eJournals lendemains 37/148

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Narr Verlag Tübingen
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2012
37148

Désiré Nisard im Umfeld der Ecole Normale Supérieure: Entstehungsfeld einer neuen Wissenskultur?

2012
Marie-Therese Mäder
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13: 51: 29 83 Arts & Lettres Marie-Therese Mäder Désiré Nisard im Umfeld der Ecole Normale Supérieure: Entstehungsfeld einer neuen Wissenskultur? Der vorliegende Beitrag resümiert Forschungshypothesen einer Dissertation, die im Rahmen eines von Dorothee Röseberg und Heinz Thoma angestoßenen Forschungsprojekts zur Entwicklung französischer Wissenskultur verfasst wird. 1 In ihrem Zentrum steht die Hypothese von der Existenz einer für das französische Ausbildungssystem spezifischen Wissenskultur, die sich in Form eines kulturellen Muster in den vergangenen 200 Jahren entwickelt und verfestigt hat. Beispielhaft geht es dabei um die Herausbildung des kulturellen Musters former la raison, das als funktionales Differenzkonzept zum Deutungsmuster Bildung 2 verstanden wird und seit dem 19. Jahrhundert in Frankreich von prägendem Einfluss ist. Es entsteht aus der Zusammenführung klassisch-rhetorischer Traditionen, die über die Jesuitenkollegien vermittelt werden, und einer neuen Pragmatik der Aufklärung, die szientifisch ausgerichtet ist und Vernunft mit Wissen, Fortschritt und Freiheit verbindet. Zentrale Ausgangspunkte auf der Suche nach der Herkunft des kulturellen Musters sind somit das 17. und 18. Jahrhundert. Wissenskultur wird dabei in erster Linie als deskriptiver Begriff verstanden, der nach Deutungsprozessen und Praktiken fragt, die mit bestimmten Ordnungs- und Strukturierungsverfahren von Wissen verbunden sind. 3 In dieser Hinsicht akzentuiert der Terminus die kulturwissenschaftliche Blickrichtung des Vorhabens und geht über ideen- und geistesgeschichtliche Fragestellungen hinaus. Als besonders hilfreich erweist es sich hierbei, mit der Forschungsheuristik des kulturellen Musters 4 zu arbeiten. Der Leitgedanke dieses Ansatzes führt zu der Frage, wie sich kulturelle Sinnmuster und Wissensordnungen historisch generieren, habitualisieren und schließlich materialisieren. In diesem Kontext spielen Institutionen und Akteure eine entscheidende Rolle. Sie verhelfen dem kulturellen Muster zu seiner Habitualisierung und bilden die Brücke zwischen der theoretischen und praktischen Ebene. Ein wichtiger Träger scheint hierbei der Literaturhistoriker Désiré Nisard (1806-1888) zu sein. Damit folgen wir der These des Bildungsforschers André Chervel, der in seiner aufschlussreichen Untersuchung über die agrégation, die wichtigste Rekrutierungsprüfung für die oberen Posten im französischen Schuldienst, davon ausgeht, dass Nisard in der Position des maître de conférences für französische Literatur an der Ecole Normale in Paris und als Jurymitglied der agrégation des lettres wesentlich dazu beigetragen hat, die Ausbildung der dissertation als Kernstück moderner Allgemeinbildung im 19. Jahrhundert voranzutreiben. 5 Die dissertation ist ein noch heute in der Schule und Universität praktizierter Aufsatz, der einer bestimmten Logik folgt und der Spiegel für zentrale Wert- und Normvorstellungen ist. Sie gilt als Relikt des 18. Jahrhunderts, wurde aber erst ein Jahrhundert später zu einer festen Institution 84 Arts & Lettres in den Rhetorik- und Philosophieklassen nachdem sie den traditionellen discours verdrängt hatte. Dieser bestand aus rhetorischen Stilübungen und wurde hauptsächlich in den Kollegien der Jesuiten praktiziert, wo man besonderen Wert auf eine humanistische Ausbildung und die Pflege des römisch-antiken Erbes legte. Mit Chervel können wir davon ausgehen, dass die dissertation gemeinsam mit der explication de textes français und der analyse littéraire alle Elemente vereint, die innerhalb der humanités classiques ein neues Modell französischer Wissenskultur entstehen lassen. 