eJournals lendemains 42/166-167

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Narr Verlag Tübingen
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2017
42166-167

Freundinnenschaft gibt es nicht

2017
Cornelia Wild
ldm42166-1670125
125 Dossier Cornelia Wild Freundinnenschaft gibt es nicht Duras und die Liebe 1. Freundinnenschaft gibt es nicht Wie über Freundinnen sprechen, wenn es keinen Diskurs der Freundinnenschaft gibt (cf. Cixous 1979)? 1 Auch nicht für die Schriftstellerin Marguerite Duras, dem französischen enfant terrible des Nouveau Roman, die immerhin in dem Band L’amitié von Maurice Blanchot der Freundschaft zugeordnet wird. Allerdings konzentriert sich dessen Freundschaftsbegriff dann doch auf eine Männerfreundschaft, die Freundschaft zu Georges Bataille (cf. Blanchot 1971: 326-330). 2 Jacques Lacan geht in seiner Hommage an Duras so weit, ihren Roman Le ravissement de Lol V. Stein zu seiner Psychoanalyse zu erklären: „C’est précisément ce que je reconnais dans le ravissement de Lol V. Stein, où Marguerite Duras s’avère savoir sans moi ce que j’enseigne“ (Lacan 1985: 9). Lacan verdoppelt somit die Psychoanalyse, aber Duras kann Psychoanalytikerin nur als Verführerin sein, als „ravisseuse“ (ibid.: 7). Zur geistigen Freundin, die den maître inspiriert und führt, wird sie nicht. 3 Interessant sind aber die Beobachtungen, die Lacan über Duras als Psychoanalytikerin malgré elle macht und die unseren Blick auf die Freundin lenkten. Auch ohne Lacan gelesen zu haben, „unterrichtet“ Duras zum einen ein „ravissement“, verdichtet in dem Namen der Hauptfigur: „Lol V. Stein: Lol ailes de papier, V ciseaux, Stein, la pierre“- Schere, Stein, Papier im Deutschen (im Französischen jeu de la mourre, homophon zu „jeu de l’amour“) (ibid.). Zum anderen entfaltet sie aber auch die Figur des „je me deux“ - den Liebesdiskurs, „parler d’amour“, 4 eines sich entzweienden Subjekts, in dem die Freundin ins Spiel kommt. Diese taucht zum ersten Mal in der ersten, für die Protagonistin traumatischen Szene des Balls in T. Beach auf, mit der der Roman beginnt. Diese entscheidende Szene dient für mich als Ausgangspunkt für eine Reflexion über die Ökonomie der Freundschaft zwischen zwei Frauen in einem Roman, der vor allem in Hinblick auf seine Affektstrukturen gelesen worden ist (cf. von Koppenfels 2002: 118-145). Während die Liebe bei Duras ein viel besprochenes Thema ist, ist die Freundschaft zwischen Frauen, eine Mädchenfreundschaft oder eben Freundinnenschaft, kaum bemerkt worden. Von einer kleinen, eher unscheinbaren Szene aus lässt sich damit die Aufmerksamkeit für diesen vielfach kommentierten und für das Werk von Duras paradigmatischen Roman auf einen Nebenschauplatz verschieben und eine Theorie der Freundinnenschaft identifizieren. Es ist bisher nicht genügend thematisiert worden, dass sich an Lols Seite ihre Freundin befindet, vor allem aber nicht, welche Funktion diese für den Roman hat, „une amie qui lui fut proche avant le drame, et l’assistait à son heure même: Tatiana“ (Lacan 1985: 8). 