eJournals lendemains 42/166-167

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Narr Verlag Tübingen
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2017
42166-167

Jean Améry und Helmut Heißenbüttel: Lefeu oder Der Abbruch der Sprache im Zeichen der Freundschaft

2017
Andree Michaelis-König
ldm42166-1670143
143 Dossier Andree Michaelis-König Jean Améry und Helmut Heißenbüttel: Lefeu oder Der Abbruch der Sprache im Zeichen der Freundschaft Ausdrücklich grüßt Jean Améry in einem der Abschiedsbriefe, die er am 16. Oktober 1978 vor seinem Freitod verfasste, den „Freund Heissenbüttel“ (Améry 2007b: 599). Und auch Helmut Heißenbüttel spricht etwas später Améry gegenüber von der „Pflicht eines Freundes“, während er diesen als einen „Autor und [eine] Person“ bezeichnet, „auf deren Urteil ich, so lange ich ihn kannte, immer gehört habe und der für mich, über den Tod hinaus, verpflichtend geblieben ist bis heute“ (Heißenbüttel 1985: 278). Eine Nähe und Vertrautheit deutet sich in diesen Sätzen an, die gleichwohl im Werk zu Lebzeiten kaum aufzuspüren ist. Stattdessen weist das Verhältnis des deutschen Kriegsveteranen Helmut Heißenbüttel und des österreichischen Juden Jean Améry, der Auschwitz überlebt hatte, eine Reihe fundamentaler Unterschiede auf, die sich mit einem emphatischen Freundschaftsbegriff kaum vereinbaren lassen. Dabei bewegten sich Améry und Heißenbüttel durchaus in physischer und intellektueller Nähe zueinander. Sie waren bei-nahe Freunde. Doch erst vom Tod des Freundes her lässt sich die Geschichte ihrer Freundschaft schreiben, die gleichwohl bis zuletzt im Zeichen der Apostrophe verblieb. Der Bund der Freundschaft erweist sich als ein doppelt gebrochener: Einmal, insofern er erst in der Geste der Nachträglichkeit nach dem Tode des Freundes seine Vollendung erfährt; eine Diskursstrategie, die seit Augustinus und Montaigne den (Re-)Konstruktionscharakter der Rede von Freundschaft unter Beweis stellt. Zum anderen führt die Praxis, die sich bei Améry und Heißenbüttel gleichsam auf dem Weg zu einer potenziellen Freundschaft beobachten lässt, eine Bruchstelle im Diskurs selbst vor Augen. Sie verläuft zwischen dem Anspruch auf den Freund als anderes selbst (Aristoteles) mit seinen Identitätsphantasien und der Notwendigkeit, dem Anderen gerade als Anderem zu begegnen, ihm mit ‚Achtung‘ (Kant) und als ‚Dritten‘ (Nietzsche), also gerade im Zeichen der Differenz entgegenzutreten. Spannend erscheint vor diesem Hintergrund, jene vielschichtige Textur der Aushandlung und des Streits im Werden der Freundschaft zu verfolgen (cf. Bovenschen 1986: 93sq.), und zwar gerade dort, wo sie sich formiert und wo Konflikt und Dialog miteinander ringen. Hierfür ist Amérys Roman-Essay Lefeu oder Der Abbruch (1974) ein faszinierendes Zeugnis. Denn das Werk, das zunächst als Kritik und Widerspruch im Modus der Selbstbefragung gemeint war, entwickelte sich für Améry gleichsam performativ zu einer dialogischen Annäherung an die Poetik Heißenbüttels. Im Kompromiss, der sich so ergab, liegt die Wurzel ihrer Bei-Nahe-Freundschaft verborgen, deren Werden poetologisch einsetzte, doch erst nach dem Tod des Freundes mit diesem Namen sanktioniert wurde. 