktisch-politische Schlüsse. 142 Walzer: „Albert Camus“, 202. Résumé: Clemens A. Wurm, Albert Camus, l’Algérie et la guerre d’Algérie examine l’attitude de Camus par rapport à l’Algérie et à la guerre d’Algérie à l’aide des trois séries d’articles publiées par ce dernier pour divers journaux en 1939, 1945 et 1955/ 56. Camus a développé un point de vue particulier sur l’Algérie et le problème algérien avant même que la guerre d’Algérie ne se déclenche ouvertement en novembre 1954. Ses articles étaient ainsi axés autour de réflexions humanitaires et de considérations politiques et pratiques. Camus, constatant l’échec patent d’une politique d’assimilation que la puissance coloniale n’avait d’ailleurs jamais sérieusement entreprise, plaidait pour une fédération entre la France et l’Algérie. Il refusait une séparation entre l’Algérie et la France, craignant que l’indépendance de l’Algérie n’entraîne l’éviction des Européens d’Algérie. Camus est resté fidèle à ses principes. Il ne les a pas trahis non plus durant la guerre d’Algérie.