eJournals lendemains 42/166-167

lendemains
0170-3803
2941-0843
Narr Verlag Tübingen
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2017
42166-167

Nicht bewältigt, nicht überwältigt

2017
Katja Schubert
ldm42166-1670150
150 Dossier Katja Schubert Nicht bewältigt, nicht überwältigt Erste Nachkriegsbriefe von Hannah Arendt und Karl Jaspers Welches sind die Voraussetzungen dafür, dass die staatenlose Hannah Arendt 1945, im Exil in New York, und Karl Jaspers, der verehrte Lehrer, bei dem sie 1928 in Philosophie promoviert hatte und der während des Dritten Reichs mit seiner jüdischen Ehefrau Gertrud Meyer jederzeit Verhaftung und Deportation in ein Konzentrationslager fürchten musste, nach jahrelangem Schweigen miteinander in Briefen sprechen können? Handelt es sich um die Fortsetzung oder die Wiederaufnahme des deutsch-jüdischen Gesprächs, das 1933 mit der Flucht von Hannah Arendt verstummen musste und das 1945, nach Auschwitz, weiter geführt werden konnte, wie es mancher Interpret suggeriert, dabei aber etwas schnell über beider Skepsis und Gegenpositionen im Bezug auf diesen deutsch-jüdischen Bund bereits im Gespräch 1933 hinweggeht? Oder haben wir es mit dem Versuch eines (Neu)Anfangs nach etwas in der Vergangenheit Geschehenem, „was nicht einfach schlecht oder unrecht oder grausam war, sondern was unter keinen Umständen hätte passieren dürfen“ (Arendt 1976: 10), zu tun? Wie aber kann man nach einem solchen sprechen, und gilt nach Auschwitz auch, was Hannah Arendt in Vita activa über den Anfang sagt, dass er auch bedeutet, dass der Mensch nicht lebt, um zu sterben, sondern dass er im Besitz der Fähigkeit ist, anzufangen (Arendt 2002a: 216)? Und wie kann man diese Potenz des Anfangens zusammen bringen mit einem Umfeld, das zum Zeitpunkt der ersten Nachkriegsbriefe in jeder Hinsicht von der nicht zu Ende kommenden Geschichte der Massenvernichtung der europäischen Juden durchdrungen ist, über die umfassend geschwiegen wird? Zumal gerade in Deutschland, so Hannah Arendts Beobachtungen während ihrer ersten Reise dorthin im Jahre 1949, die „lebenden Gespenster“ (Arendt 2000b: 39), wie sie die Bewohner des Landes nennt, keine Trauer über die angerichteten Gräuel zeigen. Tatsächlich tritt das Anfangen zurück hinter den materiellen Wiederaufbau, der in seinem Präfix ‚wieder‘ ebenfalls das ungebrochene Weitermachen, Wiederholen transportiert. Zugleich wirkt das Trauma des Genozids auf der Seite der Überlebenden fort. Kein Anfang im Sinne „der Welt als Eröffnung eines Zwischen im Zusammenleben der Menschen“ (Schestag 2006: 10) kann also gelebt werden. Zu den Fragen der vermeintlichen Wiederaufnahme des deutsch-jüdischen Dialogs und zu den Möglichkeiten eines Anfangens gesellt sich aber noch eine weitere Beobachtung: Die beiden Korrespondenten beginnen genau in diesem Kontext 1945 eine Brieffreundschaft, die die bis 1933 dominierende Lehrer-Schülerin-Beziehung hinter sich lässt und etwas Neues schafft. Dieses Neue könnte vorläufig bezeichnet werden als ein beginnendes gemeinsames Durcharbeiten eines nicht einholbaren Verlorenen, dessen man sich auch und gerade sprachlich nicht bemächtigen kann, 151 Dossier zumal die Sprache selbst auch affiziert ist von dem Geschehenen. Gleichzeitig suchen Jaspers und Arendt nach einer Öffnung, um nicht von jener allumfassenden Beschädigung durch das Geschehene überwältigt zu werden. Beim Lesen des Briefwechsels wird deutlich, dass sie dafür auf rhetorische Techniken der Verschiebungen, Apostrophen, Perspektivenwechsel und Inversionen sowie auf intertextuelle Lektüren mit der Intention zurückgreifen, nicht bei der Beschreibung von Genozid und Nationalsozialismus und ihren Folgen stehen zu bleiben und keine vorschnellen Gleichungen mit nicht zu hinterfragenden Zuschreibungen und Denkkategorien aufzustellen. Die Zuwendung in der Freundschaft scheint einerseits die Voraussetzung für dieses Durcharbeiten in der Korrespondenz zu gewährleisten. Zugleich kann man aber auch umgekehrt erkennen, dass die Freundschaft immer wieder neu konstituiert und vertieft wird durch die im Brief vielfältig experimentierten Formen der Durcharbeitung. Der Brief, von dem man nie wissen kann, ob er ankommt, ist ein volatiles Genre und scheint der geistigen Disposition der Schreibenden in gewisser Weise besonders angemessen. Es wird zu untersuchen sein, ob man mit diesem Genre der Ungesichertheit noch auf Erfahrung oder zumindest auf einen kurzzeitigen Boden im Bodenlosen beharren kann, im Taumeln und in der existenziellen Verstörung, die im Schreiben an den Freund eine Form annehmen oder zumindest eine Spur hinterlassen kann. Man kann darin vielleicht Flüchtiges bergen und ihm ein Aufenthaltsrecht zugestehen, vielleicht sogar Zusammenhänge, etwas Dauerhaftes im Denken und Schreiben stiften. Nicht zuletzt bedarf der Briefaustausch genau jener Zeit des Aushaltens, Abwartens und Sehens, die auch konstitutiv für Hannah Arendts Auseinandersetzung mit der Vergangenheit ist. Unbewältigte Zeugen: Durchgekommensein und Durcharbeiten den 18. November 1945 Lieber, lieber Karl Jaspers - seit ich weiß, daß Sie beide durch den ganzen Höllenspektakel heil durchgekommen sind, ist es mir wieder etwas heimatlicher in dieser Welt. Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, daß ich alle die Jahre an Sie mit Sorge gedacht habe […]. Was ich Ihnen aber doch sagen möchte, da ich nun seit mehr als zwölf Jahren nicht mehr habe schreiben können, ist dies: Ich mag in diesen Jahren manches gedacht oder getan haben, was Ihnen befremdlich sein wird; aber darunter ist kaum etwas, wobei ich mir nicht vorgestellt habe, wie ich es Ihnen erzählen oder vor Ihnen verantworten würde […]. Ich freue mich, daß Sie zuversichtlich sind. Es kommt gewiß nur auf Wenige an; nur dürfen der Wenigen nicht zu wenig sein. Wir haben ja alle in diesen Jahren erlebt, wie der Wenigen immer weniger wurden. Dies war in der Emigration im wesentlichen nicht anders als innerhalb Deutschlands. […]. Wir warten hier mit großer Ungeduld, dass Sie drucken. […]. Ich bin natürlich sehr froh, dass Sie Artikeln von mir zustimmen - obwohl ich nicht weiß, was Sie gelesen haben. Ich habe selbst nichts geschickt, werde es aber tun, sobald wir wieder regulären Postverkehr haben. Und dann werde ich Sie um Nachsicht bitten müssen, nämlich bitten müssen nicht zu vergessen, daß ich in einer fremden Sprache schreibe (und dies ist das Problem der Emigra- 152 Dossier tion) und daß ich seit zwölf Jahren das Wort Ruhe für geistige Aktivität nur noch vom Hörensagen kenne. Seitdem ich in Amerika bin, also seit 1941, bin ich dort eine Art freier Schriftsteller geworden, irgend etwas zwischen einem Historiker und einem politischen Publizisten. Das letztere gilt wesentlich für Fragen jüdischer Politik; über die Deutschland-Frage habe ich nur geschrieben, als es angesichts des steigenden Hasses und des ansteigenden Blödsinns unmöglich wurde, zu schweigen; gerade wenn man Jude ist. […]. Nachtragen muß ich noch (ich kann mir eben doch nicht vorstellen, daß ich Sie so lange Jahre nicht mehr gesehen habe), dass ich seit 9 Jahren wieder verheiratet bin, mit einem Deutschen; dies wahrscheinlich zur ‚Strafe‘ für meine Torheiten gleich nach 1933, als ich infolge der Gleichschaltungen fast aller meiner nichtjüdischen Freunde (die jüdischen schalteten sich erst später an Stalin oder Daladier oder sonst was gleich) in ein automatisches Mißtrauen gegen Nicht-Juden hereingeschliddert war. Mit Ehrenpunkten à la Jonas. […]. „Dies ist nun alles und ist nicht genug doch zeigt es Euch vielleicht, ich bin noch da…“ könnte ich mit einem Brechtschen Emigrationslied sagen. Es ist aber nicht alles, denn ich möchte wissen: Brauchen Sie Medikamente und welche? ? Penicillin? Sulpha? Anderes und Spezielleres? […]. Ich habe in den letzten Päckchen eine koschere Wurst beigepackt, weil man hier mit Schweinefleisch sehr vorsichtig sein muß wegen Trichinen. Falls ich bacon (habe das deutsche Wort vergessen, der Teufel soll es holen) schicke, bitte braten Sie es immer erst in folgender Weise aus: Sie legen die Scheiben auf eine mäßig erhitzte Eisenpfanne und braten unter kleiner Flamme, gießen das Fett jeweils ab, bis die Scheiben ganz knusprig sind. Dann kann weder mit dem bacon noch mit dem Fett etwas passieren. Wie steht es mit Vitaminen? Wollen Sie Fruchtsäfte oder getrocknete Früchte haben? Vielleicht konzentrierten Zitronensaft? Trinken Sie Kaffee? … Brauchen Sie Zigaretten für irgendwelche Freunde? Bitte, geben Sie Lasky oder einem anderen einfach eine Liste. Von ganzem Herzen Ihre Hannah Arendt (Arendt/ Jaspers 1985: 58-60). Das ist der erste an Karl Jaspers gerichtete Brief der Exilantin Hannah Arendt nach dem Ende des Krieges - aus New York, datiert auf den 18. November 1945. Im Brief selbst, wenn über Vergangenes geschrieben wird, werden Daten erst einmal wieder zurückgestellt; an deren Stelle rückt ein ausgedehnter Zeitraum von „den Jahren“, „die Jahre“, „alle die Jahre“, „seit mehr als zwölf Jahren“, „in diesen Jahren“. Die Wiederholung macht ein Gewicht spürbar, es waren lange Jahre, in denen viel, vielleicht zu viel passiert ist. Zum ersten Mal, seit sie einander schreiben, spricht Arendt Jaspers mit Vor- und Nachnamen an, erlaubt sie sich, den eine zurückhaltende Intimität suggerierenden Vornamen anstatt des Professorentitels an den Briefanfang zu setzen. Man kann es als Signal lesen, dass das Sprechen und Schreiben ab nun nicht mehr im Rahmen der Lehrer-Schülerin-Beziehung stattfindet. Die emphatische Wiederholung „Lieber, lieber“ bringt einen emotionalen, gleichsam beschwörenden Nachdruck in der Begrüßung nach den vielen Jahren des Schweigens zum Klingen. Die Ansprache verwandelt sich darin geradezu in einen Anruf. Der kleine hinterhergeschickte Gedankenstrich ist die Atempause, in der sich diese direkte Anrede noch einmal ihrer selbst vergewissern kann: Ja, man kann sich wieder ansprechen nach alledem, und es gilt zu erinnern, dass dieser Name - Karl Jaspers - auch auf der Deportationsliste