144 Dossier Améry und Heißenbüttel betraten die kulturelle Szene im Nachkriegsdeutschland aus sehr unterschiedlichen Richtungen. Améry lebte, nachdem er, verfolgt als Jude und Widerständler, 1943 in Belgien verhaftet, gefoltert, 1944 nach Auschwitz deportiert und schließlich am 15. April 1945 in Bergen-Belsen befreit wurde, in Brüssel. Seit Ende des Krieges blickte er von dort zurück auf Österreich und Deutschland, wo das Gros seiner weiterhin in deutscher Sprache verfassten journalistischen Beiträge erschien, während er eine grundsätzliche Distanz zu beiden Ländern wahrte. Heißenbüttel war demgegenüber im bundesdeutschen Kultur- und Literaturbetrieb längst angekommen. Seit 1959 war er Leiter des Radio-Essays im Süddeutschen Rundfunk. 1 Mit dieser Position und seinen Beziehungen zu den jungen Autorinnen und Autoren der Gruppe 47 zählte er zum etablierten Kreis einer neuen deutschsprachigen Avantgarde. Er war neun Jahre jünger als Améry, doch auch er hatte in den 1930er Jahren zu schreiben begonnen. 1939, mit 18 Jahren, war er in die Wehrmacht eingezogen worden und erlitt 1941 während des Russlandfeldzuges eine schwere Kriegsverletzung, die zur Amputation seines linken Arms führte. Über den kriegsversehrten Wehrmachtssoldaten Heißenbüttel erlangte Améry 1964, dem Jahr ihrer ersten Begegnung, seine erste Resonanz als dezidiert jüdischer Intellektueller, der sein Überleben von Auschwitz vor einem deutschen Publikum öffentlich diskutierte. Dabei trat Heißenbüttel gleichsam als „sein Mäzen“ auf (Heidelberger-Leonard 2004: 189), indem er Amérys erstes autobiographisches Werk, den Band Jenseits von Schuld und Sühne, förderte, der sich unmittelbar mit der „existentiellen Problematik“ (Brief an Heißenbüttel v. 20.5.1965, Améry 2007b: 107) seiner Folter- und Auschwitzerfahrungen beschäftigt. Heißenbüttel wurde zum ersten Leser aller im Folgenden entstandenen Texte Amérys, die bis hin zu Lefeu oder Der Abbruch über Heißenbüttels Redaktionstisch wanderten, um im Rundfunk, von Améry selbst gelesen, ausgestrahlt zu werden. Hierdurch lernte Heißenbüttel die oft in Verzweiflung gestoßene Innenwelt Amérys kennen, der, wie seine Briefe offenbaren, höchst sensibel die Aufnahme seiner Texte verfolgte. Améry selbst wähnte sich Heißenbüttel gegenüber in tiefster Schuld, bittet ihn jedes Mal um sein kritisches Urteil und zeigt sich gleich mehrfach besorgt, die, so Améry, „beträchtliche Vehemenz“ all solcher Essays, in denen er die Schuld der Deutschen anklagte, „könnte Sie vor interne Schwierigkeiten gestellt haben“ (an Heißenbüttel v. 26.1. 1966, Améry 2007b: 161). Immer wieder ist von Besuchen und der Hoffnung auf Aussprachen die Rede, zu denen es aber zunächst kaum kommt. Mehr als ein paar Mal im Jahr sehen sich die beiden nicht; zeitweilig bricht der Kontakt gar vollständig ab. 2 Eine auch als solche erklärte, aktive Freundschaft entstand in diesen Jahren nicht. Was Améry an einigen der Arbeiten Heißenbüttels reizte, war offenkundig die thematische Nähe der Auseinandersetzung mit der Gewaltvergangenheit durch den anderen Deutschen. Eine Distanz hingegen markierte die ästhetische Bauform der Texte, die Améry - so wörtlich: - „nicht begriff“ und die ihn auch in den nächsten Jahren auf Abstand gehen ließ (an Heißenbüttel v. 7.11.1967, Améry 2007b: 258). Offenkundig wird dies anlässlich Heißenbüttels D’Alemberts Ende von 1970, einer gigantischen Zitatparodie in Romanform. Erzählt wird darin im engeren Sinne nicht. 