6 Das würde im Umkehrschluss bedeuten, dass Nisard an der Entwicklung eines institutionell gefestigten kulturellen Musters beteiligt ist, das für die Ausbildung französischer Eliten mit einem besonders hohen normativen Anspruch auftritt und damit weitreichende kulturelle Praktiken prägt. Dabei wird betont, dass die renommierte Ecole Normale und die ihr zu Grunde liegenden Ausleseverfahren, die sogenannten concours, der zentrale Ort für die Ausformung der Übungen ist: „L’entrée de la dissertation dans le système universitaire français devait, à terme, entraîner la substitution d’un modèle pédagogique à un autre et c’est le concours de l’agrégation des lettres qui va présider à cette opération.“ 7 Die Ecole Normale gehört mit Abstand zu den wichtigsten institutionellen Neugründungen des 18./ 19. Jahrhunderts und blickt auf eine wechselhafte Geschichte zurück, die hier nur kurz angerissen werden soll. 8 Sie wird 1794 in Paris gegründet und nur wenige Monate später geschlossen. Die Wiedereröffnung erfolgt in den Jahren 1808/ 10 unter Napoleon, währt aber nicht lange, denn schon am 9. Juni 1822 wird sie von Frayssinous, dem Bischof und Leiter der Schule, auf Anordnung des Innenministers Corbière für insgesamt vier Jahre erneut geschlossen. Die liberale Lehranstalt ist der konservativen Regierung, die dank des neuen Wahlrechts von 1820 an die Macht gelangt ist, ein Dorn im Auge. Sie kann aber nicht verhindern, dass die Schule 1826 unter dem Namen Ecole préparatoire de Paris ihre Pforten erneut öffnet und mit Beginn der Julimonarchie zu ihrem alten Namen zurückfindet. 1845 erhält sie schließlich ihre endgültige Bezeichnung und heißt von da an Ecole Normale Supérieure. In jedem Fall entwickelt sie sich zu einer entscheidenden Schnittstelle, an der bestimmte Transformationsprozesse stattfinden. Die Frage nach den Orten und Trägern, die an diesen Prozessen beteiligt sind, ist bislang kaum analysiert worden und bildet einen ersten Untersuchungsschwerpunkt innerhalb des Projektes. Somit sind folgende Aspekte zu klären: Welches Ordnungssystem wird dem neuen Wissen gegeben? Welche zentralen Kategorien knüpfen sich daran? An welchen Orten und unter welchen Akteuren findet die Habitualisierung des kulturellen Musters statt? Wie gestalten sich die sozio-politischen Rahmenbedingungen? Gibt es historische Schlüsselsituationen, in denen wichtige Weichen gestellt werden? Die Klärung dieser Fragen ist von grundlegender Bedeutung, wenn man sich für Kultur auch als Praxis interessiert. Nun ist Nisard gewiss nicht der einzige Träger, der die Habitualisierung des kulturellen Musters in Form der dissertation littéraire vorantreibt. Ganz im Gegenteil. Er gehört zu einem großen Netz an Personen, die institutionell miteinander verwoben sind und bestimmte Elemente der jeweiligen Traditionslinien aus dem 17. oder 85 Arts & Lettres 18. Jahrhundert weitergeben, verändern und erneuern. Folgt man den Ausführungen von Dorothee Röseberg, so spielt der Mathematiker, Philosoph und Politiker Condorcet in diesem Zusammenhang eine besonders wichtige Rolle. 9 Er gehört zu den engagiertesten Verfechtern szientifischer Denkmethoden und legt den Abgeordneten des Konvents 1792 einen Erziehungsplan vor, der inhaltlich stark mathematisch-naturwissenschaftlich ausgelegt ist und raison als Schlüsselkonzept einer übergreifenden wissenschaftlichen Methode begreift, die sowohl eine anthropologisch-philosophische als auch eine wissenschaftsphilosophische Dimension hat. Condorcet selbst kann sein Modell mit den dazugehörigen Grundpositionen nicht mehr in die Praxis umsetzen. In den folgenden Wirren des Krieges und in der zunehmend revolutionär-patriotischen Grundstimmung, wird sein Plan verworfen und auch später nicht direkt diskutiert. Dennoch trägt er zur Ausarbeitung weiterer Bildungsentwürfe bei und liefert wichtige Erkenntnisse, an die insbesondere Auguste Comte mit seiner positivistischen Bildungsphilosophie sowie die Gruppe der Ideologen anknüpfen. 