eJournals lendemains 42/166-167

lendemains
0170-3803
2941-0843
Narr Verlag Tübingen
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2017
42166-167

Gislinde Seybert: Geschlechter-F(r)iktionen – F(r)ictions des genres. Geschlechterphantasien im literarischen Diskurs / Fantasmes des genres dans le discours littéraire

2017
Peter Antes
ldm42166-1670271
271 Comptes rendus der Einzelanalysen individueller Erzählungen nicht nur eine spezifische, erstaunlicherweise relativ einheitlich in Erscheinung tretende Erzählstruktur (262sq.), sondern analysiert auch die sprachliche Manifestation von Emotionen, die trotz schriftlicher Realisierung mit konzeptionell mündlichen Markern so vermittelt werden, dass sie trotz des Medienwechsels den irreführenden Eindruck von „kommunikative[r] Nähe“ (269) suggerieren. Wie deutlich gemacht wurde, zeichnet sich der von Krauss, Rentel und Urban vorgelegte Storytelling-Band durch eine anregende Beitragsvielfalt, eine große geographische, disziplinäre und thematische Breite aus. Zugleich lässt sich vermutlich darüber streiten, ob nicht gerade in einem solchen Band auch eine dezidiert narratologische Perspektive erhellend gewesen wäre. Mit seiner Konzeption von Storytelling als Politikum und seiner kulturtheoretischen Ausrichtung ist der Band jedoch eine Fundgrube für mannigfache Anschlüsse. So reizt Storytelling in der Romania sicher nicht nur NarratologInnen zu einem Dialog; der Band kann auch anderen Fächern, wie der Germanistik oder Anglistik, als Anreiz für Forschung im selben Geiste dienen sowie zu weiterführender transdiziplinär-theoretischer Konzeptualisierung einer kulturtheoretischen Erzähltheorie anregen. Christine Schwanecke (Mannheim) ------------------ GISLINDE SEYBERT: GESCHLECHTER-F(R)IKTIONEN - F(R)ICTIONS DES GENRES. GESCHLECHTERPHANTASIEN IM LITERARISCHEN DISKURS. FAN- TASMES DES GENRES DANS LE DISCOURS LITTÉRAIRE, FRANKFURT A. M., LANG, 2013, 279 S. (KULTURTRANSFER UND GESCHLECHTERFORSCHUNG, 7) Der vorliegende Band bietet einen beeindruckenden Einblick in die vielfältigen Themen aus der französischen Literatur, mit denen sich Gislinde Seybert im Rahmen ihrer Lehr- und Forschungstätigkeit an der Universität Hannover befasst und die sie immer wieder höchst kenntnisreich mit Vergleichsthemen aus der deutschen und englischsprachigen Literatur in Beziehung gesetzt hat. Ihre teils auf Deutsch, teils auf Französisch verfassten Beiträge sind in den unterschiedlichsten Werken, vielfach in Kongress- und Tagungsbänden, erschienen und daher nicht immer leicht zugänglich. Es ist deshalb ein großes Verdienst, sie nun alle in einem Sammelband vereint zu sehen und zwar untergliedert in drei Teile: Geschlechter-Fiktionen - George Sand; Geschlechter-Friktionen - Literatur und Politik; Autobiographisches. Ein Vergleich des Inhaltsverzeichnisses (5-7) mit der Liste der Erstveröffentlichung der gesammelten Aufsätze (276-279) zeigt, dass sich unter den 33 Beiträgen in diesem Sammelband zwei bislang noch unveröffentlichte Manuskripte befinden: 9. Die Ambivalenz des Ortes im Romanwerk von George Sand (71-81) und 28. Surrealistische Lektüre des Romanwerks von Amélie Nothomb (249-256). Es versteht sich von selbst, dass bei einer solch inhaltlichen Breite und Themenfülle nicht alle Beiträge im einzelnen vorgestellt werden können. Eine Auswahl ist 272 Comptes rendus daher notwendig und erfolgt mit Blick auf de Sade und George Sand hinsichtlich der Schwerpunkte, die mich als Religions- und Kulturwissenschaftler besonders interessieren. In „L’Écriture de l’Enfermement chez D. A. F. de Sade et de George Sand“ (37-44) wird gezeigt, dass für de Sade das Leben hinter Gittern real ist und er beim Schreiben immer damit rechnen muss, dass ihm alles weggenommen wird, während sich George Sand freiwillig und symbolisch aus der Gesellschaft zurückzieht im Sinne der klassischen Rolle der Frau, der der Zugang zur Welt verwehrt ist und deren Liebesbedürfnis unerfüllt bleibt, so dass ihr so durchlebter Sado-Masochismus am besten mit Begriffen der christlichen Bußpraxis beschrieben werden kann: „Büßergewand, Fasten und Peitschenhiebe“ (43). Der Beitrag „George Sands Landromane. Keltische Mythologie - christliche Mystik“ (57-60) beschreibt den „Antagonismus von Engeln und Dämonen in den sozialen und religiösen Auseinandersetzungen zwischen Christentum und Heidentum [...]