145 Dossier Vielmehr legte Heißenbüttel ein intertextuell gesättigtes, die Strukturprinzipien der Montage auf die Spitze treibendes Zeitportrait vor. Erstmals erprobt er hier in langer Prosa seine bisher vor allem in lyrischen Kurzformen verwirklichte Poetik der ‚synthetischen Authentizität‘, die häufig in die Nähe der ‚Konkreten Poesie‘ Eugen Gomringers gerückt wird (Combrink 2011: 67sq.). Tatsächlich ist Heißenbüttels Dichtung als rigoroser Erneuerungsversuch angesichts einer nach dem Krieg virulent gewordenen Subjektphilosophie zu verstehen und steht in engstem Zusammenhang mit postmodernen Theoriekonzepten vornehmlich französischer Provenienz (cf. ibid.: 61sqq.). Auf der Grundlage einer Subjektdekonstruktion im Sinne Derridas und Lacans schloss sich Heißenbüttel mit seiner ästhetischen Praxis einer subversiven Montage vor allem den Text-Praktiken Roland Barthes’ sowie der Diskurskritik Michel Foucaults an (cf. Lorenz 1981). Ästhetisches Ziel wurde, den Sprachdiskurs aufzubrechen und die „im Zerfall des Systems freiwerdenden Sprachelemente“ neu zu montieren (Heißenbüttel 1966: 74). Dem diskursiven Projekt, das Heißenbüttel verfolgte, stand Améry durchaus aufgeschlossen gegenüber, denn die analytisch-genaue Durchdringung einer unzugänglich gewordenen Erfahrung war auch sein Lebensthema. Doch zunächst kapitulierte er vor dessen Texten, wenngleich er sie genau und mehrfach studierte. Nach seiner Lektüre von D’Alemberts Ende schreibt er an Hans Paeschke: „Ich fühle dunkel, dass dies ein bedeutendes Buch ist, aber auf weiten Strecken bin ich völlig ratlos. Il m’arrive de me dire: mais je ne comprends rien à rien“ (an H. Paeschke v. 28.8.1970, Améry 2007b: 343). Als seinem „ersten deutschen Förderer“ möchte er Heißenbüttel „die verdiente Huldigung“ (ibid.: 344) einer wohlwollenden Besprechung seines Buches erbringen. Allein der Abstand war zu groß: Heißenbüttels Schreibweise überschreitet das poetologische Grundverständnis des jüdischen Autors, dessen literarische Vorbilder die großen Autorinnen und Autoren der klassischen Moderne waren, allen voran Thomas Mann, Hermann Broch und Marcel Proust. Der Wiener Kreis und der Logische Empirismus waren die Wurzeln seiner intellektuellen Sozialisierung (cf. Heidelberger-Leonard 2004: 36sq.); der Satz des frühen Wittgenstein, man solle schweigen über das, worüber man nicht reden könne, die bleibende erkenntnistheoretische Prämisse seines an Aufklärungsdenken und Sartreschem Existenzialismus geschulten Sprachverständnisses. Nicht mit der Sprache zu brechen, wie Heißenbüttel es tat, war die Konsequenz, die Améry aus seiner eigenen existenziellen Erschütterung nach Auschwitz zog. Vielmehr zeichnet sich sein Werk durch den unermüdlichen Versuch aus, auch die traumatischen Erfahrungen der Verfolgung und der Folter sprachlich so analytisch genau zu durchdringen wie möglich. Entsprechend vernichtend fällt Amérys Einschätzung nicht nur einer diese Grundlagen in Zweifel stellenden Ästhetik und ihrer postmodernen Theorie aus. Wo Améry Sartre auf den höchsten Thron hebt, stürzt er allen voran Foucault und den mit ihm assoziierten Strukturalismus in den tiefsten Abgrund. Was Améry nicht gelten lassen konnte, war, dass mit der strukturalistischen Absolutsetzung der Sprache „[d]er Mensch verschwindet sowohl als empirisches wie als transzendentales Subjekt“ (Améry 2004: 94). Durch den rigorosen Zweifel am 146 Dossier Wirklichkeitsbezug qua Sprache erschien ihm ein solches Denken Quelle „einer antihumanen Ideologie“ (ibid.: 103). Vor