126 Dossier 2. Freundinnen: Lol V. Stein und Tatiana Karl Der Roman ist im Wesentlichen auf zwei voyeuristische Szenen ausgerichtet, die jedes Mal ein Dreieck darstellen. Die erste Szene bildet das Dreieck Lol - Anne Marie Stretter - Michel Richardson: Lol beobachtet den Tanz ihres Verlobten Michel Richardson mit Anne Marie Stretter auf einem Tanzabend im Casino von T. Beach, was als Ursache ihres Wahns, ihrer Neurose, einer „souffrance sans sujet“, in der sich Lust (joie) und Leiden (douleur) mischen, inszeniert wird und worum die Erzählung wie um eine Art Urszene im Freudschen Sinn kreist (Duras 1964: 23). Duras hat Lol V. Stein zugeschnitten wie Flaubert die ‚Hysterikerin‘ Emma Bovary, für die ebenfalls ein Tanz, der Ball auf Schloss Vaubyessard, der Ausgangspunkt ihres verhängnisvollen Begehrens ist (Loignon 2005: 61-70). Die zweite zentrale Szene ist die Inszenierung einer Art désir triangulaire zwischen Lol, Jacques Hold und Tatiana Karl, und wiederum ist Lol V. Stein die Beobachterin der Liebesszene, wobei dieses Mal die beste Freundin nicht neben Lol steht, sondern zur Figur der Mittlerin wird. Mit diesem Liebesdreieck wiederholt und spiegelt Duras die Familienszene aus der ersten Textstelle, wenn Lol die Position der Voyeurin einnimmt, als sie das Liebespaar durch das erleuchtete Fenster eines Hotels beobachtet. Narrative Komplexität gewinnt die Szene dadurch, dass der Geliebte Jacques Hold gleichzeitig der Erzähler des Romans und derjenige ist, der sich in Lol verliebt - „Je connais Lol V. Stein de la seule façon que je puisse, d’amour“ -, so dass man sogar auf einer übergeordneten Ebene von einer dritten voyeuristischen Szene sprechen könnte: nämlich einer Szene zwischen Lol, Jacques Hold und dem Leser, der sich die ganze Zeit des Lesens über in der voyeuristischen Position gegenüber der Liebesgeschichte zwischen Jacques Hold und Lol V. Stein befindet (Duras 1964: 46). Der Roman inszeniert also auf mehreren Ebenen ein Begehren, das man mit René Girard désir selon l’autre nennen könnte (Girard 2010: 15-67). Allerdings wird die Möglichkeit des Gelingens eines solchen Begehrens von der ersten Szene, dem Tanzabend in T. Beach, in Frage gestellt, insofern das in den Figuren der Liebe zirkulierende Verlangen blockiert wird: ravissement ja, aber kein plaisir (cf. Kristeva 1987: 251, DeJean 1989: 50). 5 Man kommt über die Konstatierung des Scheiterns dieses Begehrens und die dazu formulierten Thesen nicht hinaus. Das eigentliche Drama von Lol V. Stein ist nicht das Leiden, sondern dessen Abwesenheit (Kristeva 1987: 246sqq.; cf. Koppenfels 2002: 129). Die offensichtliche Inszenierung dieser Problematik lenkt jedoch von einer ganz anderen Geschichte ab, einer Nebenszene, die in den anderen beiden Begehrensstrukturen eingeschrieben ist: Elles dansaient toutes les deux, le jeudi, dans le préau vide. Elles ne voulaient pas sortir en rangs avec les autres, elles préféraient rester au collège. Elles, on les laissait faire, dit Tatiana, elles étaient charmantes, elles savaient mieux que les autres demander cette faveur, on la leur accordait. On danse, Tatiana? Une radio dans un immeuble voisin jouait des danses démodées - une émission-souvenir - dont elles se contentaient. Les surveillantes envolées, seules dans le grand préau où ce jour-là, entre les danses, on entendait le bruit 127 Dossier des rues, allez Tatiana, allez viens, on danse Tatiana, viens. C’est ce que je sais (Duras 1964: 11). Die geschilderte Tanzszene zwischen den beiden jungen Frauen beruht wie der gesamte Roman auf erzählten Erinnerungsmomenten. Der Wechsel der Erzählstimme ist von Anfang an unmarkiert und changiert zwischen der erzählten Stimme Tatianas und der direkten Rede