stand. Und wie um dieses Entronnensein noch zu betonen, erfolgt 153 Dossier auf diese erste Anrede auch gleich die zweite, die Jaspers Frau Gertrud Mayer mit einbezieht, deren Überleben als Jüdin in Deutschland noch viel unwahrscheinlicher war: „Sie beide“. Im Zurückschauen und Eingedenken ist vom „Höllenspektakel“ die Rede, hier nun einmal nicht als der in vielen literarischen und philosophischen Textzeugnissen nach 1945 verwendete Topos für die Lager (eine kritische Analyse dazu: Kasper 2016), sondern gemünzt auf das Alltagsleben der Verfolgten inmitten der deutschen Gesellschaft unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft, ganz als ob die Schreibende die vermeintliche „Hölle“ von Lager und Gesellschaft an dieser Stelle nicht radikal zu trennen wünscht. Auffällig ist zugleich, dass sie vom „Höllenspektakel“ der anderen schreibt, das eigene wird eher zwischen den Zeilen, sehr diskret und nicht mit diesem Wort angedeutet. Das „Durchgekommensein“ von Karl und Gertrud Jaspers, was nicht mit Entkommen- oder Davongekommensein im Sinne von ‚unbeschadet‘, ‚unverletzt‘ gleichzusetzen ist, macht einen Moment lang die Welt für die Freundin „heimatlicher“. Arendt spricht nicht von Welt als Heimat, sondern benutzt den die Dinge in der Schwebe haltenden Komparativ des Adjektivs, der an das Verlorene und noch nicht Erreichte erinnert. Während die eigene innere Verfasstheit sich hier als prekär und fragil andeutet, kommt kein Zweifel auf an der Bindung an den Angesprochenen, die im sorgenden Denken an ihn immer gültig war, auch in den dunkelsten Momenten. Dem Gedenken an die Verbrechen tritt das Gedenken an die Bindung zur Seite. Wird hier von weitem auch auf Heidegger referiert, der in Sein und Zeit (Heidegger 1967: 180sqq.) die Kategorie der Sorge für seine Existenzphilosophie, mit der sich beide Korrespondenten nachhaltig auseinandersetzen, stark profiliert hat? Die Bindung reduziert sich aber nicht auf die Sorge und sieht den anderen nicht allein als den Schutzbedürftigen. Es gilt auch die Umkehrung. Durch denselben Anderen kann das Ich an etwas sich ihm bedrohlich Entziehenden und überhaupt an der Welt noch festhalten: „Besinnen Sie sich auf unsere letzten Unterhaltungen in Berlin, 1933? Damals haben Sie mich sachlich in manchem nicht überzeugen können; aber Sie haben mich menschlich und persönlich in einem solchen Ausmaß überzeugt, dass ich Ihrer lange Jahre hindurch gleichsam sicherer war als meiner selbst“ (Arendt/ Jaspers 1985: 64), schreibt Arendt am 29.1.1946. Und acht Jahre später: „Wenn es Sie nicht mehr gäbe, es wäre, wie wenn der Maßstab aus der Welt verschwunden wäre und nun wirklich Kants trostloses Ungefähr uns überall umgäbe“ (ibid.: 274). Und doch wird auch das trostlose Ungefähr, das Bedrohliche, das Unvertraute nicht ausgespart in dieser starken Vertrauensbeziehung, die Arendt und Jaspers im Jahr 1945 auch als eine Setzung verstehen wollen. Es ist aufschlussreich, wie schnell die Exilantin in ihrer ersten Korrespondenz nach dem Krieg das Befremdliche evoziert, das sich in ‚den Jahren‘ in ihrem Denken und im Handeln ereignet hat. Die so Schreibende verwehrt sich damit auch gegen ein zu idealisiertes Bild ohne Brüche, das ihr Jaspers seinerseits in seinem ersten Brief an sie am 28.10.1945 gespiegelt hat: Und nun dieses Wiedererscheinen nicht nur, sondern ein lebendiges geistiges Wirken aus der großen Welt! Sie haben, so scheint mir, unbeirrbar eine Substanz bewahrt, ob sie in 154 Dossier Königsberg, Heidelberg oder Amerika oder Paris sind. Wer ein Mensch ist, muß das können. Diese Bewährungsprobe ist mir erspart geblieben (Arendt/ Jaspers 1985: 58). Arendt kann Diffuses und Dunkles, sie vom Freund Trennendes andeuten, ja sie kann sogar einfordern, dass man das Fremde in den Austausch hineinnehmen müsse, von allem Anfang an. Gerade hier sei der Raum für Antwort und Verantwortung gegeben. Das impliziert auch, dass man sich nicht in einer Position des Opfers einrichten könne, die auf Eindeutigkeit pocht, als ob Überleben allein schon genug sei. Ebenso wenig kann man im Rückblick auf das „Höllenspektakel“ auf die Kategorie der Verantwortung verzichten, da der Mensch in jeder Lebenssituation, auch als Verfolger und als Verfolgter, denkt und handelt, und sei es „auf Messers Schneide“ (Arendt 2013: 62), wie Arendt an Kurt Blumenfeld im Juli 1946 schreibt. Ein solches Sprechen macht deutlich, dass Arendt von einer Verantwortung vor dem Freund, aber in gewisser Weise auch vor der ganzen Menschheit redet. Einerseits erwartet die Briefeschreiberin, dass das Befremdliche zu seiner Zeit auch genauer verstanden werden müsse, was in einem ersten brieflichen Sprechen hingegen aufgeschoben wird, vielleicht zu früh kommt. Es braucht Zeit, und vielleicht stößt das Genre Brief hierbei auch an seine Grenzen. Andererseits macht Arendt klar, dass etwas zwar nicht im Brief geschrieben, aber vor und mit dem Freund erzählt werden könnte. Die körperliche Präsenz des Freundes, das Zusammensein mit dem Freund