10 Letztere wollen die Ideen der Aufklärung in die Praxis überführen und gehören schließlich zu den Gründern der Ecole Normale, was für unseren Zusammenhang insofern von Belang ist, als damit das szientifische Denkmodell unter dem Signum praktischer Nützlichkeit institutionalisiert und in das 19. Jahrhundert überführt wird. Dies zeigt sich ganz konkret am Beispiel des späteren Bildungsministers Victor Cousin, der zwar kein Anhänger der Ideologen war und sich in seiner Zeit als Leiter der Einrichtung (1835-1840) weitestgehend von den Theoriebildungen dieser Gruppe fernhielt, aber beständig auf ihr grundlegendes methodisches Instrumentarium, in dessen Zentrum die Analyse steht, zurückgriff. 11 Insofern könnte Cousin ein weiterer Akteur innerhalb des Netzes an Personen sein, die an der Habitualisierung des kulturellen Musters beteiligt sind. Mit Beginn der Julimonarchie lässt sich dann ein Einbruch feststellen, der sich darin äußert, dass die Ideologen an Einfluss verlieren und traditionelle Bildungspraktiken, wie sie unter den Jesuiten ausgeübt worden sind, wieder verstärkt Eingang in den Unterricht finden. Folglich stellt sich die Frage, wann und unter welchen Umständen die szientifische Grundstimmung an die Ecole Normale zurückkehrt und wie der positivistische Ansatz von Auguste Comte damit umgeht. Denn das scheint der nächste große Schritt zu sein, bei dem der Bogen zum rationalistischen Sensualismus der französischen Aufklärung geschlagen wird, und in dessen Folge die dissertation d’histoire littéraire ihren Einzug in die staatliche Prüfung des baccalauréat nimmt. Der von Paul Dubois 12 verfasste Bericht aus dem Jahr 1851 ist diesbezüglich eine bemerkenswerte Darstellung, zeigt er doch auf eindrucksvolle Weise, dass es bereits einem Teil der literarischen Elite gelungen ist, den gewünschten Stil der dissertation anzuwenden: „Dans la composition française il est un mérite que nous tenons à constater, c’est la correction, le naturel, la simplicité de la diction. Aux deux ou trois exceptions qui retracent encore la tradition de faux goût et de déclamation ambitieuse d’une certaine littérature, nous avons reconnu l’influence d’un sérieux commerce avec les grands et sobres écrivains du XVIIe siècle.“ 13 Auch wenn hier noch von der composition die Rede ist, so wird deutlich, 86 Arts & Lettres dass tatsächlich ein Wandel stattgefunden hat. Inwiefern aber ist Nisard an dieser Entwicklung beteiligt? Mit dieser Frage greifen wir noch einmal die These von Chervel auf, der betont, dass der Literaturkritiker in seiner Position als maître de conférences und Jurymitglied der agrégration des lettres einen wesentlichen Anteil an der stilistischen Umformung des traditionellen discours in die dissertation hat. Ein Blick in dessen persönliche und wissenschaftliche Biographie scheint hilfreich, um die Vorgänge besser verstehen zu können. Nisard wird 1806, genau in dem Jahr, als Napoleon beginnt, die strukturellen Grundlagen für ein einheitliches Bildungssystem zu legen, als ältester von fünf Geschwistern in Châtillon-sur-Seine im Burgund geboren und wächst in gutbürgerlichen Verhältnissen auf. Im Alter von 15 Jahren schickt ihn sein Vater nach Paris, wo er eine Ausbildung am collège Sainte-Barbe absolviert. Die Einrichtung steht unter der Leitung des abbé Nicolle, der gemeinsam mit seinem jüngeren Bruder zu den Gründervätern des collège zählt. Darüber hinaus ist nicht viel bekannt über die Schulzeit von Nisard. Ein wichtiger Einschnitt ist in jedem Fall der Tod seiner beiden Eltern im Jahr 1822. Da ist er erst 16 Jahre alt und wird zum alleinigen Versorger seiner Familie. Diese Tatsache vermag seinen großen Ehrgeiz zu erklären, der ihn über