Lols, die ihre Freundin zum Tanz bittet. Der selbstvergessene Tanz zu der altmodischen Musik eröffnet den Roman, der daraufhin diese Szene vollständig zu vergessen scheint. Die gemeinsame Handlung der beiden Frauen inszeniert Duras noch einmal, „au moment précis où les dernières venues, deux femmes, franchissent la porte de la salle de bal du Casino municipal de T. Beach“ (Duras 1964: 14). Nach Georges Bataille ist der Akt der Überschreitung einer Schwelle eine „passage de l’état normal à celui de désir érotique“, was auch hier einen entscheidenden Übergang darstellt (Anderson 1995: 54). Denn mit diesem Überschreiten rückt in diesem Roman über das Begehren und den ravissement von Figuren und Lektüre, die schon viele Leser und Leserinnen verführt haben, die Figur der Freundin in den Blick: eine Nebenfigur, Tatiana Karl - „la plus attachante de toutes“, „la seule de ses amies qu’elle [Lol] n’avait jamais oubliée“ - und damit eine zweite Ökonomie der Freundschaft, die in der ersten Ordnung enthalten ist und sie zugleich durchkreuzt (Duras 1964: 69, 67). Ist die Freundschaft unter Männern ein Duell (cf. Benveniste 1969: 335-353), ist bei Duras die Freundschaft der Freundinnen ein gemeinsamer Akt der Überschreitung, ein Übergang: deux femmes qui franchissent la porte. Lacan war derjenige, sagt umgekehrt Duras über Lacan, dem es gelungen ist, Lol V. Stein aus ihrem Grab wieder herauszuholen (Duras/ Gauthier 1974/ 2013: 84). Lol V. Stein gibt sich nicht nur einen Namen, sondern zwei: „il n’y a plus eu de différence entre elle et Tatiana Karl sauf dans ses yeux exempts de remords et dans la désignation qu’elle se faisait d’elle-même - Tatiana ne se nomme pas, elle - et dans les deux noms qu’elle se donnait: Tatiana Karl et Lol V. Stein“ (Duras 1964: 189). Zwei Namen, deux noms für Lol V. Stein; sie ist also nicht nur die ravisseuse, sondern verdoppelt sich durch ihren zweiten Namen in ihrer besten Freundin, mit der sie - wenn auch nur beinahe, denn der Liebesakt zwischen Jacques Hold und Lol ist ein acte manqué - den Liebhaber teilt. In beiden Namen hören wir das Deutsche - ‚Stein‘, ‚Karl‘ (wobei ‚Karl‘ außerdem mit dem männlichen Vornamen die Überschreitung der Geschlechter ins Spiel bringt) -, lesen wir also auch ‚Lola Karl‘ oder ‚Karl Stein‘? Den Namen - Duras insistiert darauf auch über den Roman hinaus - gibt sich Lol V. Stein selbst: „Elle prononçait son nom avec colère: Lol V. Stein - c’était ainsi qu’elle se désignait“ (Duras 1964: 23). Mieke Bal hat in diesem Zusammenhang von einer icône topologique gesprochen: das V. stellt im bildlichen Sinn die Figur des Dreiecks dar (Bal 1977: Kap. „Durées“, 167). Die Freundschaft zwischen den beiden Frauen beglaubigt eine angebliche Fotografie, auf der sie als fünfzehnjährige Mädchen Hand in Hand in Schuluniform zu sehen seien. Sicher ist aber die Existenz der Fotografie nicht. Die traumatische Nacht haben sie jedoch miteinander geteilt, Tatiana hat durch zärtliche Gesten der 128 Dossier Freundschaft ihre Gemeinschaft kundgetan: „Tatiana, sa meilleure amie, toujours aussi, caressait sa main posée sur une petite table sous les fleurs. Oui, c’était Tatiana qui avait eu pour elle ce geste d’amitié tout au long de la nuit“ (Duras 1964: 20). Hinter den Pflanzen war sie zusammen mit Lol im Verborgenen, hinter der plante oder der plainte teilt Tatiana im Verborgenen Lols Perspektive. Als