erweitere, so Arendt, ihre Fähigkeit, dem Unheimlichen eine Sprache zu verleihen. Es bedarf der menschlichen und freundschaftlichen Stimme, der Präsenz der Körper, um auszudrücken, was kaum gesagt werden kann. Dieser Gedanke kehrt mehrfach wieder, bevor Arendt und Jaspers sich 1949 das erste Mal in Basel, im Sicherheitsabstand zu Deutschland, treffen. So erinnert Arendt schon in ihrem Brief vom 29.1.1946 an Jaspers’ besondere Körperhaltung beim freundschaftlichen Gespräch: Beide sitzen vor 1933 im Arbeitszimmer von Jaspers „mit dem Stuhl am Schreibtisch und dem Sessel gegenüber, auf dem Sie so herrlich Ihre Beine ver- und entknoten konnten“ (Arendt/ Jaspers 1985: 65). Jaspers antwortet in demselben Sinne am 10. Dezember 1945 auf das Befremdliche: Wie gerne würde ich von dem „Befremdlichen“ hören, mit Ihnen zusammen sein und antworten. - Ich weiß von vornherein, dass es Anlass sein wird, meine Anschauungen zu prüfen - und was es auch sei, meinen Respekt für Sie zu vertiefen (ibid.: 62). Immer geht es bei Arendt und Jaspers um Streitgespräche, um Prüfung und Selbstprüfung und darum, „das sonst Verschwiegene in den Gesprächsraum zu locken“ (Arendt 1989: 96), um den „Mut zum Urteilen“ (Arendt/ Jaspers 1985: 355) im Kantischen Sinne daraus zu entwickeln. Immer geht es um Denken, Andenken, Andersdenken und Neudenken, wie es die Exilantin schon für die Briefe von Rachel Levin Varnhagens Freundschafts-Buch des Andenkens analysiert hat. Und immer schwingt bei Arendt und Jaspers die Frage mit, in welcher Welt die Freunde leben wollen, welche Freundschaft man für ein weltverpflichtendes Dasein gegen den kollektiven Weltverlust benötigt und ob man „einen Weg in die gemeinsame Welt der Menschen“ (Arendt 155 Dossier 2013: 409) zurückgewinnen kann. Welt und Welthaltigkeit finden sich in jedem Brief, es gibt keine Freundschaft ohne Welt, oder noch einmal anders formuliert: „zwischen zweien ist immer ein Weltausschnitt“ (Arendt 2002b: 548). Welt mit dem Freund aber kann dann am besten gedacht werden, wenn es ein Zimmer und ein Haus gibt, wohin man in gewissem Sinne sogar nach Hause kommt: „endlich wieder in Basel, wie man nach Hause kommt. Dies hier ist, was Europa anlangt, Zuhause“ (Arendt 2013: 106). Ähnlich äußert sich Arendt 1955: „ich dort wie immer, Kind im Haus, ganz dazu gehörend; mit diesmal ganz reinem Streitgespräch“ (ibid.: 189). Es ist, als ob hier noch einmal etwas von vorne beginnen könnte und der Schrecken der Zeit im doppelten Sinne aufgehoben sei. Auch hören wir darin von einem Bedürfnis nach schützender Vorgeneration. „Kind im Haus“, das war Arendt auch mit Max Arendt, ihrem Großvater väterlicherseits, von dem sie als kleines Mädchen „in die Kunst des Geschichten-Erzählens eingeweiht“ (Grunenberg 2006: 73) wurde, also jenes Erzählen, das den Sinn enthält, ohne den Fehler zu begehen, ihn zu benennen; es führt zu Übereinstimmung und Versöhnung mit den Dingen, wie sie wirklich sind, und vielleicht können wir ihm sogar zutrauen, implizit jenes letzte Wort zu enthalten, das wir vom Tag des Jüngsten Gerichts erwarten (Arendt 1989: 125). Von dieser Definition des Erzählens scheint auch etwas im späteren Streitgespräch weiterzuleben, das ebenfalls nicht in der kalkulierenden und ausschließenden Sinngebung aufgeht. Der Ausdruck „Kind im Haus“ verweist darüber hinaus auch auf den Wunsch nach einem Denken in der Linie von Traditionen, die, trotz ihrer Verborgenheit, doch intakt sein könnten, selbst nach dem „Höllenspektakel“. In diesem Bewusstsein hatte Arendt Jaspers ihr erstes deutsches Buch zugeeignet, das sie nach 1933 schreibt und das 1948 in Heidelberg mit dem schlichten Titel 6 Essays erscheint und 1976, leicht erweitert, neu ediert wird als Die verborgene Tradition (Arendt 1976). Nicht zuletzt wird im Bild der häuslichen Helligkeit und des Lichts das Erbe der Aufklärung verhandelt: Jaspers’ Zimmer wird als heller Raum erinnert, in dem er mit seiner erhellenden Geduld zuhört und antwortet (Arendt 2013: 153sqq.). Allerdings schreibt Arendt nicht mehr von der großen deutschen hellen Aufklärungstradition, denn diese ist mit Auschwitz kompromittiert, und seitdem gilt auch: „Es gibt kein europäisches Judentum mehr und wird es vielleicht nie wieder geben“ (Arendt 2013: 211). Das Licht, das vom Königsberger Philosophen und jüdischen Aufklärern wie Moses Mendelsohn von dorther einst leuchtete und in das Kindheit und Jugend von Arendt getaucht waren (Braese 2014), ist 1945 noch erhalten in dem einen Freund und dessen Denken und im Austausch, den die Freundschaft möglich macht. Oder noch einmal anders formuliert: an die Stelle des kulturellen Paradigmas, das Aufklärung und Licht verknüpft, tritt das Singuläre der Freundschaft, in dem noch etwas von dem verlorenen kulturellen Licht aufscheint. Die Pole sind also weit gesteckt in dieser Freundschaft: zwischen dem Verborgenen und der Welt, zwischen einem tiefen Vertrauen und einem kaum zu sagenden Befremdlichen, das die Gefahr des Selbstverlusts und der Unmöglichkeit der 