eJournals lendemains 42/166-167

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Narr Verlag Tübingen
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2017
42166-167

Liebes- und Freundschaftsbriefe. Franz Rosenzweig an die Rosenstocks

2017
Sonja Goldblum
ldm42166-1670135
135 Dossier Sonia Goldblum Liebes- und Freundschaftsbriefe. Franz Rosenzweig an die Rosenstocks Als 2002 Rosenzweigs ‚Gritli‘-Briefe (1927-1926) im Tübinger Bilam-Verlag erschienen sind, war die Aufregung groß (Rosenzweig 2002). Einerseits war der Eindruck berechtigt, Franz Rosenzweigs Freundschaft mit dem Rechtshistoriker Eugen Rosenstock sei gut bekannt, da ihr Briefwechsel aus dem Jahr 1916 Rosenzweig und ihn zu bedeutenden Vertretern des christlich-jüdischen Dialogs gemacht hatte. Andererseits aber stand eine gewisse Gritli im Mittelpunkt des bisher unveröffentlichten Materials, von der man wenig wusste, außer dass sie Eugen Rosenstocks Ehefrau war und dass sie eine Liebesgeschichte mit Rosenzweig verband, die Rosenzweigs Verwandte und Anhänger lange Zeit zu vertuschen versucht hatten. 1 Interessant an diesen Briefen ist aber vor allem einerseits die Spannung zwischen Liebe und Freundschaft, die sie sowohl auf der persönlichen als auch auf der theoretischen Ebene zutage treten lassen, andererseits der latente Konflikt, der das Verhältnis der drei Briefpartner und die konkrete Form der Briefe grundsätzlich prägt. Franz Rosenzweig wurde 1886 in Kassel geboren und ist 1929 in Frankfurt gestorben. Er stammt aus einer typischen deutsch-jüdischen emanzipierten, bürgerlichen Familie, sein Vater war in Kassel ein angesehener Kaufmann und seine Mutter eine gebildete Frau. Bekannt wurde er durch verschiedene Verdienste wie beispielsweise die Mitarbeit am Aufbau des Frankfurter Lehrhauses und durch zahlreiche religionsphilosophische Werke, die so viele Stationen in seinem Werdegang markieren. Für die vorliegenden Ausführungen ist vor allem der 1921 erschienene Stern der Erlösung (Rosenzweig 1988) wichtig, ein philosophisches System, das durch den Willen gekennzeichnet ist, zum einen die jüdische Tradition mit der deutschen Philosophie ins Gespräch kommen zu lassen und zum anderen Judentum und Christentum eine gleichwertige Funktion für den Wahrheitsbegriff zuzuweisen. Eugen Rosenstock, Jurist und Rechtshistoriker, ist der zweite Protagonist dieses Briefwechsels, er stammt aus einem ähnlichen Milieu wie Rosenzweig, allerdings konvertiert er bereits als 18-jähriger zum Christentum. Sie lernen sich 1910 anlässlich einer Historiker-Tagung in Baden-Baden kennen. Rosenstock verkehrt in dem Kreis um Rosenzweigs Cousins Rudolf und Hans Ehrenberg. Ohne ihn bleibt Rosenzweigs theologischer Werdegang unverständlich. In den 1910er Jahren vertritt Rosenzweig eine hegelianische Weltsicht, die mit der Überzeugung einhergeht, die europäische Kultur sei eine christliche (Mosès 2009: 208). Dementsprechend lässt sich Rosenzweig während eines berühmt gewordenen nächtlichen Gesprächs in Leipzig von seinem Cousin und Eugen Rosenstock überzeugen, sich taufen zu lassen. Rosenzweig nimmt allerdings seine Entscheidung kurz darauf zurück, um sich konsequenterweise von Hegel ab- und dem Judentum zuzuwenden. Margrit Rosenstock (geb. Margaretha Anna Huessy), die dritte Protagonistin, ist Rosenstocks Ehefrau. Die 1888 geborene Schweizerin heiratete 1914 Eugen 136 Dossier Rosenstock und emigrierte mit ihm 1933 in die USA , wo sie 1959 starb. Von