beste Freundin bleibt sie an ihrer Seite: „Lol était retournée derrière le bar et les plantes vertes, Tatiana, avec elle“ (Duras 1964: 19). Haben also die beiden Frauen gemeinsam die Schwelle zu dem Raum übertreten, in dem das Trauma stattgefunden hat, so verschwistern sie sich später im Schweigen: Elles ne sont pas surprises, se regardent sans fin, décident de l’impossibilité de raconter, de rendre compte de ces instants, de cette nuit dont elles connaissent, seules, la véritable épaisseur, dont elles ont vu tomber les heures, une à une jusqu’à la dernière qui trouva l’amour changé de mains, de nom, d’erreur (Duras 1964: 101). Der Erzähler, der versucht, den ravissement von Lol zu ordnen, ist aus einer solchen imaginären Aura der Komplizenschaft - der „aura imaginaire de complicité“ - ausgeschlossen wie der Beichtvater von den hysterischen Ekstasen der Mystikerin, die er verhört (Kristeva 1987: 263; cf. Wild 2012: 151-165): „cette nuit dont elles connaissent, seules, la véritable épaisseur“. 3. À deux: Apostrophe und Tanz Das von Duras benutzte Narrativ der traumatischen Szene geht auf die griechische Dichtung Sapphos als ihre älteste Folie zurück. Während die Männerfreundschaft das Gastmahl zur Grundfigur hat, verweist die Freundinnenschaft auf die Liebesdichtung, Sappho also versus Sokrates. In einem der berühmtesten Fragmente schildert Sappho die Freundin, die sich dem Liebhaber zugewandt hat. Die dargestellte Szene konstituiert sich über eine dritte Figur, die das Liebespaar beobachtet: Es scheint mir Göttern gleich jener / Mann zu sein, der dir gegenüber / sitzt und nahe dir, wenn du süß redest, / zuhört, und wenn du liebreizend zulächelst - das wahrlich / hat mein Herz in der Brust erschüttert: / Sobald ich auf dich blicke, kurz, / vermag ich keinen Laut mehr zu sprechen, / aber meine Zunge zerbricht, und fein / sofort ein Feuer läuft mir unter die Haut, / und mit den Augen nichts mehr sehe ich, und es dröhnen / mir die Ohren, / und in mir ergießt sich der Schweiß, und ein Zucken / ergreift mich ganz, und grüner als Gras / bin ich, und vom Todsein kaum entfernt / erscheine ich mir selbst. / Aber alles kann man durchhalten, weil ... (Sappho 2009: fr. 31) 6 Wie bei Duras entsteht bei Sappho ein ravissement durch die voyeuristische Situation, was sich durch hysterische Affektionen des Subjektes körperlich manifestiert: Verstummen, Hitzewallung, Schweißausbruch, krampfhaftes Zucken. Wiederholt ist dieser Moment wiedergelesen worden, zu erinnern ist an Jean Racine, der in Phèdre der Protagonistin Sapphos Worte im erhabenen Ton des Alexandriners in den Mund legt: „Je le vis, je rougis, je pâlis à sa vue; Un trouble s’éleva dans mon âme éperdue; 129 Dossier / Mes yeux ne voyaient plus, je ne pouvais parler; / je sentis tout mon corps et transir et brûler“ (Racine 2000: I, 3, cf. DeJean 1989). Le ravissement de Lol V. Stein zitiert Sappho (oder Phèdre), aber die Rede des Subjekts über sich selbst ist dem Text als ein Mangel eingeschrieben: Lol kann nicht sprechen oder singen. Der traumatische Moment des Verstummens angesichts der Liebe der anderen wiederholt sich in der Figur, ohne ein Gesang zu sein. Alles was erzählt wird, ist geradezu klinische Untersuchung (enquête) oder eine Psychoanalyse, durch die der Erzähler Jacques Hold wie der Psychoanalytiker (Jacques Lacan) eine verdrängte Geschichte aus Versatzstücken