156 Dossier Vermessung der Welt mit einschließt. Für all dies ist Sorge zu tragen. Es gibt soviel sich Entziehendes und Verborgenes in diesem ersten Sprechen 1945, und zugleich sind in so wenigen Anfangszeilen des ersten Briefs von Arendt an Jaspers schon so viele Dinge angedeutet oder aufgerufen, von denen man ahnt, dass sie im Zentrum der Fragen des nicht zu Bewältigenden und des Versuchs stehen, durch das Denken und Sprechen eine Beziehung zu dieser traumatischen Geschichte zu gewinnen, ohne davon überwältigt zu werden. Arendt spricht „als lebendige, das heißt unbewältigte Zeugin jener Vergangenheit. Sie verkörpert ein Sprechen, das den zwingenden Zug in die Logik der Sprache der Verfolgung, die als Sprache der Logik auf Schlussfolgerung und spur- und restlose Endlösung drängt, aufhält und ausfranst“ (Schestag 2006: 18). Das zu gewinnende Wissen in Bezug auf die Vergangenheit kann niemals ein festes Ergebnis sein und ist an eine Form der Passivität und eine bestimmte Struktur der Zeitlichkeit gebunden: Das Höchste, was man erreichen kann, ist zu wissen und auszuhalten, daß es so und nicht anders gewesen ist, und dann zu sehen und abzuwarten, was sich daraus ergibt (Arendt 1989: 36). Arendt weiß sehr genau um die gewalttätigen Implikationen eines „Willens zur Bewältigung im Folgern und Schließen“ (Schestag 2006: 20). In diesem Sinne scheint es möglich zu sagen, dass sie mit der Aufnahme des Unabschließbaren in ihr Denken im Rahmen der Freundschaft den Versuch eines Anfangs begründet. Damit wäre ebenso formuliert, dass es sich für Arendt und Jaspers nicht einfach um die Wiederaufnahme eines deutsch-jüdischen Gesprächs nach 1945 handelt, das nach einer Unterbrechung von zwölf Jahren mehr oder weniger ungebrochen, nur ‚unter anderen Vorzeichen‘ fortgesetzt werden kann. Die Fragen und Reflexionen richten sich überdies an alle Menschen, da alle Auschwitz in ihrer Geschichte haben und die Massenvernichtung der europäischen Juden, wie Imre Kertész sagt, zu einer „Welterfahrung“ (Kertész 1999: 151) geworden ist. Außerdem war es 1933 für Jaspers kaum nachzuvollziehen, dass sich Arendt von einer bestimmten Form des Deutschseins in einem nationalen, nicht nationalistischen Sinne distanzierte. Sein eigenes Denken war auf eine Versöhnung von Nation, Demokratie und Philosophie ausgerichtet, während seine Gesprächspartnerin ihre Zugehörigkeit zu Deutschland auf die Muttersprache, die Dichtung und Philosophie begrenzte (Arendt/ Jaspers 1985: 52). Parallel dazu formulierte sie in Anlehnung an ihre Arbeit über Rachel Levin Varnhagen eine vorsichtige Definition dessen, was jüdische Schicksalhaftigkeit genannt werden kann: „dass auf dem Boden des Judeseins eine bestimmte Möglichkeit der Existenz erwachsen kann, die ich in aller Vorläufigkeit andeutungsweise mit Schicksalhaftigkeit bezeichnete. Diese Schicksalhaftigkeit erwächst gerade auf dem Grund einer Bodenlosigkeit und vollzieht sich nur in der Abgelöstheit vom Judentum“ (ibid.: 47). Weder Jaspers noch Arendt hätten wohl ihren Austausch vor der Zwangspause einen deutsch-jüdischen Dialog genannt, und auch nach 1945 spielt dieser Begriff keine zentrale Rolle, da er einerseits die Dimension des Geschehenen in den 157 Dossier Brüchen und Kontinuitäten kaum aufnehmen, andererseits auch die Möglichkeiten dieser Freundschaft nicht hinreichend ausloten kann. Innehalten und Perspektivenwechsel Die ersten Zeilen des zitierten Briefes von Arendt an Jaspers skizzieren, zumal wenn man sie mit Blick auf andere Texte liest, den unabschließbaren Horizont der Fragen und Reflexionen. Wie sehr hier die Schreibende um Ausdruck ringt, zeigt im zweiten Teil des Briefes eine Atempause, ein Innehalten in Form eines Verses aus einem Gedicht von Bertolt Brecht, der aus politischen Gründen ins Exil gegangen war. Die deutschsprachigen, auswendig gelernten Gedichte waren für Arendt die intimste und vielleicht letztgültige Bindung an die deutsche Sprache. In gewisser Weise sind diese Gedichte fast immer auf eine bestimmte Weise präsent und schreiben sich auf verschlungenen Wegen in das eigene Denken, Sprechen und Schreiben ein, wie es Arendt im Gespräch mit Günter Gaus erzählt: „Im Deutschen kenne ich einen ziemlich großen Teil deutscher Gedichte auswendig. Die bewegen sich da immer im Hinterkopf - in the back of my mind; das ist natürlich nie wieder zu erreichen. Im Deutschen erlaube ich mir Dinge, die ich mir im Englischen nie erlauben würde“ (Arendt/ Gaus 1964). Interessanterweise interveniert der deutschsprachige poetische Hinterkopf in einem besonders heiklen und schmerzhaften Moment im Brief, als Arendt von der Gleichschaltung vieler nichtjüdischer Freunde und später auch jüdischer Freunde schreibt. Es scheint, als ob sie in dem Moment, in dem sie diese nachhaltig schwere Enttäuschung über die intellektuellen Freunde andeutet, die sie auch später noch in Texten reflektieren wird, sich ihrer deutschen Sprache über die Poesie versichern muss. Es ist, als ob sie durch die dichterische Sprache an