vergleichsweise ungewöhnliche Wege bis an die Spitze der Ecole Normale trägt. Zuvor legt er jedoch sein baccalauréat ab und beginnt eine Karriere als Journalist beim Journal des Débats - eine unter der Revolutionszeit gegründete Wochenzeitung, die ihren Aufschwung im Kaiserreich erlebt und später zum Hauptorgan der Opposition wird. Dort also schreibt Nisard seine ersten regimekritischen Artikel und sammelt Erfahrung im Umgang mit der Feder, die er schon bald gegen das Gewehr eintauschen wird. Er beteiligt sich aktiv an den Barrikadenkämpfen, die im Juli 1830 den endgültigen Sturz der Bourbonen zur Folge haben und seinen Onkel mit in den Tod reißen. Nisard bleibt der Kritik treu und schreibt ab 1831 ein Jahr lang für die Tageszeitung Le National, wo er auf seinen zukünftigen Rivalen Sainte-Beuve trifft, der sich zuvor bei der liberalen Wochenzeitung Le Globe einen Namen gemacht hat. Beide soll eine langjährige Auseinandersetzung trennen, die zunächst auf literarischer und später auf institutioneller Ebene ausgefochten wird. 14 Die Polemik entbrennt 1833 als Nisard einen Artikel in der Revue de Paris veröffentlicht und darin seine republikanisch konservative Haltung innerhalb der Literaturkritik zum Ausdruck bringt. „D’un commencement de réaction contre la littérature facile“ bildet den Auftakt einer ganzen Reihe von Texten, in denen Nisard den kommerziellen Charakter einer zur décadence tendierenden Literatur anprangert, wie sie kennzeichnend für die Moderne sei. So vereint seine erste große Schrift, die 1834 mit dem programmatischen Titel Etudes de mœurs et de critique sur les poètes latins de la décadence erscheint, auf gelungene Weise seine Vorstellung vom moralischsittlichen Verfall der Literatur. Der zur gemäßigten Opposition gehörende Unterrichtsminister Guizot findet Gefallen an diesem Text und verschafft Nisard noch im selben Jahr einen Posten als maître de conférences für französische Literatur an der renommierten Ecole Normale. Damit gelingt Nisard der institutionelle Aufstieg, der 87 Arts & Lettres eigentlich Sainte-Beuve vorbehalten war. 15 Dieser sollte nämlich auf dessen persönlichen Wunsch die Nachfolge von Jean-Jacques Ampère antreten und muss nun über 30 Jahre auf eine Lehrtätigkeit an der Schule warten. Nisard aber profitiert von seinen guten Verbindungen zu Guizot und Cousin und bleibt der Einrichtung in der Position des maître de conférences zehn Jahre erhalten. Als solcher ist er nunmehr berechtigt, Vorlesungen zu halten und Übungen zu betreuen, die auf die concours d’agrégation vorbereiten sollen. Jene Prüfungen also, die noch heute als Torhütermechanismen fungieren, um die Eliten auszuwählen, und die laut Chervel an der Herausbildung eines neuen Wissenschaftsideals beteiligt sind. Nisard nutzt all diese Privilegien, um die von ihm konzipierte Literaturgeschichte in den Dienst der Nationalerziehung zu stellen und „etabliert zugleich eine Literaturdoktrin, die sich eng an erzieherischen Postulaten für die Führungskräfte orientiert.“ 16 Er reduziert Literaturgeschichte auf Ideengeschichte und erhebt das 17. Jahrhundert zum nationalen Vorbild, in dem der französische Geist in seiner höchsten Form erscheint. Für den Literaturunterricht bedeutet die Aufwertung des siècle classique, dass nunmehr vor allem französische Schriftsteller des 17. Jahrhunderts auf dem Programm stehen. Die ausgewählten Autoren und Texte gelten als besonders geeignet, um die ewigen menschlichen Eigenschaften, die sich in der Trias vom Wahren, Guten und Schönen konzentrieren, zu vermitteln. So schildert es rückblickend auch einer von Nisards Schülern, der anlässlich des 100jährigen Bestehens der ENS seine Erinnerungen an den Lehrer und dessen Unterricht niedergeschrieben hat: „Dès le début, le jeune maître avait indiqué le caractère de son enseignement. Chercher dans l’étude des auteurs classiques l’image de l’esprit français, et dans l’esprit français lui-même l’image la plus complète et la plus pure de l’esprit humain; tirer des chefs-d’œuvre de notre langue la connaissance de l’homme et de la vie; découvrir à la fois le beau et le bien, et de l’instruction proprement dite faire sortir l’éducation, tel était le but qu’il se proposait et vers lequel il voulait guider les futurs guides de la jeunesse.