. Die Dämonen der Sinnlichkeit werden in den alten gefallenen Göttern des Heidentums als böse vorgestellt, die mit der Reinheit der christlichen Engel und der Jungfrau Maria kontrastieren. So wird die Vorstellung von Weiblichkeit in einen positiven und negativen Pol gespalten und zwingt die Protagonistin in eine wunschlose Haltung, die kein Begehren kennt“ (60). „Die Ambivalenz der Orte im Romanwerk von George Sand“ (71-81) „erschließt sich über die Untersuchung der Orte, die paradigmatisch für den Verlauf der Romanhandlungen stehen. Die Dichotomie von Zentrum und Peripherie ist gleichbedeutend mit der Dichotomie von Macht und Ohnmacht, Disziplinierung und Fluchtversuch, zwischen denen Gefühle und soziale Position bis zum Zerreißen gespannt sind. Die Protagonisten verteidigen und verlieren ihre soziale Position, die sie mit den Werten der christlichen Tradition oder mit den aufklärerischen Forderungen der Menschenrechte auch für die Frau begründen. Sie sind Aufsteiger oder Absteiger, Gewinner oder Verlierer in den politisch-gesellschaftlichen Umbrüchen ihrer Zeit“ (71). Besonders deutlich wird dies mit Bezug auf den Pavillon. „Die Untersuchung der Funktion des Pavillon zeigt seine Bedeutung als Fluchtort der Liebe, die keinen Platz in der Moralvorstellung der Gesellschaft hatte, wenn sie sich nicht in die ehelichen Gesetze fügte. Doch der Rückzug aus der Gesellschaft erweist sich als Falle, in der die ‚Gesetzesbrecher‘ dem Spott der Mehrheit ausgesetzt sind“ (81). In „Morale et violence dans les romans de Sade et de George Sand“ (82-92) wird gezeigt, dass schon vor de Sade in Richardsons Clarissa wie in de Sades Justine und in Sands Consuelo die Frau stets das unschuldige Opfer ist, bei dem es vor der Ehe ausschließlich um die Bewahrung der Jungfräulichkeit geht und sich folglich über hundert Jahre keine Veränderung zugunsten von mehr Unabhängigkeit oder individueller Freiheit ergeben hat (cf. 92). Der Beitrag „Literatur und Politik“ (136-153) beschreibt eindrucksvoll das Scheitern der Französischen Revolution und die literarische Reaktion de Sades darauf. „Die Moralisierung der Politik, die die Reden Robespierres und anderer Revolutionäre eher Predigten gleichen lässt, provozierte Sades Reaktion nicht nur auf die 273 Comptes rendus revolutionäre Phraseologie, sondern auch auf ihre klerikalen Vorgänger, von denen sie sich doch absetzen wollte“ (142). De Sade entwickelte Phantasien von archaischer Regression und stellte die Normen des Über-Ich in Frage. „Die Desintegration von Ich und Über-Ich erzeugen [sic] die Identifikation des Ich mit dem Aggressor und setzen die sadistische Straflust des Über-Ich und die masochistische Lust des Ich am Bestraftwerden frei“ (142). Andere Autoren vollzogen wie Hölderlin eine Wendung nach innen oder wandten sich wie Lord Byron mystischen Traditionen zu. „Man kann sie auch als Warnung vor den Möglichkeiten eines nur noch rationalen Männer- und Menschenbildes verstehen. Denn die zum Äußersten getriebene Raison schlägt bekanntlich in Dé-raison um“ (152). Diese wenigen Beispiele zeigen, dass sich die Lektüre des Buches sehr lohnt und es ein Gewinn ist, dass die an vielen Orten publizierten Beiträge sowie die beiden unveröffentlichten hier in einem Sammelband vereint und somit leicht zugänglich sind. Möge ihnen nun die Beachtung zuteil werden, die sie verdienen. Peter Antes (Hannover) ------------------ EDITH ARON: IL FAUT QUE JE RACONTE. CONVERSATIONS AVEC SON FILS PIERRE ARON, PARIS, L’HARMATTAN, 2014, 450 P. Les institutions culturelles destinées à enregistrer et à sauvegarder les témoignages des survivants de la Shoah faisaient encore défaut en 1978, quand Edith Aron et son fils Pierre commencèrent à réaliser leur projet qui allait se poursuivre en dehors de toute politique commémorative et de tout ancrage institutionnel. Chez Edith Aron, femme engagée et dévouée aux autres, née en 1898 à Berlin, les premiers symptômes d’une cécité progressive s’étaient manifestés et les difficultés qu’elle avait à marcher - séquelles d’un acte de violence subi pendant l’enfance et des interventions chirurgicales nécessaires qui s’ensuivirent - s’aggravaient. Une idée généreuse commença alors d’émerger et de prendre corps: celle d’un long voyage commun vers le passé - projet sous-tendu par la conviction que les expériences du passé sont précieuses et demandent à être sauvegardées et transmises aux autres. Les conversations que Pierre Aron enregistrera sur bande magnétique s’étendront, avec une interruption de sept années, jusqu’en 1994, année du décès volontaire d’Edith Aron à Paris. Leur activité partagée n’est pas uniquement sédentaire et casanière: les séances d’enregistrement sont précédées de déambulations physiques et mentales, au cours desquelles les sujets dont il sera question sont déterminés - procédé attesté par une des photos qui parsèment le volume où l’on voit les deux promeneurs en Normandie, la maman frêle s’appuyant sur le bras du fils. Deux voix se rejoignent, l’une expansive, l’autre réservée, mais veillant à tout et guidant la première. En réalité, plus de deux voix se relaient car les voix d’antan émergent, claires et distinctes ou en filigrane.