ihrem schriftlichen Nachlass ist nur wenig erhalten, da ihre Briefe an Rosenzweig von seiner späteren Frau zerstört wurden. Den Umschlag der Buchausgabe ihrer Korrespondenz (Rosenzweig 2002) ziert eine verblichene Fotografie, die ihre Gesichtszüge kaum erahnen lässt; sie kann als Symbol für ihre filigrane Präsenz in dem Briefwechsel gedeutet werden. Rosenzweig lernt sie im Jahre 1917 kennen und verliebt sich gleich. Diese Liebesbeziehung geht mit einer der produktivsten Schaffensperioden des Philosophen einher. Dieses komplexe Dreiecksverhältnis, das sich vor dem Hintergrund des bereits skizzierten theologischen Konflikts abspielt, findet im Briefwechsel ein solides theoretisches Fundament, das erlaubt, die Problematik von Freundschaft bei Rosenzweig zu untersuchen. Im Folgenden soll gezeigt werden, wie Rosenzweigs Abkehr vom Begriff der Freundschaft zugunsten der Liebe dem Philosophen ermöglicht, einerseits eine Poetik des Briefs zu entwerfen, andererseits seine Freundschaft in sein philosophisches Projekt zu integrieren. Eros - Agape - Philia In den ‚Gritli‘-Briefen wird ständig auf den Begriff der Liebe rekurriert, womit allerdings Verschiedenes gemeint ist. Als Liebe wird sowohl das Verhältnis von Rosenzweig zu Margrit als auch seine Beziehung zu Eugen Rosenstock bezeichnet. Die theologische Valenz des Liebesbegriffs spielt ebenfalls eine herausragende Rolle in den Briefen, in denen die Entscheidung Rosenzweigs für das Judentum und gegen die Taufe vielfach diskutiert wird. Dieser Gebrauch zeugt von der deutschen Tradition, bei der die zwei Begriffe Eros und Agape gleichermaßen mit ‚Liebe‘ übersetzt werden. 2 Verwunderlich ist es also nicht, dass Rosenzweig keinen sprachlichen Unterschied zwischen der theologisch verstandenen Liebe und der erotischen Liebe macht. Erstaunlicher und erklärungsbedürftig ist, dass er zwischen Liebe und Freundschaft keinen Unterschied zu machen scheint, indem er Eugen Rosenstock in seine Liebe zu Gritli einzuschließen sucht: wenn ich nicht in deiner Liebe ihn mitlieben kann, jeden Augenblick und ohne Unterschied, so bitte ich den, den man bitten kann, dass er mir die Kraft gibt, auch den Schlüssel zu den nun erlaubten Türen von mir zu werfen ins Nichts wo es am tiefsten ist (Rosenzweig 2002: 55). Somit schafft Rosenzweig ein gedankliches Kontinuum der Liebe zwischen seinem Freund und seiner Geliebten, um Eifersucht vorzubeugen und eine Form der Dreiecksbeziehung möglich zu machen, in der es keine Konkurrenz zwischen der Liebe zu der Frau und der Freundschaft zu dem Mann gibt. Ein anderer Grund liegt aber in Rosenzweigs grundsätzlicher Skepsis der Freundschaft, genauer: den Männerfreundschaften gegenüber: 137 Dossier Männerfreundschaften werden wohl immer unter der Klausel rebus sic stantibus geschlossen […]. Die Liebe ist kein Wagen wie die Freundschaft, wo einer herausspringen kann und es bleibt immer noch der Wagen übrig; […] wenigstens eine Liebe, über der einmal das Wort der Ewigkeit genannt ist (Rosenzweig 2002: 803). Freundschaft ist laut Rosenzweig nicht ‚ewig‘, sondern eine Bindung, die gleichsam unter Vorbehalt geschlossen wird und jederzeit aufkündbar ist. Ganz in diesem Sinne beschreibt er Jahre früher die Entwicklung seiner Beziehung zu seinem Cousin Rudolf Ehrenberg: das letzte von Kameradschaft, was noch in unsrer Freundschaft war, das ist nun hingeschmolzen im Feuer der Schmerzen dieser Tage und es ist nur, wie schon lange zwischen