ihrer deutschen Kultur festhalten kann, während sie den Verrat der Intellektuellen in Deutschland, die sich damit kompromittiert haben, hinnehmen muss. Der kurze Vers lautet: „Dies ist nun alles und ist nicht genug / doch zeigt es Euch vielleicht, ich bin noch da… “ (Arendt/ Jaspers 1985: 60). Der erste Teil könnte auch auf Arendts Brief übertragen werden: Gesagt ist (fast) alles, aber alles ist nie genug. Aufschlussreich ist, dass mit der Ansprache „euch“ im Gedicht eine apostrophische Umwendung stattfindet, insofern das Briefadressatenpaar Jaspers einen Moment lang in den Kreis aller Lesenden und Hörenden des Brecht-Gedichts hineingenommen wird. Neben der Umwendung erfolgt auch eine kleine, aber nicht unwichtige Umschreibung: Im Original heißt es im zweiten Vers „doch sagt es euch vielleicht, ich bin noch da“, während Hannah Arendt das Verb ‚sagen‘ durch ‚zeigen‘ ersetzt. Das literarische Intermezzo soll etwas zeigen und bezeugen, nicht erklären. Ein Bild und ein Ton sollen entstehen anstelle eines noch hinzugefügten Worts oder einer bedeutenden Rede für schon Gesagtes zur Erfahrung des Exils. Jemand, der aus einer nicht zu Ende kommenden Erfahrung kommt, die niemals in genug Sprache erfasst werden kann, ist noch da. Wir wissen nichts über das Wie dieses Daseins, aber das Ich ist noch da und kann zumindest noch sagen, dass es noch da ist, auch wenn es für die anderen vielleicht nur begrenzt sichtbar ist. Der Register- und Stimmwechsel 158 Dossier bringt noch einmal anders gelebte Erfahrung zum Ausdruck. Er markiert eine Zäsur, ein Innehalten und zugleich eine Art Bündnis mit allen Exilierten und Flüchtlingen, was auch ihren Text We refugees (Arendt 1943) charakterisiert. Weggelassen hat die Schreiberin den Teil des Gedichts, der ihr auch im Stilmittel des Vergleichs als Rest, Erinnerungsstück und Zeuge vor der Welt im Exil nicht mehr zustand, im Gegensatz zum Sprecher aus dem Brechtschen Gedicht: „Dem gleich ich, der den Backstein mit sich trug / Der Welt zu zeigen, wie sein Haus aussah“. Das Bild vom Backstein des eigenen Hauses hat Arendt genauso wenig ins Exil retten können wie die Bücher, konkret und im übertragenen Sinn als die Repräsentation von Kultur, und sie wurde umgekehrt auch nicht von ihnen gerettet. So liest man im Brief an ihren Freund Kurt Blumenfeld vom August 1945, dass sie beide zu denjenigen gehören, die gerade „von keiner Bibliothek (bildlich gesprochen) geschützt“ und „in keinem Besitz verwurzelt sind […] ihr Milieu sozusagen immer mit sich herumtragen oder, richtiger, darauf angewiesen sind, es immer neu zu produzieren“ (Arendt/ Jaspers 1985: 30). Diese Bemerkungen referieren auch konkret auf die durch das Exil verloren gegangenen, geraubten und manchmal in nationalsozialistischen sogenannten „Feindbibliotheken“ (Grunenberg 2006: 278) gelandeten Büchersammlungen und auf die verbrannten Bücher. Konkret hat Arendt für sich das Problem teilweise gelöst, indem sie in New York die öffentlichen wissenschaftlichen Bibliotheken besuchte, die, so Grunenberg, gut und manchmal sogar mit den eigenen Werken ausgestattet waren (ibid.: 233). Der Vorteil dieses Arbeitens war, dass die Bibliothek auch zum Ort der Begegnung mit anderen exilierten oder einheimischen ‚Kopfarbeitern‘ werden konnte und sich hier neue Netze des intellektuellen Austauschs knüpften. Mit dem Wort von Jaspers entsteht in der städtischen Bibliothek so bereits ein Stück Öffentlichkeit, die ihm unerlässlich für die Auseinandersetzung mit den Fragen der Zeit schien und die Arendt in ihrer Lessingpreisrede, dabei Jaspers ehrend, neben den Begriff der Welt stellt. Diese relativ günstige New Yorker Arbeitssituation löst aber noch nicht das Problem der materiellen Lebens-, Arbeits- und Denkbedingungen und -voraussetzungen, die 1945 benötigt werden, um ein Gespräch mit Jaspers auf der anderen Seite des Ozeans wieder aufnehmen zu können. Wie können beispielsweise die beiden Korrespondenten für ihren brieflichen Austausch nach 1945 konkret das Werk des anderen lesen, wie gelangen die Bücher und Texte von Kontinent zu Kontinent? Und genau in dieser materiellen Frage nimmt dieser erste Brief dann noch einmal eine fast fulminante Wende und führt einen Perspektivenwechsel in Form einer Apostrophe nach dem Gedichtvers ein, der erneut die Beziehung zum Gegenüber dramatisiert und unter Spannung setzt (Allerkamp 2005: 65). Nach dem abwesenden Backstein, der Hinwendung zu einem erweiterten „euch“ und zu allen Flüchtlingen und nach dem im Gedicht evozierten Topos vom nie genug Gesagten und Sagbaren, werden eindringlich erneut die in Deutschland gebliebenen Freunde als die eigentlich Bedürftigen angesprochen, wird deren Adresse erneuert und bekräftigt. Wieder ist es deren Schlamassel und nicht ihr eigenes, das nun ganz im Mittelpunkt steht. Und hier entzündet sich im letzten Teil des Briefes eine Art ‚hausfraulicher‘ Versorgungs-Furor und eine Sorge, in der 159 Dossier auf sehr sinnliche Weise Arendts ganze Sprachmächtigkeit ein Forum findet. Fast