diesem Hintergrund erklärt er jeder Form von „Sprachvergötzung“ (ibid.: 101) den Krieg und geriet in eine poetologisch antagonistische Position auch gegenüber Heißenbüttel. So vorsichtig Améry dem deutschen Redakteur und Mäzen gegenüber auch argumentierte, so entschlossen war er doch, dem ‚antihumanistischen‘ Treiben seiner Zeitgenossen mit aller Kraft entgegenzutreten. Dies verwirklicht Ende 1971 der Plan für seinen ‚Roman-Essay‘ Lefeu oder Der Abbruch. Keineswegs erfreut war Heißenbüttel, als er darin las, dass die „[w]esentliche formale Grundlage“ des Werks das emphatische „Vertrauen in die Sprache“ (Améry 2007a: 649) sein sollte. Der Angriff auf die differierende „Kunsttheori[e]“ (an Heißenbüttel v. 18.7.1972; Améry 2007b: 400) war nicht zu überlesen, umso weniger, als Améry als „Gefährtin“ seines Protagonisten Lefeu eine „um modernste Ausdrucksmittel bemüht[e] Lyrikerin“ vorsah, „die, im Maße, wie sie in ihren Arbeiten die Sprache auflöst, der Alienation [...] anheimfällt und möglicherweise Selbstmord begehen wird“ (Améry 2007a: 650). Das Streitgespräch, das die beiden seit nunmehr sechs Jahren miteinander zu führen nicht die Gelegenheit gefunden hatten, motivierte Améry nun zur Konfrontation. Auch Heißenbüttel suchte in den kommenden Monaten den Dialog, erklärte nochmals sein Verständnis des D’Alembert und ging auf Améry zu (cf. Améry an Heißenbüttel v. 5.1.1973, Améry 2007b: 412). Zunächst indes errichtete Améry ein literarisches Bollwerk gegen den Verlust des Sprachvertrauens, indem er unvermittelt mit dem vermeintlich ‚strukturalistischen‘ Gedankengut abrechnete: Im ersten Kapitel des Buches entwirft er seinen jüdischen Exil-Künstler Lefeu als einen rigorosen Neinsager. Gegenstand seiner Ablehnung ist eine im Verfall befindliche, unmenschlich gewordene Gegenwartskultur, die nicht zuletzt die Lyrikexperimente seiner deutschen Partnerin Irene oder „Irène“ miteinschließt (cf. Améry 2007a: 306). Améry verfasst eine Kulturkritik gerade der bundesdeutschen Gegenwart. Irene/ Irène dichtet denn auch auf Deutsch und baut ihr im Text leitmotivisch wiederkehrendes Gedicht auf dem über Paul Celan mit der Todesmaschinerie der Vernichtungslager assoziierten Motiv der „Pappeln“ auf (cf. Kappel 2009: 304-309): „Pappelallee, Pappelallee, alle Pappeln, Pappelnalle, Plapperpappel, Geplapper, Geplapper. Es kann nichts gedeihen auf diese Weise. Es kann nicht gut ausgehen mit Irene und ihresgleichen“ (Améry 2007a: 292). Die „gewaltsam zerhämmerten Sprachtrümme[r]“ (ibid.: 292) ihrer Dichtung werden solcherart enggeführt mit Lefeus Perspektive auf die Geschichtsvergessenheit von deutschen Kunstgalleristen und den allgemeinen Kulturverfall. Unmissverständlich wird so eine Anklage erkennbar, die gerade der deutsche Dichter Heißenbüttel kaum nicht auf sich beziehen konnte. All dies gipfelt in der scheinbar endgültigen Absage: „Ich kann dir nicht Gefährte sein, weil du aus der Sprache und mit ihr aus der Welt geflohen bist“ (ibid.: 377sq.). Doch bereits im Verlauf der ersten drei Kapitel verschiebt sich Amérys Erzählkonzept, das zum ursprünglichen Exposé des Buches zunehmend in ein Spannungsverhältnis gerät. Nun performiert der Erzähler nach der Anklage jeder „Preisgabe“ des „Aussagesinns“ (ibid.: 359) selbst, wovon er sich distanzieren wollte: „Leise 147 Dossier zu sagen: Je t’aime beaucoup, je serais terriblement seul sans toi, seul, seul, söll