mir und Eugen, die nackte Liebe geblieben, gar nichts mehr von Männerfreundschaft […], sondern nur noch Mensch und Mensch. So ist meine Liebe hier gewachsen (Rosenzweig 2002: 409). Freundschaft soll sich also zu Liebe entwickeln, um nicht mehr vorläufig zu sein, um die authentische Begegnung von Mensch zu Mensch zu erlauben. Dabei wendet sich Rosenzweig radikal von einer griechischen Tradition ab, die die Philia (also die Freundschaft) zu einer der höchsten Formen der Bindung machte, eine Tradition, die Montaigne in seinem Text zur Freundschaft weiterschreibt. Bei letzterem geht die Hymne an die Freundschaft mit einer Kritik der Liebe im Sinne des Eros einher: L’amour est plus actif, plus cuisant et plus âpre. Mais c’est un feu téméraire et volage, ondoyant et divers, feu de fièvre, sujet à accès et remises, et qui ne nous tient qu’à un coin. En l’amitié, c’est une chaleur générale et universelle, tempérée au demeurant et égale, une chaleur constante et rassise, toute douceur et polissure, qui n’a rien d’âpre et de poignant. Qui plus est, en l’amour ce n’est qu’un désir forcené après ce qui nous fuit (Montaigne 1965: 266). Für Montaigne ist nicht die Liebe, sondern die Freundschaft das beständige Gefühl, das den Höhen und Tiefen des Lebens standhält. Allerdings betont er, dass er dabei nicht die ‚Alltagsfreundschaften‘ meint, sondern einmalige Begegnungen, deren Modell er in der antiken Tradition findet. In seinem Verhältnis zu Étienne de la Boétie durfte er eine solche Begegnung erleben. Bei Rosenzweig findet man also die drei von der Tradition sorgfältig getrennten Begriffe wieder zusammengefügt: Eros, Agape und Philia vereinen sich im Begriff der Liebe. Durch das Subsumieren der drei Begriffe unter einen löst sich Rosenzweig sowohl von der antiken als auch von der christlichen Tradition, um eine Liebe zu affirmieren, deren Grundlage zutiefst im Glauben an Gott wurzelt und bei der die Schranken zwischen dem Leben und dem Glauben radikal in Frage gestellt werden. Dass er den Begriff der Freundschaft von sich weist, verbietet einem nicht im Geringsten, von Rosenzweigs Freundschaftsverständnis zu sprechen und es zu analysieren. Es zwingt einen aber dazu, diesen Begriff in den Kontext der Liebe einzubetten und diese Analyse ein Stück weit in einem theologischen Rahmen durchzuführen (Rühle 2004). Dabei sind zwei aufeinander bezogene Grundfragen zu beachten: Wie 138 Dossier wird erstens der Begriff der Liebe von Rosenzweig verstanden und eingesetzt, um seine Beziehung zu Eugen Rosenstock zu beschreiben? Unter welchem Modus vollzieht sich zweitens diese Freundschaft, oder konkreter gesprochen: Welches Bild dieser Freundschaft wird durch den Briefwechsel vermittelt? Freundschaft und Liebe im interreligiösen Kontext Die Freundschaft, die der Briefwechsel dokumentiert, basiert auf der Idee der Nächstenliebe. Die Liebe versteht Rosenzweig im Stern der Erlösung als Resultat der Offenbarung: Sie bricht die Einsamkeit des antiken Helden und bringt den Menschen in eine Verbindung zu Gott, diese Entdeckung der Gottesliebe in der Offenbarung schreibt sich, ganz im Sinne der christlichen Agape, in der Nächstenliebe fort (Rosenzweig 1988: 239). Diese fasst Rosenzweig ganz wortwörtlich auf. Der Nächste ist also räumlich zu verstehen, als das, was jedem am nächsten steht, es ist auch das Naheliegendste, wie folgendes Zitat deutlich macht: Die Liebe macht das Leben, indem sie ihm Seele giebt, zum