und Erinnerungsfetzen der unterschiedlichen Protagonisten rekonstruiert. Dabei füllen Ersatzszenen die affektive Leerstelle aus, wie die von Lol beobachtete Liebesszene, die die erste Tanzszene spiegelt und in der das zweite Dreieck Lol V. Stein - Tatiana Karl - Jacques Hold die Sappho-Szene zitiert. In dieser Szene ist Lol diejenige, die die andere Szene beobachtet, ihre beste Freundin ist Teil des Dreiecks dieser „jouissance supplémentaire“ (Lacan 1975: 68). Wie das Kind im Felde ist Lol versteckt und beobachtet die durch das Fenster gerahmte und zum Kino gewordene Liebesszene: den Ehebruch von Tatiana mit Jacques Hold, dem Erzähler des Romans. Mit der Szene zitiert Duras unverkennbar eine der berühmtesten und skandalösesten Stellen aus Marcel Prousts Recherche du temps perdu, jene obszöne Szene in Montjouvain im ersten Band Du côté de chez Swann, wo Proust seinen Protagonisten Marcel von seinem Versteck im Gebüsch aus durch das geöffnete Fenster die Lesbierinnen bei ihrem Liebesgeplänkel, auch eine Art Tanz, beobachten lässt. 7 Die Wiederaufnahme dieser Szene ist schon insofern naheliegend, als Duras mit Proust die Erinnerungspoetik teilt. Im Fensterrahmen taucht bei Duras die Freundin Lols auf, der Blick von Lol fällt vor allem auf deren schwarze Haare und nackten Körper: Tatiana Karl, à son tour, nue dans sa chevelure noire, traverse la scène de lumière, lentement. [...] La fenêtre est petite et Lol ne doit voir des amants que le buste coupé à la hauteur du ventre. Ainsi ne voit-elle pas la fin de la chevelure de Tatiana (Duras 1964: 64). Das in dem Fensterausschnitt, dem „cadre de la fenêtre“ sichtbare Paar funktioniert wie der Film im Kino (Duras 1964: 65). Es ist das „cinéma de Lol V. Stein“, das als scène de lumière nicht nur einfach wiederholt, sondern Umbesetzungen vornimmt: nue / noire zitiert die lange Nacht aus der Tanzszene, die jetzt in den vor dem erleuchteten Fenster wie auf einer Theaterbühne tänzelnden Körper Tatianas eingeschrieben wird (Duras 1964: 49). Der Blick bei Duras ist, wie Hélène Cixous im Interview mit Michel Foucault betont, ein „regard coupé“ (Foucault 1994: 1634). Wie der Blick sind die Körper der Liebenden auch hier abgeschnittene und zumindest durch den Ausschnitt auch um ihr Geschlecht beschnittene Körper („le buste coupé à la hauteur du ventre“). Nicht der Liebhaber ist Objekt dieses Blickes, sondern in Szene gerückt - buchstäblich beleuchtet - wird Tatianas Körper, der wie nebenbei auf die andere Beziehung, die Mädchenfreundschaft, zurückverweist: 130 Dossier Il [Jacques Hold] repasse encore dans la lumière, mais cette fois, habillé. Et peu après lui, Tatiana Karl encore nue: elle s’arrête, se cambre, la tête légèrement levée et, dans un mouvement pivotant de son torse, les bras en l’air, les mains prêtes à la recevoir, elle ramène sa chevelure devant elle, la torsade et la relève. Ses seins, par rapport à sa minceur, sont lourds, ils sont assez abîmés déjà, seuls à l’être dans tout le corps de Tatiana. Lol doit se souvenir comme leur attache était pure autrefois. Tatiana a le même âge que Lol V. Stein (Duras 1964: 64sq.). Die attache pure der Freundinnen verhindert nicht die Stereotypie der Szene der Liebe zum Freund der besten Freundin, der Tatianas Begehren abschirmt: Lol und Jacques Hold lieben sich vermittelt durch Tatianas Körper, der seinerseits zum Kinobild wird: „Ils