fordernd schreibt sie, sie wolle wissen, wie es um die Versorgungslage steht, und zählt doch selbst sogleich vorwegnehmend detailliert alles auf einer Liste der Grundausstattung auf, die jeder Unbehauste, Überlebende und Flüchtling zu allen Zeiten braucht: Wie kommen eigentlich Medikamente, Nahrungsmittel und Genussmittel zu euch? Wie die koschere Wurst für Gertrud, die Jüdin, und der Schweinefleischbacon für Karl, den Nichtjuden? Es werden Carepakete mit Nahrungsmitteln angekündigt, die zu kochen man aber auch die nötige Umgebung und das richtige Rezept braucht. Damit zeichnet die Schreibende ein Bild der Rückkehr in ein Leben, in dem der materielle und geistige Mangel wenigstens ansatzweise gestillt wird: alimentäre Grundversorgung, Gesundheit, geistige Flaschenpost in Texten, Momente von Genuss und administrative Klärung der Lebenssituation - all dies zusammen denkt Arendt in ihrem ersten Brief an Jaspers im Jahre 1945 und suggeriert, sie wolle sich um all dies sorgend im Detail kümmern. Sie ist darauf vorbereitet, denn diese tätige Sorge hat sie schon früh kennen gelernt, als sie noch in Berlin, wo sie auch Flüchtlingen ihre Wohnung als Zwischenaufenthalt zur Verfügung stellt, in der zionistischen Vereinigung für Deutschland arbeitet. Im achtjährigen Exil in Frankreich ab 1933 ist sie in der praktischen politischen Arbeit in der Jugend-Alijah tätig. Und von 1949 bis 1952 arbeitet sie als Geschäftsführerin für die Organisation zur Rettung und Pflege jüdischen Kulturguts, die Jewish Cultural Reconstruction Corporation ( JCR ). Hinausgehen aus der Lese- und Schreibstube, Menschen treffen, hören, unterbringen, versorgen, Papiere aufsetzen und übersetzen, die zur Rettung von Menschenleben und kulturellen Gedächtnissen beitragen, denn Papiere können töten und Leben retten - all das sind praktische Arbeiten, die in den Folgejahren auch ihre theoretische Reflexion befruchten und das Bild des Intellektuellen, der sich ausschließlich im Feld des Denkens aufhält, modifizieren. Zwischen Sprache und Körper: Vom Zeigen in der Gestik Ausführlich war bisher unter der Überschrift der Durcharbeitung die Rede vom Sprechen und vom Körper bzw. von der körperlichen Präsenz des Anderen. In Arendts Briefen und Texten ist immer wieder von Gesten, vor allem Handbewegungen die Rede, die einen Zwischenraum zwischen der Sprache und dem Körper zu besetzen scheinen. Laut Vilém Flusser handelt es sich in der Figur der Geste „um eine symbolische Bewegung, eine zu der Leibesäußerung hinzutretende Darstellung und Sinngebung“ (Flusser 1991: 7). Die symbolische und die außerhalb des Zeichens liegende Ordnung des Realen treffen in der Geste zusammen, sie selbst ist „geprägt einerseits durch Intimität […] und durch die Wiederholung, die sie in die Nähe des Ritus und in die Nähe der von Sigmund Freud beschriebenen Ähnlichkeit zwischen Zwangshandlungen und Religionsübungen bringt“ (Erdle 1996: 239). Die Verbindung zwischen dem Kodierten und dem Intimen, die die verschwiegene Sprache der Geste ausmacht, ist kaum in eine Metasprache zu übersetzen, ohne dass dieses Verschweigen verletzt würde. „Die Geste trägt demnach keine Aussage, sondern sie 160 Dossier unterbricht eher die Logik des Aussagens, um etwas zu zeigen, was sich nicht sagen lässt. […] Die Geste wäre dann die einzige mögliche Darstellung und die einzig legitime Aufnahme dessen, was in der Zirkulation des Geschehens ausdruckslos, unaussprechlich und nicht-präsentierbar bleibt“ (ibid.: 242sq.). Es scheint angemessen, auch hier den Begriff des Zeigens in Opposition zum Benennen zu verwenden: Die Geste zeigt etwas, das nicht sprachlich erfasst wird und das möglicherweise auch im Schweigen geborgen ist. Im Jahre 1946 schreibt Arendt an Jaspers: „Ihre Fragen sind wirklich wie eine ausgestreckte Hand“ (Arendt/ Jaspers 1985: 64). Das Bild von der ausgestreckten Hand ist in mehrfacher Hinsicht bedeutsam. Zum einen existiert ein Bezug zu Arendts Text We Refugees aus dem Jahre 1943, der konstatiert, dass den Flüchtlingen, neben der Sprache, auch die einfachen Gesten verloren gegangen sind: „we lost our language, which means the naturalness of reactions, the simplicity of gestures, the unaffected expression of feelings“ (Arendt 1996: 110). Vielleicht erklärt dies auch die Einsetzung des noch stärker distanzierenden „wie“, des Vergleichs, in Arendts Brief, als ob sie dem direkten Zugang im Sprachbild der „simplicity of gestures“ - „Ihre Fragen sind eine ausgestreckte Hand“ - nicht ganz trauen könnte und diesen kleinen ‚Sicherheitsabstand‘ aufbauen muss. Die Figur der Geste, nun als Gebärde bezeichnet, kehrt auch in der Gedenkrede auf Karl Jaspers 1969 wieder, wenn Arendt ihn u. a. mit dem folgenden Satz ehrt: Das, was an einem Menschen das Flüchtigste und doch zugleich das Größte ist, das gesprochene Wort und die einmalige Gebärde, das stirbt mit ihm und das bedarf unser, dass wir seiner gedenken (Arendt 2013: 345sq.). Die von Jaspers zu Arendt hin „ausgestreckte Hand“ erinnert noch an