ewigen Leben. Aber umgekehrt giebt auch erst das Leben (das von selber wächst) der Liebe die Gewähr, dass das ‚Nächste‘ was sie, fernblind wie sie ist, allein lieben kann und soll, wirklich das Richtige ist, das für diese Liebe reif ist. Der Baum des Lebens streckt der beseelenden Liebe immer seine reifsten Früchte entgegen. So kommt es dass sich die Liebe nicht vergreifen kann, obwohl sie nicht weiss was sie tut, sondern immer das Nächste tut (Rosenzweig 2002: 201). Die Liebe beseelt also das Leben, indem sie es von der Zeitlichkeit befreit und ihm Ewigkeit verleiht. Das Leben präsentiert der Liebe die Objekte, die sie lieben soll. Diese Liebe, die in der Offenbarung wurzelt, vergreift sich nicht, das Leben garantiert, dass sie immer nur das Nächste liebt. Im interreligiösen Dialog hat das wortwörtliche Verständnis der Liebe zum Nächsten eine wichtige Konsequenz: Diese Liebe will über das geliebte Objekt nichts wissen, sie sucht nicht aus, sie nimmt hin und will nichts verändern. In diesem Sinne ist folgende Kritik Rosenzweigs am Christentum zu verstehen: In der christlichen Liebe steckt immer ein Stück Herrschsucht mit drin, die Ecclesia ist ja immer militans, weil sie ja aufs Triumphieren ausgeht. […] Denn die Herrschsucht ist es, die weiss was die Liebe vergisst: dass der andre ein Alter, ein Junger, ein Mann, ein Weib, ein Berühmter, ein Armer und sonst was ist; die Liebe weiss nur, dass es der Nächste ist, und sucht sie zu diesem ‚der‘ die Gattung, das ‚ein‘, so könnte sie nur sagen: ein Mensch oder gar: ein Geschöpf (Rosenzweig 2002: 276). Dieses radikale Verständnis der Nächstenliebe wird in den ‚Gritli‘-Briefen zum Hauptargument Rosenzweigs gegen den Versuch seiner Freunde, ihn zur Konversion zu bewegen. Rosenstock hat eigentlich nie akzeptiert, dass sein Freund 1913 auf die Taufe verzichtet hat. Er vertritt die Position, dass eine Taufe Rosenzweig nichts von dem nehmen würde, was er am Judentum schätzt, da das Christentum die Fortsetzung des Judentums sei. Sie würde ihm aber erlauben, an der wahren, 139 Dossier zeitgemäßen Religion teilzuhaben. Rosenzweig ärgert sich über diese Tendenz bei seinen konvertierten Freunden: „Ich möchte endlich mal einen Konvertiten sehen, der nicht so tut, als ob er noch sozusagen jüdischer Ehrenbürger wäre“ (Rosenzweig 1979: 231). Darüber hinaus würde eine solche Entscheidung Rosenzweig erlauben, sich mit Aussicht auf eine Professur zu habilitieren, was den Juden in der Weimarer Republik weitestgehend verwehrt blieb. Rosenzweigs Standpunkt im Bemühen, die Bekehrungsabsichten seiner Freunde abzuwenden, geht sogar noch weiter. Seine These ist, dass die Christen die Juden (verstanden als Glaubensgemeinschaft) bekehren wollen dürfen - eine Absicht, die in der Karfreitagsfürbitte für die Juden lange Zeit ihren Ausdruck fand. Den geliebten Einzelnen darf man dagegen nicht verändern wollen, wie Rosenzweig in einem Brief aus dem Jahr 1919 erklärt: Aber der Jude, zu deutsch: ich, dieser einzelne Jude, den ihr liebt, den dürft ihr, wenn es euch nun einmal geschehen ist, dass ihr ihn in seinem Jüdischsein von Gott geschenkt bekommen habt und als Juden lieb-gewonnen, nicht bekehren wollen, dem müsst ihr von Herzen wünschen, dass er Jude bleibt und immer jüdischer wird, und müsst sogar verstehen, dass eure Hoffnung für die Juden davon abhängig ist, dass dieser euer jüdischer Nächster und nächster Jude unbekehrbar bleibt (Rosenzweig 2002: 372). Die theologische