disparaissent un instant assez long du cadre de la fenêtre. Tatiana revient encore seule, sa chevelure de nouveau retombée. Elle va alors vers la fenêtre, une cigarette à la bouche et s’y accoude“ (Duras 1964: 65). War Tatiana vor allem als die beste Freundin aufgetreten, wird sie hier zum Liebesobjekt, das einer durch die Straßen flanierenden Lol zufällig begegnet war. Ihrem Gesicht schreibt Duras das typische Liebesdreieck ein: à tout moment de sa marche l’objet d’une flatterie caressante, secrète, et sans fin, d’ellemême à elle-même, aussitôt vue la masse noire de cette chevelure vaporeuse et sèche sous laquelle le très petit visage triangulaire, blanc, est envahi par des yeux immenses, très clairs, d’une gravité désolée par le remords ineffable d’être porteuse de ce corps d’adultère, Lol s’avoue avoir reconnu Tatiana Karl (Duras 1964: 58). Der Auftritt wird gleichzeitig zur Inszenierung des Namens der Freundin: „Alors, seulement, croit-elle, depuis des semaines qu’il flottait, ça et là, loin, le nom est là: Tatiana Karl“ (Duras 1964: 58). Durch permanentes Vertauschen der Perspektivträger - mal ist es Lol, mal sieht der Erzähler mit den Augen seiner Figur - trägt der narrative Stil zur Verdoppelung der Szene bei. Man kann nicht entscheiden, ob die Perspektive des Akts einem weiblichen oder einem männlichen Blick geschuldet ist: „nous sommes deux […] à voir Tatiana nue sous ses cheveux noirs“ (Duras 1964: 116sq.). Diese Darstellung des Körpers der liebenden Freundin erinnert an die Beschreibung wiederum der besten Freundin, Hélène Lagonelle, in Duras’ Roman L’amant: Ce corps est sublime, libre sous la robe, à portée de la main. Les seins sont comme je n’en ai jamais vus [sic]. [...] Je voudrais manger les seins d’Hélène Lagonelle comme lui mange les seins de moi dans la chambre de la ville chinoise où je vais chaque soir approfondir la connaissance de Dieu. Etre dévorée de ces seins de fleurs de farine que sont les siens (Duras 1984: 89sqq.). Die Freundin als Pronomen Elle ist die Wiederholung bis zur Namenlosigkeit beider im anagrammatischen Vor und Zurück der gleichen Buchstaben. „Elle. Hélène L. Hélène Lagonelle“ (Duras 1984: 90). Der Körper der weiblichen Figur, der Freundin, wird dabei sowohl zum Körper Chinas als auch zum Körper der Schrift / Lagune / „ELLE“ (Lagon-Elle): „Hélène Lagonelle est de la Chine“ (Duras 1984: 92). So wie in 131 Dossier Hiroshima mon amour, dem Film von Alain Resnais, für den Duras das Drehbuch geschrieben hat, die Namen der Städte Nevers und Hiroshima, die mit dem Zweiten Weltkrieg und der Atombombe verbunden sind, mit den Namen der Liebenden zusammenfallen: „E LLE .- Hi-ro-shi-ma. C’est ton nom. L UI .- C’est mon nom. Oui. […] Ton nom à toi est Nevers. Ne-vers-en-Fran-ce“ (Duras 1997: 622). Während in L’amant die jouissance der Figur in die Sprachspiele übertragen ein Eigenleben führt, ist sie in Le ravissement de Lol V. Stein erstarrt und buchstäblich, dem Namen nach, versteinert. Gegenüber dieser Versteinerung der jouissance von Lol V. Stein, die die Kette unabschließbarer Ersatzhandlungen hervorruft und aufrechterhält, ist der Tanz der beiden Freundinnen, der sowohl chronologisch als auch narrativ vor dem traumatischen Ereignis des Tanzabends im Casino, also auch vor dem ersten Überschreiten der Schwelle und damit vor der Urszene liegt und die daher in gewisser Weise in ihrer