andere Hände im Leben und Schreiben von Arendt. Es gibt einen Ausspruch von ihr, den der Freund Uwe Johnson 1975 in seinem Nachruf auf sie notiert. Er hatte die Philosophin gebeten, mehr von Königsberg zu erzählen, damit er es aufschreiben könne, was sie aber immer verweigerte. Einen Satz von Arendt aber blieb Johnson dann doch in prägender Erinnerung: „wir waren die letzten in Keenichsbarch, die mit den Händen redeten“ (Arendt 2013: 383). Zum Geistigen der deutschen Sprache gesellt sich eine Gestik, eine Körpersprache, die nicht aufgeschrieben werden kann, weil sie aus anderen Quellen kommt als das Kantische Deutsch der Rationalität. Körper und Sprache sind in dieser Rede vom ‚mit den Händen sprechen‘ auf intime Weise miteinander verwoben, aber es wird in der Vergangenheit gesprochen. Die von Arendt genannten Personen waren die letzten, denn es gibt kein europäisches Judentum mehr. Das Bild der Hände lässt sich nun mit Jaspers’ Fragen als ausgestreckter Hand zusammendenken. Das Sprechen mit den Händen der europäischen Juden existiert nicht mehr, und es ist nun die Zeit der Fragen, die im Bild der ausgestreckten Hand eine erhoffte Richtung anzeigen. Der Freund steht in gewisser Weise ein für das verlorene Mit-den-Händen-Sprechen. Die Lücke bleibt darin ganz sichtbar: keine Königsberger Jüdin spricht mehr mit den Händen, aber der Freund reicht ihr eine Hand, indem er fragt und zu antworten versucht. Das ist 161 Dossier gerade nicht die Wiederholung von Arendts Gestik, die Johnson fordert und die die Lücke überspringen soll, wenn er sagt: „erzählen Sie mehr von Königsberg“. Sie lehnt ab, weil es nicht mehr geht, weil es die europäischen Juden mit ihrer deutschen Kultur und auch die Hannah Arendt aus Königsberg nicht mehr gibt. Vielleicht war aber auch nur in dieser Gestik des Eingedenkens des Verlorenen der Beginn eines über Jahrzehnte währenden Dialogs zwischen der Jüdin Hannah Arendt und dem Deutschen Karl Jaspers nach 1945 denkbar. In Analogie dazu liest man in einem Brief von Arendt an Mary McCarthy 1968 von dem einzig richtigen zeitlichen Ort des Denkens: sich in eine Lücke zwischen Vergangenheit und Zukunft fallen lassen (ibid.: 328sq.), was wiederum an das Motto ihres Totalitarismus-Buches erinnert und das aus Jaspers Von der Wahrheit stammt: „weder dem Vergangenen anheimfallen noch dem Zukünftigen. Es kommt darauf an, ganz gegenwärtig zu sein“ (Hahn 2005: 45). Sich in die Lücke zwischen den Zeiten fallen lassen, ist eine andere Bewegung als das Gegenwärtig-Sein bei Jaspers. Wieder antwortet Arendt dem Freund mit einer notwendigen Modifikation für die eigene Position. Sich fallen lassen heißt, noch nicht genau zu wissen, was daraus folgt, heißt, ein Vertrauen im Fallen und ins Fallen selbst zu aktivieren, heißt auch, nicht sicher zu sein, dass man die Lücke auch wirklich durch Präsenz ausfüllen und diese Präsenz verkörpern kann. Genauso wie die sich ausstreckende Hand über die fragende und antwortende Sprache ihrerseits Präsenz und Antwort im Gegenüber erst einmal nur erhoffen darf, um gemeinsam den Raum der Gegenwart vielleicht wieder einnehmen oder zumindest vorläufig abschreiten zu können. Die ausgestreckte Hand ist nicht die zupackende und nicht die festhaltende, sondern zunächst einmal nur die offene Hand. Und dieser offenen Hand kann auch etwas entgleiten, dies kann Verlust sein oder der Anfang einer neuen Bewegung, die etwas Unvorhersehbares weiter trägt. In diesem Sinne erzählt Arendt in ihrem Buch Die ungarische Revolution und der totalitäre Imperialismus: Pasternak, so hören wir, hatte in Moskau einen Vorleseabend angekündigt, zu dem sich eine ungeheure Menschenmenge eingefunden hatte, wiewohl doch sein Name nach all den Jahren des Schweigens nur noch als der des Übersetzers von Shakespeare und Goethe ins Russische bekannt war. Er las aus seinen Gedichten und es geschah, dass ihm beim Lesen eines alten Gedichts das Blatt aus der Hand glitt: ‚Da begann eine Stimme im Saal aus dem Gedächtnis das Gedicht weiterzusprechen. Von mehreren Ecken des Saales stiegen andere Stimmen auf. Und im Chor endete die Rezitation des unterbrochenen Gedichts (Arendt 2000a: 78). „Und es geschah“, schreibt Arendt und erzählt hier im Klang der alten Geschichten und Märchen von alten Gedichten und einem Ton, der von dem einen ausgeht und von den anderen dann weiter getragen wird, weil der eine es zulässt, dass ihm das Papier aus der Hand gleitet. Er unterbricht sein Sprechen und „öffnet den Raum für eine andere Zeit, und für die Dauer der Rezitation ist die Hoffnung zur Gewissheit geworden“ (Hahn 2005: 106). Das Weitersprechen zeugt davon, dass wenn die Stimme des einen versagt, verboten oder erstickt wird, sie im Chor der Freundschaft, im Echoraum der Poesie, von anderen Stimmen weitergetragen wird: Poétique de l’amitié. 162 Dossier Allerkamp, Andrea, Anruf, Adresse, Appell. Figurationen der Kommunikation in Philosophie und Literatur, Bielefeld, transcript, 2005. 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