“ 17 Heinz Thoma hat gezeigt, dass der literarische Rückgriff auf das 17. Jahrhundert im Ersten Kaiserreich einsetzt und mit der Literaturgeschichte von Nisard einen ersten Höhepunkt erreicht. 18 Folgen wir seiner These, so rückt Nisard das Siècle de Louis XIV in eine bürgerliche Perspektive und trennt es somit von seinem Entstehungskontext. Dieser Prozess der Enthistorisierung lässt sich nur vor dem Hintergrund der vielfältigen Widersprüche des 19. Jahrhunderts verstehen. Das um nationalen Konsens bemühte Bürgertum kämpft um die Festigung seiner politischen Macht und sieht das 17. Jahrhundert als eine harmonische Zeit an, in der die Interessen der Eliten gleichermaßen vertreten wurden. Insofern ist der Ausgleich zwischen Aristokratie und Bürgertum ausschlaggebend für die Sichtweise auf das 17. Jahrhundert. Raison, goût, ordre und unité werden zu Vorzügen dieser Epoche deklariert, nationalistisch verengt und für politisch-didaktische Zwecke eingesetzt. Viel entscheidender für unseren Zusammenhang erscheint aber eine ganz andere Passage aus den Memoiren von Thierry Froment. Denn liest man weiter, so kommt klar zum Ausdruck, dass Autoren wie Corneille, Racine und Molière nicht 88 Arts & Lettres mehr nur der rhetorischen Schulung dienen wie noch zu Beginn des Jahrhunderts im Rahmen der klassisch-humanistischen Bildung. Vielmehr werden sie nun herangezogen, um die Verbindung von Eloquenz und Logik zu veranschaulichen: „Lire et comprendre, entrer au cœur des œuvres de génie, c’est l’art qu’enseigna M. Nisard à l’Ecole Normale. Une page de Racine ou de Bourdaloue, lue tout haut par un élève, fournissait au maître le texte d’ingénieuses observations et de pénétrantes analyses. […] L’étude des mots était vraiment avec lui l’étude des choses. II s’attachait à marquer dans les meilleurs écrits du XVIIe siècle les rapports exacts des mots à l’idée, la convenance du style au sujet, la conformité du langage avec le bon sens et la vérité. Dans le choix des tours et des images, dans les nuances du discours il faisait sentir la logique secrète qui donne aux phrases leur physionomie et leur mouvement. Il habituait ses auditeurs à n’être touchés que de ce qui est vrai, à se défier des grâces spécieuses, des travers aimables qui, jusque dans un Massillon, peuvent atteindre la rectitude du jugement et flattent l’imagination sans éclairer l’intelligence.“ 19 Vollzieht sich etwa hier die für die Wissenskultur eigentümliche Verschmelzung von klassisch-rhetorischen Modellen mit den mathematisch-szientifischen Ordnungsprinzipien der Kombinatorik und des Beweises? Während der eng an die Praxis der Jesuiten angelehnte Unterricht der classe de rhétorique die Schüler befähigen sollte, die Argumentationslinien und rhetorischen Überzeugungsstrategien großer lateinischer und französischer Redner zu imitieren, geht es hier eindeutig um die methodische Ausbildung analytischer Fähigkeiten. Das Wahre (le vrai) gehört zu den Schlüsselkategorien des esprit français, doch ähnlich wie in den Naturwissenschaften führt erst die Beobachtung (l’observation) und die Ordnung der Dinge (les rapports des mots à l’idée) zu erkenntnistheoretischem Gewinn. Genau darin besteht auch der große Unterschied zwischen dem traditionellen discours und der dissertation. 