wohl! “. „Der Wahnsinn“, so kommentiert er schließlich, „scheint ansteckend zu sein“ (ibid.: 360). Tatsächlich eignet sich Améry im Vorgang seines Schreibens poetologische Elemente Heißenbüttels an. Inmitten seiner Arbeit an Lefeu, so schreibt er, sei ihm „die Möglichkeit eines ganz anderen Zuganges zu Ihrem Werk gegeben - und ich las es mit Gewinn und Spannung“ (an Heißenbüttel v. 5.1.1973, Améry 2007b: 412). Hier fand sie statt, die Annäherung an den Bei-Nahe-Freund, um dessen Nähe sich Améry schon so lange bemüht hatte. Nun entdeckte er „[e]ine ganz überraschende Ähnlichkeit zwischen meinen Partien“ und den Sätzen in Heißenbüttels Roman: „Und schließlich jene Stellen, in denen vom Tode die Rede ist: da war ich ganz daheim, ‚als wär’s ein Stück von mir‘“ (ibid.: 412sq.). Die neu entdeckte Vertrautheit mit den Sprachspielen des anderen tritt eben dort ein, wo es um den gemeinsamen Abgrund geht: die Todeserfahrung, aus der später ihre Freundschaft selbst sich formen sollte. Gerade sie ist es denn auch, die seiner Figur Lefeu durch die vermeintlich bedeutungsgesicherte Sprache zunächst verstellt wird. Indem sich Lefeu „strikt an den Sinn der Sätze“ hält, klammert er sich „an die Gegenwart“ (Améry 2007a: 338). Das Festhalten an „den Dingen“ (ibid.: 352) ist auch eine Vermeidungsstrategie der Konfrontation mit der eigenen Vergangenheit. Sie aber tritt gerade beim Anblick von „wehenden Pappeln“ (ibid.: 423) im Widerschein der brennenden Erdgasfelder von Lacq assoziativ hervor. Es ist endlich diese Konstellation, die Lefeu zur Erinnerung an die Verschleppung und Ermordung seiner Eltern in Auschwitz trägt. Zwar vertritt Lefeu zunächst vehement die Ansicht, jede metaphorische wie denotative Benennung dieses Vorgangs könne auf nichts als unangemessene und „entwertete Wörter“ (ibid.: 424) zurückgreifen: Celans Vers aus der Todesfuge vom „Grab in den Lüften“ verurteilt er als ‚verbraucht‘. Und doch zitiert er ihn dann immer wieder (cf. ibid.: 424, 426, 427). An diesem Punkt ist Améry-Lefeu angekommen bei der an Heißenbüttels Poetologie gemahnenden Einsicht in die Verbrauchtheit des Sprachsystems. Zugleich insistiert das drängende Gefühl der unverarbeiteten Vergangenheit auf der Notwendigkeit eines Sagens trotz allem, denn es „hieße schweigen, [zu] verschweigen“ (ibid.: 427), und das scheint ihm moralisch unmöglich. So ist Amérys Essay-Roman zuletzt die Bühne einer verbissenen Austragung dieses Widerspruchs von sprachlicher Verbrauchtheit und einem Sagen-Müssen, der seine vorläufige Aufhebung in dem Wort „Feuerreiter“ erfährt. Es stellt sich für ihn zuletzt als „das ganz andere Wort“ ein, „das mit dem Vorgang der Deportation der Eltern und ihrer Vernichtung kaum irgend etwas zu tun hat“ (ibid.: 432). Indes den Versen aus Mörikes Gedicht eignet ein willkürlicher, doch plausibler „Beschwörungswert“ (ibid.: 424). Für Lefeu haben sie, wie es später im Text heißt, „emotionelle Realität“ (ibid.: 473). So weit ging Améry Heißenbüttel entgegen, und es geschah im Zeichen dieser Bewegung, dass beide auf gleichsam poetologischer Ebene beinahe zu Freunden wurden: „In der Tat habe ich das Gefühl, dass wir irgendwie konvergieren“ (an Heißenbüttel v. 5.1.1973, Améry 2007b: 413), schreibt ihm Améry. Tatsächlich vollzog auch Heißenbüttel in diesen Monaten eine poetologische Wende, für die es 148 Dossier leider wenige direkte Zeugnisse gibt. Doch seine