Begründung dafür liegt in der Unterscheidung zwischen dem, was man für heute, für die Gegenwart, für diese Welt wünschen darf und was man nur für die Zukunft, für die kommende Welt hoffen kann. Nur für die kommende Welt darf auf die Bekehrung der Juden gehofft werden, in dieser Welt hat man nur mit Einzelnen zu tun, die man nur so lieben darf, wie sie eben sind. Die genaue Argumentation Rosenstocks kann nicht rekonstruiert werden, da seine Briefe sowie diejenigen seiner Frau von Rosenzweigs Frau Edith nach seinem Tod verbrannt wurden. Man kann aber annehmen, dass die Transferleistung, die Rosenzweig ständig vollzieht, um seinen Freunden vor dem Hintergrund des Christentums das Judentum verständlich zu machen, zu Missverständnissen geführt hat. Dazu schreibt Rosenzweig an E. Rosenstock: es ist ein gewisses Übersetzen zwischen uns nötig. Dies Übersetzen hast du meistens mir zugeschoben, - mit Recht, denn ich kann es und du kannst es wahrscheinlich nicht. Du hast daraufhin fast unbefangen die Sprache deines Glaubens sprechen können, in der Gewissheit, dass ich sie mir schon übersetzen können würde. Und da liegt die einfache Lösung des Rätsels (Rosenzweig 2002: 116). Im interreligiösen Dialog ist also die Übersetzung eine tragende Modalität. Sie erlaubt Rosenzweig, einen theologischen Dialog zu führen mit den Begrifflichkeiten, die seinen Gesprächspartnern geläufig sind. Sie birgt aber eine Gefahr: Sie verwischt die Unterschiede zwischen den Religionen und erspart den Rosenstocks die Mühe, eine interkulturelle Kompetenz zu erwerben, die sie in die Lage versetzen würde, eine Einsicht in das Judentum zu erlangen. 140 Dossier Freundschaft und Liebe im Brief Die von Rosenzweig affirmierte begriffliche Kontinuität zwischen Liebe und Freundschaft findet ihren Niederschlag in der brieflichen Praxis und verleiht dem Briefwechsel seinen originellen Charakter. Rosenzweig macht folgenden Befund über seine Beziehung zum Ehepaar Rosenstock: Du schaffst an mir, setzest Eugens Schöpfung in mir fort, ja vollendest sie erst. Bedenk, dass ich ihm erst seit dem ‚Juni 17‘ schrankenlos glaube, ihn erst seitdem lückenlos liebe (Rosenzweig, 2002: 105). 3 Für ihn ist demnach Gritli ein Weg, um seinen Freund Eugen besser, vollständiger zu lieben als vorher. Man findet hier eine merkwürdige Form der transitiven Liebe vor. Durch seine Liebe zu Gritli betrügt Rosenzweig keineswegs seinen Freund, sondern findet einen tieferen Grund, ein tieferes Fundament für seine Freundschaft. Dieses Verhältnis wird von Rosenzweig aber auch reziprok gedacht, das heißt, diese Liebe ist nur durch Eugen Rosenstocks Absegnung möglich. „Eugen muss wissen, dass er Herr unsrer Liebe ist, dass sie ins Bodenlose fällt, wenn er sich abwendet“, schreibt Rosenzweig (Rosenzweig 2002: 106). Und so merkwürdig es auch erscheinen mag, hat dieses Verhältnis in dieser Form erstaunlich gut funktioniert. Im Briefwechsel verhält es sich nun folgendermaßen. Die große Mehrheit der Briefe sind an Gritli adressiert, einige an Eugen allein und manche (23 von 1067 Briefen), an Eugen und Gritli. Bei ihnen ist klar vorgesehen, dass sie von beiden gelesen werden. Interessanter ist aber, wie es sich mit den Briefen verhält, die meistens mit „liebes Gritli“ anfangen und die deutliche Mehrheit des Korpus ausmachen. Viele von ihnen, und gerade zu Zeitpunkten, wo es Spannungen zwischen beiden Männern gibt, scheinen Eugen als heimlichen Adressaten zu haben. Allem