Bedeutung dem Erzähler Jacques Hold entgeht, Beweglichkeit. Das „je me deux“ des ravissement ist darin ein verdoppelndes „toutes les deux“: Aber nicht nur darin, zwei, toutes, also auch - im Unterschied zur stets mit dem Mangel behafteten Lol -, „ganz“ zu sein, statt eins zu teilen (je me deux), unterscheidet sich die Szene. Sie zeichnet sich durch ihre Wiederholbarkeit aus, die gegenüber dem traumatischen Tanz eine ganz und gar unbesetzte, einfache Wiederholung ist: jeden Donnerstag. Auch die Tanzszene ist nicht wiederherstellbar. Sie gehört wie alles, mit dem der Roman operiert, zu den vergrabenen Momenten der Geschichte von Lol V. Stein. Selbst wenn dieser erste Tanz also dem Wahn vorausgegangen ist, ist er jetzt ein Akt der Nachträglichkeit in der Erzählung. Aus der Frage ist eine Anrede hervorgegangen. Während man zunächst noch ein zögerliches „On danse, Tatiana? “ hört, führt die Frage danach in eine Apostrophe: „on danse Tatiana, viens“. Durch die Stimme wird, wie Cixous allgemein für Duras formuliert hat, etwas wieder ins Spiel gebracht, was vorher ausgeschlossen war und den abgeschnittenen Blick kompensiert: „ça, ça rentre par la voix [...] c’est là que ça revient, c’est-à-dire que ce qui est dehors rentre“ (Foucault 1994: 1639). Das Augenmerk muss auf dieser Stimme liegen, die als ausgeschlossene wieder eintritt. Aber die Stimme des Wahns, der Psychose, der Verzückung, kommt hier als Stimme der Freundschaft zurück, die sich als solche durch die rhetorische Figur der Apostrophe konstituieren kann. Es ist diese Apostrophe, etymologisch das Sich-zur-Seite-Wenden, die „Abschweifung von der gerade(her)aus gerichteten Rede“, die der Wendung an die Freundin zugrunde liegt. Es ist also die Rede, die die Anrede, die Freundschaft möglich macht, gerade weil sie eine Abwendung (von sich selbst) darstellt (Johnson 1992: 148). Diese Abwendung vom Subjekt und damit auch von seiner Neurose impliziert eine Umkehrbewegung des Textes, der ansonsten auf die Exzesse seiner Hauptfigur ausgerichtet ist. Wie die Tanzszene ist also die Anrede eine Drehbewegung: Figurative und rhetorische Bewegung fallen zusammen durch eine gestische und sprachliche Umwendung zu einer Angesprochenen, die dadurch als Freundin ins Leben gerufen wird. Der Roman ist somit ein Roman dieser doppelten Geste, dieser Freundinnenschaft, die Teil des Wahns und der Gewalt der Liebe ist, aber anders 132 Dossier als der ravissement des Subjekts eine Ordnung der Zweiheit etabliert, die sich unmerklich der errichteten Ordnung entzieht. Der zerstörerischen Kraft der Liebe durch die Hinwendung zu sich selbst stellt Duras mithilfe von Tanz und Anrede eine andere Figur an die Seite, die durch Hinwendung zum Anderen gekennzeichnet ist und vielleicht - weil sie anders als die Psychose aus der Mode gekommen ist, démodée - der Forschung bisher entging. Die Freundinnenschaft ist damit eine andere Facette jenes von Blanchot als „uneingestehbare Gemeinschaft“ bezeichneten Beziehungsgefüges: eine instabile, immer wieder neu zu begründende Gemeinschaft, die sich durch Hinbzw. Umwendung konstituiert (Blanchot 2007: 93). Diese Gemeinschaft impliziert damit auch eine Wendung zu den erzählten Stimmen im Roman, aber auch den intertextuellen von Sappho, Racine oder Flaubert, die für einen kurzen Augenblick aus der Ordnungsmacht des Erzählmusters herausfallen, insofern sie einmal nicht Teil der Krankengeschichte sind und sich damit für einen Moment auch nicht dem herrschenden Regime der Blicke unterworfen finden, sondern zueinander und füreinander sprechen. 