20 Zwar folgt der discours ebenfalls einer genauen Struktur, in der von der inventio über die dispositio bis zur elocutio alles durchkomponiert ist. Doch geht es in der dissertation nicht nur um die Anwendung rhetorischer Prinzipien oder die beliebige Aneinanderreihung von Begriffen. Von zentraler Bedeutung für das erfolgreiche Abschneiden in dieser Übung ist die Fähigkeit, jede Fragestellung auf grundlegende Probleme zurückzuführen und über eine Kombination aus Wissen und Logik zu einer Lösung zu gelangen wie der folgende Ausschnitt eines Juryberichts um 1900 auf anschauliche Weise bezeugt: „[…] une dissertation est par nature tout autre chose qu’un simple assemblage d’observations et de citations plus ou moins artificiellement groupées. C’est proprement l’exposé d’une idée. Il faut de toute nécessité que cette idée apparaisse dès le début et qu’elle se développe progressivement de manière à devenir de plus en plus claire, de plus en plus solide, à mesure que la démonstration entreprise se poursuit.“ 21 Im ausgehenden 19. Jahrhundert scheint man nun endlich in der Lage zu sein, die genauen Anforderungen an die dissertation zu formulieren. Mit ihrem Einzug in die staatliche Prüfung des baccalauréat gilt sie dann auch auf institutioneller Ebene als etabliert. 89 Arts & Lettres Fraglich bleibt aber weiterhin, wie sich der szientifische Rückgriff von Nisard im Umgang mit literarischen Texten erklären lässt. Wie wird Nisard, der doch eigentlich zu den Anhängern des römisch-antiken Erbes und somit zu den sogenannten Anciens gehört, zum Scharnier zwischen einem szientifischen und einem klassisch-humanistisch geprägten Bildungsideal? Auch hier können wieder nur Vermutungen angestellt werden. Einen ersten Hinweis liefert der Amerikaner Craig Zwerling, der in seiner Dissertation davon ausgeht, dass die Ecole Normale unter Führung von Nisard ab 1857 zum „leading center of scientific education“ avanciert, aber gleichzeitig betont, dass diese Hinwendung zu den Naturwissenschaften dem Verdienst von Louis Pasteur geschuldet ist. 22 Der ehemalige normalien wird zeitgleich mit Nisard an die Hochschule gerufen und übernimmt im selben Jahr die Führung über die Sektion der sciences. In den darauffolgenden Jahren wird Pasteur zu Nisards wichtigstem Berater und baut seinen Einfluss als Förderer der Naturwissenschaften kontinuierlich aus. So setzt er sich für die Wiedereinführung der agrégé-préparateurs ein, fordert strengere Rekrutierungsmaßnahmen, gründet die Annales scientifiques de l’Ecole Normale und lässt seinen Studenten eine intensive Betreuung zukommen. Zudem ist Pasteur für seinen autoritären Führungsstil bekannt, sowohl unter den Studenten als auch unter den maîtres de conférences. Kann also davon ausgegangen werden, dass Nisard unter einem szientifischen Druck stand und somit allmählich gewisse Praktiken in den Literaturunterricht eingeflossen sind? Oder erweist sich sein cartesianisches Vernunftverständnis als anschlussfähig an szientifisch geprägte Analyseverfahren? An dieser Stelle können noch keine befriedigenden Antworten auf die Frage nach der Synthese beider Traditionslinien gegeben werden. Die Ausformung der dissertation littéraire durch Désiré Nisard im Umfeld der Ecole Normale ist jedoch ein erster wertvoller Punkt, an den sich anknüpfen lässt. 1 Der aktuelle Arbeitstitel der Dissertation lautet Französische Wissenskultur der Eliten in der Julimonarchie. Akteure, Institutionen, Netzwerke. 2 Wegweisend ist die groß angelegte Studie von Georg Bollenbeck, Bildung und Kultur. Glanz und Elend eines deutschen Deutungsmusters, Frankfurt/ Main, Insel-Verlag, 1994. 3 Eine ausführliche Beschreibung der theoretischen Herangehensweise bietet Dorothee Röseberg in: Former la Raison. Zur Geschichte französischer Wissenskultur aus interkultureller Perspektive (18.-21.Jh.), Jena, IKS Garamond, 2012. 4 Die Heuristik der Kulturmuster geht zurück auf die Forschungen der in Halle (Saale) und Jena ansässigen Arbeitsgruppe um die Germanisten Daniel Fulda und Stefan Matuschek. Hierzu Daniel Fulda (ed.): Kulturmuster der Aufklärung, Halle Saale, Mitteldeutscher Verlag, 2010. 