Anschein nach war Rosenzweigs Bestehen auf sein Judentum für Margrit Rosenstock viel weniger unerträglich als für ihren Mann, so dass sie in solchen Krisensituationen vermitteln konnte. Ein gutes Beispiel dafür sind zwei Briefe vom 19. August 1919 (Rosenzweig 2002: 391). Im Sommer 1919 nehmen Eugen und Margrit Rosenstock die Passagen aus dem Stern der Erlösung zur Kenntnis, die das Christentum betreffen, und diese Lektüre bringt die Debatte über Rosenzweigs Taufe wieder auf die Agenda. Am 19. August 1919 schreibt Rosenzweig einen Brief an Gritli und einen an ihren Mann. Der erste ist in der gedruckten Fassung anderthalb Seiten lang, und er beinhaltet wichtige Aussagen zu Rosenzweigs Verhältnis zum Christentum als Religion und auch zu Christus. Er beinhaltet Vorwürfe gegen Eugen Rosenstock, der ihn nicht als Person, sondern nur als Vertreter seiner Religion ansehe. In diesem Kontext betont er auch den Unterschied zwischen dem Einzelnen und der Institution. Der Brief endet mit einer Bitte zu vermitteln, einer Botschaft für den Freund. Danach schreibt er aber einen Brief an Eugen, der folgendermaßen anfängt: „Im Schreiben an Gritli merke ich, dass das an dich gehen muss“ (Rosenzweig 2002: 391). Rosenzweig verspürt also die Notwendigkeit eines direkten Sprechens, er wiederholt aber keineswegs im zweiten Brief den Inhalt des ersten. Dieser zweite Brief ist viel kürzer, 141 Dossier nur eine halbe Seite lang - er behandelt dasselbe Thema, ist aber so konzipiert, als hätte Rosenzweig sein Bedürfnis nach Argumentation mit dem ersten Brief gewissermaßen gestillt. Er pickt also Eugen Rosenstock gegenüber nur einen Punkt aus einem Brief von ihm heraus, um ihn zu kritisieren und seinen Freund dazu zu ermutigen, über den Glaubensunterschied hinaus zu gehen und seine Wut zu überwinden. Das zweite Schreiben ist aber nicht mehr als ein Addendum zum ersten. Dieses Verfahren der indirekten Kommunikation findet man in zahlreichen Briefen, wie zum Beispiel in einem vom 25. Dezember 1919, der so anfängt: „Nein, Gritli ich muss auch die Antwort an Eugen an dich anfangen, vielleicht komme ich dann in die an ihn hinein“ (Rosenzweig 2002: 506). So erscheint die Geliebte und Ehefrau als der Faden, der die Freundschaft zwischen beiden Männern aufrechterhält, als ein notwendiges Bindeglied zwischen beiden, dessen Notwendigkeit nicht zu bestreiten ist, aber das nicht immer zwecklos als Individuum ernstgenommen wird. Zwischen ihren Rollen als Vermittlerin einerseits und als Muse des Philosophen andererseits kommt in den Briefen Rosenzweigs von ihrer eigenen Persönlichkeit nur wenig zum Vorschein. Eine solche Kommunikationspraxis ist natürlich nicht ungefährlich, was Rosenzweig in manchen Briefen auch selbst thematisiert: „[…] ich hatte mich so sehr gewöhnt, durch Gritli hindurch zu dir zu sprechen, dass ich die simple Wirklichkeit des Ausser-einander [sic] im Raume vergass [sic] und kaum mehr daran verlangte, dir selber unmittelbar zu schreiben“ (Rosenzweig 2002: 113). Es werden also nicht nur Begriffe ineinander verschmolzen, sondern durch eine Praxis des indirekten Schreibens und der Briefzirkulation gerät auch der Unterschied zwischen den Personen gleichsam in Vergessenheit. Die Frage, an wen der jeweilige adressiert ist, ist jedoch für Rosenzweig umso zentraler, als er als Denker des Dialogs der Anrede eine besondere Bedeutung beimisst. Rosenzweig versteht den Brief und seine Anrede weniger als eine