Werke der folgenden Jahre - vor allem die drei Teile des Projekt 3 - wurden unmissverständlich gegenständlicher, auch das Autobiographische rückte stärker in den Fokus, und Heißenbüttel gewann Abstand gegenüber den Sprachspielen seines Frühwerks (cf. Combrink 2011: 14, 65). Was Améry für seinen Lefeu als nahezu unfreiwilligen Vorgang reflektierte, bei dem sie sich in der Dichtung, im Prozess des Schreibens selbst näher kamen, galt schließlich für beide. In diesem Sinne ist noch dem letzten erzählenden Kapitel von Lefeu eine gewisse Reue darüber eingeschrieben, dass dieser Vorgang nicht früher geschah: „Es ist schade [...], daß es niemals zum Wort- und Denkwechsel kommen konnte zwischen uns beiden, ich wußte nie, wo du wohnst, und habe jetzt nicht mehr die mindeste Chance, es zu ergründen“ (Améry 2007a: 461). Tatsächlich kam der Prozess des Werdens einer Freundschaft nicht mehr zum Abschluss, ehe Améry im Oktober 1978 den Freitod wählte. Dokumentiert ist gleichwohl, dass die Zahl der Begegnungen nach 1974 wieder zunahm und dass Améry an Heißenbüttels „uneingeschränkter Solidarität“ (an H. Paeschke v. 22.6.1974, Améry 2007b: 455) nicht mehr zweifelte. Die Fäden, aus denen sich das Band einer Freundschaft zwischen ihnen hätte nähen lassen, lagen also da, nur wurde der Bund zu Lebzeiten nicht mehr vollendet. Die Freundschaft blieb Textur und Potenzial. Erst der Tod hat die Nähe vervollkommnet. Erst durch ihn, diesen letzten ‚Abbruch‘, kommt der Diskurs der Freundschaft zu sich selbst. Améry, Jean, „Wider den Strukturalismus. Das Beispiel des Michel Foucault“, in: id., Werke, Bd. 6: Aufsätze zur Philosophie, Stuttgart, Klett-Cotta, 2004, 78-105. —, Werke, Bd. 1: Die Schiffbrüchigen. Lefeu oder Der Abbruch, Stuttgart, Klett-Cotta, 2007a. —, Werke, Bd. 8: Ausgewählte Briefe 1945-1978, Stuttgart, Klett-Cotta, 2007b. —, „Lefeu oder Der Abbruch. Konzept zu einem Roman-Essay (1972)“, in: id., Werke, Bd. 1: Die Schiffbrüchigen. Lefeu oder Der Abbruch, Stuttgart, Klett-Cotta, 2007c, 649-660. Bovenschen, Silvia, „Die Bewegungen der Freundschaft. Versuch einer Annäherung“, in: Neue Rundschau, 97 (4), 1986, 89-111. Combrink, Thomas, Sammler und Erfinder. Zu Leben und Werk Helmut Heißenbüttels, Göttingen, Wallstein, 2011. Heidelberger-Leonard, Irene, Jean Améry. Revolte in der Resignation. Biographie, Stuttgart, Klett-Cotta, 2004. Heißenbüttel, Helmut, „Konkrete Poesie“, in: id., Über Literatur, Olten et al., Walter, 1966, 71- 74. —, „Nachwort“, in: id. (ed.): Jean Améry: Der integrale Humanismus. Zwischen Philosophie und Literatur. Aufsätze und Kritiken eines Lesers 1966-1978, Stuttgart, Klett-Cotta, 1985, 274- 278. Kappel, Ivonn, „In Fremden Spiegeln sehen wir das eigene Bild“. Jean Amérys „Lefeu oder Der Abbruch“, Würzburg, Königshausen & Neumann, 2009. Lorenz, Otto, „Schreiben wie nach einem Backrezept. Poststrukturalistische Theorie als Prämisse von Heißenbüttels ‚Projekt 3‘“, in: Text+Kritik, 69/ 70, 1981, 85-96. 149 Dossier 1 Cf. zur Biographie Heißenbüttels den Artikel „Helmut Heißenbüttel“, in: Michael Assmann (ed.), Der Georg-Büchner-Preis. 1951-1987, München/ Zürich, Piper, 1987, 236sq. 2 So sind für die Jahre 1971 und 1972 nur zwei Briefe Amérys an Heißenbüttel überliefert (vom 30.3.1971 und vom 18.7.1972). Ferner werden in den Briefen aus den Jahren 1969 bis 1972 so gut wie keine persönlichen Begegnungen oder Besuchspläne erwähnt.