5 André Chervel: Histoire de l’agrégation. Contribution à l’histoire de la culture scolaire, Paris, INRP, 1993, 226. 6 Siehe auch die Habilitationsschrift von Dorothee Röseberg zur Funktionsgeschichte französischer Literatur in der Bildungsgeschichte französischer Eliten: Literarische Kultur in Frankreich. Literatur als Institution in der Sekundarschule19./ 20. Jh., Frankfurt/ Main, Lang, 1992. 90 Arts & Lettres 7 Chervel, op. cit., 223. 8 Pascale Hummel, Anne Lejeune, Davis Peyceré: Pour une histoire de l’Ecole Normale Supérieure. Sources d’archives (1794-1993), Paris, Archives nationales et Presses de l’Ecole Normale Supérieure, 1995. 9 Cf. Dorothee Röseberg: „Condorcet und das szientifische Bildungsmodell. Grundlagen moderner Wissenskulturen in Frankreich“, in: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte, 3, 2011, 307-331. 10 Cf. Dorothee Röseberg: „Das Seminar der raison oder für eine praxeologische Kulturgeschichtsschreibung“, in: Robert Dion/ Ute Fendler/ Albert Gouaffo/ Christoph Vatter (ed.): Interkulturelle Kommunikation in der frankophonen Welt. Literatur, Medien, Kulturtransfer. Festschrift zum 60. Geburtstag von Hans-Jürgen Lüsebrink, St. Ingbert, Röhrig Univ.- Verl., 2012, 331-348. 11 Jacques Billard: De l’école à la République : Guizot et Victor Cousin, Paris, Presses Universitaires de France, 1998. 12 Dubois ist der legitime Nachfolger von Victor Cousin als Direktor der ENS (1840-1850). 13 Zit. nach Chervel, op. cit., 226. 14 José-Luis Diaz: „Quelle place était alors à prendre dans la critique? Sainte-Beuve juge de Nisard en 1836“, in: Mariane Bury (ed.): Redécouvrir Nisard (1806-1888). Un critique humaniste dans la tourmente romantique, Paris, Klincksieck, 2006, 39-57, 39. 15 Ibid., 42. 16 Heinz Thoma: „Von der Geschichte des esprit français zum esprit humain. Anthropologie, kulturelle Ordnungsvorstellungen und Literaturgeschichtsschreibung“, in: Hansjörg Bay/ Kai Merten (ed.): Die Ordnung der Kulturen. Zur Konstruktion ethnischer, nationaler und zivilisatorischer Differenzen (1750-1850), Würzburg, Königshausen & Neumann, 2006, 99-120, 119. 17 Thierry Froment: „Désiré Nisard“, in: Le centenaire de l’Ecole normale (1795-1895), Paris, Presses de l’Ecole normale supérieure, 1994, 299-311, 300. 18 Heinz Thoma: Aufklärung und nachrevolutionäres Bürgertum in Frankreich. Zur Aufklärungsrezeption in der französischen Literaturgeschichte des 19. Jahrhunderts, Heidelberg, Winter, 1976, 164sq. 19 Froment, op. cit., 301. 20 Cf. André Chervel: „L’invention de la dissertation littéraire dans l’enseignement secondaire français“, in: Paedagogica Historica, 3, 2004, 261-277. 21 Zit nach Chervel, op. Cit., 225. 22 Cf. Craig Zwerling: The emergence of the Ecole Normale Supérieure as a center of scientific education in nineteenth-century France, New York, Garland, 1990. Resümee: Marie-Therese Mäder, Désiré Nisard et l’Ecole Normale Supérieure - nouvelle approche et pratique du savoir. Le présent article s’inscrit dans le cadre de l’histoire culturelle et se propose d’examiner l’Ecole Normale Supérieure de Paris comme lieu où s’élabore un nouveau modèle du savoir qui se caractérise par une certaine manière de raisonner, de classer, d’ordonner et de décomposer tel qu’il se manifeste dans les discours politiques ou dans les exercices scolaires comme la dissertation ou l’explication de textes français. En retraçant la carrière scientifique de Désiré Nisard à l’Ecole Normale Supérieure où il est nommé maître de conférences en 1834 et président du jury de l’agrégation de lettres en 1854, nous suivons les traces de l’historien André Chervel qui admet que Nisard est un des acteurs principaux qui par leur position dans le champ académique mettent en pratique un nouvel exercice qui non seulement va transformer les pratiques usuelles de l’écriture et du style mais aussi les catégories du savoir.