Apostrophe, wie man meinen könnte, denn als eine Antwort, wie er im Brief vom 26. August 1920 an Margrit Rosenstock schreibt: Wort muss Antwort sein, um Wort sein zu können. Ohne das Gefühl, dass du im gleichen Augenblick auch sitzest und mir schreibst, ohne dies Gefühl sind es nicht die rechten nahen Worte, die man findet (Rosenzweig 2002: 648). Hier wird die Antwort als Fundament des Gesprächs angesehen, bei dessen brieflicher Form es auch darum geht, eine fiktive Gleichzeitigkeit zu erzeugen, die die Kontinuität zwischen den Briefen garantiert. Über den Antwortcharakter des Briefes hinaus betont Rosenzweig die Bedeutung von Adresse und Unterschrift als Kernelemente des Briefs. Vor diesem Hintergrund ist die Unsicherheit bezüglich der Person, an die er sich wenden soll, umso erstaunlicher. Auffällig ist dabei, dass der fließende Übergang zwischen Eugen und Margrit Rosenstock, den Rosenzweig durch sein Liebesverständnis schafft, ständig eine Unsicherheit darüber erzeugt, an wen man sich wendet und wie die briefliche Kommunikation angemessen zu gestalten ist. Bis zu einem gewissen Punkt stellt dieser Briefwechsel eine gängige Meinung über die Form in Frage, nach der der Brief 142 Dossier seit Ende des 18. Jahrhunderts das private Medium schlechthin sei. Hier sieht man, dass Briefe zirkulieren, und dass sie, insofern sie den Austausch über theoretische Ansätze erlauben, durchaus für mehr als einen relevant sind. Dies wird von den Autoren selbst verspürt und lässt eine Form der Kommunikation entstehen, die eigentlich für einen privaten Kreis bestimmt ist und nur höchst selten für eine einzige Person. Abschließend soll betont werden, dass der Brief durch seine sehr plastische, für den Forscher schwer festlegbare Form, genau die Form der Freundschaft annehmen kann. Er nimmt ihre Grundlagen und Spannungen auf, so dass in ihm die ganze Komplexität zwischenmenschlicher Beziehungen ihren Ausdruck findet. Düsing, Edith, „Geist, Eros und Agape - eine historisch-systematische Problemskizze“, in: id. / Hans Dieter Klein (ed.), Geist, Eros und Agape. Untersuchungen zu Liebesdarstellungen in Philosophie, Religion und Kunst, Würzburg, Königshausen & Neumann, 2009, 7-40. Goldblum, Sonia, Dialogue amoureux et dialogue religieux. Rosenzweig au prisme de sa correspondance, Paris, Hermann, 2014. Montaigne, Michel de, „De l’amitié“, in: id., Essais I, Paris, Gallimard, 1965, 263-277. Mosès, Stéphane, „La correspondance entre Franz Rosenzweig et Eugen Rosenstock“, in: id., Franz Rosenzweig. Sous l’Étoile, Paris, Hermann, 2009, 207-230. Nygren, Anders, Eros und Agape. Gestaltwandlungen der christlichen Liebe, Berlin/ Gütersloh, Bertelsmann, 1954. Rosenzweig, Franz, Briefe und Tagebücher, Den Haag, Nijhoff, 1979. —, Der Stern der Erlösung, Frankfurt/ Main, Suhrkamp, 1988. —, Die „Gritli“-Briefe. Briefe an Margrit Rosenstock-Huessy, Tübingen, Bilam, 2002. Rühle, Inken, Gott spricht die Sprache des Menschen: Franz Rosenzweig als jüdischer Theologe - eine Einführung, Tübingen, Bilam, 2004. 1 Zu dem ganzen Themenkomplex, der im vorliegenden Aufsatz präsentiert wird, cf. Goldblum 2014. 2 In der antiken Tradition bezeichnet eros die erotische Dimension der Liebe, während agape im Neuen Testament nicht nur die Liebe Gottes bezeichnet, sondern auch die aus letzterer entstandenen Nächstenliebe (Düsing 2009: 7-40, Nygren 1954). 3 Juni 17 verweist auf den Zeitpunkt der Begegnung zwischen Rosenzweig und Margrit Rosenstock.