8 Auf die Bedeutung des Sagens für Duras, das ‚on dit‘, hatte Michel de Certeau abgestellt (De Certeau 1985: 257-265), und man könnte jetzt noch präziser sagen, dass es auch heißen muss: ‚elle dit‘. Denn es ist eben die Freundin, die diese Szene erzählt, mit der der Roman einsetzt: „Elles dansaient toutes les deux, le jeudi, dans le préau vide [...] dit Tatiana“ und die Stimme ihrer Freundin ins Spiel bringt (Duras 1964: 11, Herv. C. W., cf. ibid.: 85). Durch die traumatische Geschichte des anderen Tanzes werden dieser erste Tanz der beiden Mädchen und damit ihre Stimmen verdeckt, verschoben und entstellt, was aber nicht heißt, dass sie damit aufgehoben wären. Als Nebenszene, in der die Freundin die Funktion hat, Trägerin der Stimme Lols, Medium einer Erinnerung zu sein, zu der die Heldin selbst unfähig ist, liest man die Szene fast schon als Parodie, d. h. als para-ode, als einen Nebengesang, der als Prinzip der Umkehr im Text angelegt ist. Nicht die eine Lol sondern zwei, elles, Karl-Stein - in diesem Miteinander zweier Frauen, das vielleicht keine Liebe, aber vor allem keine Liebe zu einem Mann ist, sondern eine Beziehung von Freundinnen, ist der Tanz à part Teil einer verschütteten Geschichte der Freundinnenschaft und als Antidot gegen das Verstummen in der unglücklichen Liebe dem Roman eingeschrieben. Und vielleicht ist diese Szene der Anfang einer ganz anderen histoire von Lol V. Stein, nach der der Erzähler Jacques Hold genauso wie Jacques Lacan suchen, oder wir, wenn wir uns auf die Suche nach einer vergessenen oder verschütteten Geschichte der Freundinnenschaft machen. Durch die traumatischen Ereignisse und ihre Narrative kann sie immer nur unvollständig überschrieben werden. Anderson, Stéphanie, Le discours féminin de Marguerite Duras: un désir pervers et ses métamorphoses, Genève, Droz, 1995. Bal, Mieke, Narratologie, Les instances du récit: Essais sur la signification narrative dans quatre romans modernes, Paris, Klincksieck, 1977. 133 Dossier Balén, Julia, „Duras ‚Laughing Cure‘. For Lacan’s Hysterical Lack“, in: Mechthild Cranston (ed.), In Language and in Love, Marguerite Duras. The Unspeakable: Essays for Marguerite Duras, Potomac, Scripta humanistica, 1992, 100-118. Benveniste, Émile, Le vocabulaire des institutions indo-européennes, 1: Économie, parenté, société, sommaires, tableau et index établis par Jean Lallot, Paris, Minuit, 1969. 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Blanchots Faszination für das Wort „détruire“ wie Lacans Faszination für das Wort „ravissement“, jedoch nicht für das Moment der Rede - „dit-elle“. 3 Zum Verhältnis Lacan - Duras cf. Balén 1992. 4 Jacques Lacan, „Parler d’amour, en effet, on ne fait que ça dans le discours analytique“, in: Lacan 1975, 77. 5 Kritik am Modell von Girard und der Privilegierung des männlichen Blicks in diesem Modell. 6 Hervorhebungen des Originals nicht übernommen. 7 Proust 1988: 242 sqq., hier 243: „La fenêtre était entrouverte, la lampe était allumée, je voyais tous ses mouvements sans qu’elle me vît“. 8 Intertextualität (bei Duras) erweist sich damit nicht als „inxieties of influence“ (Harold Bloom), sondern allenfalls als „influence of inxieties“; cf. Bloom 1995.