eJournals lendemains 42/166-167

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Narr Verlag Tübingen
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2017
42166-167

Sich gegenseitig beim Namen rufen.

2017
Anne D. Peiter
ldm42166-1670117
117 Dossier Anne D. Peiter Sich gegenseitig beim Namen rufen. Frauenfreundschaften im Auschwitzer Nebenlager Rajsko Materielle Hintergründe Zum Lager-Komplex des Arbeits- und Vernichtungslagers Auschwitz gehörte das Lager Rajsko, das als Pflanzenzuchtstation konzipiert war. Aufgabe der dort zwangsweise beschäftigten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, Photographinnen und Gärtnerinnen - in ihrer Mehrheit Französinnen, die am 24. Januar 1943 mit dem einzigen, nicht-jüdischen Transport von Romainville aus nach Auschwitz deportiert worden waren (cf. Pollack 1990: 286sq.) - bestand in der Erforschung einer Art von Löwenzahn, dessen kautschukhaltiger Saft kriegswirtschaftlich als außerordentlich wichtig galt (Strebel/ Wagner 2003: 7). Der Plan, durch die Herstellung von Naturkautschuk unabhängig von Überseeimporten zu werden, erklärt, warum Heinrich Himmler Anfang Juli 1943 zum ‚Sonderbeauftragten für Pflanzenkautschuk‘ ernannt wurde. Verschiedene Forschungsinstitute, Industriebetriebe und Ministerien sahen sich in das Projekt eingebunden (ibid.: 56). Dieser komplexe ökonomische Hintergrund ist mit zu bedenken, wenn es im Folgenden um Dialogformen geht, die eine Gruppe von Französinnen zu entwickeln verstand, um dem „univers concentrationnaire“ (Rousset 2012) gemeinsam standzuhalten. Auf der einen Seite waren die Lebensmittelversorgung und die hygienischen Bedingungen in Rajsko besser als im so genannten ‚Stammlager‘. Auf der anderen Seite standen auch diese Gefangenen unter der permanenten Drohung der SS, im Fall von Krankheit oder Ungehorsam nach Birkenau zurückgeschickt zu werden. Freundschaften, die in Rajsko aufrechterhalten wurden, gehörten also ebenfalls zum Bannkreis der Vernichtung. Der Begriff von Freundschaft darf mithin nicht unbesehen ‚solennisiert‘ (Günther Anders) werden. Bei der Untersuchung der Sprache, mit der sich die Frauen an die Mitgefangene wandten, um Bande der Solidarität aufrecht zu erhalten, sind die jeweiligen materiellen Bedingungen als Voraussetzung der Möglichkeit von Freundschaft stets mit zu bedenken. 1 Gleichzeitig ist es mir jedoch ein Anliegen, die Selbstermächtigung auszuloten und zu würdigen, die den Rajskoer Frauen gelang, weil sie etwas, was man die ‚Zeichensetzung der Freundschaft‘ nennen könnte, zu der sie umgebenden Gewalt ins Verhältnis setzten. Freundschaften waren in den Vernichtungslagern das Unwahrscheinliche, das kaum Erwartbare. Apostrophen, die auf Anführungszeichen zurückgreifen mussten, um Widerstand gegen die allgegenwärtige Todesdrohung zu leisten, schufen ein Miteinander, das vom Machtapparat nicht vorgesehen war, quer zu seiner Intention lag, die Gefangenen zu atomisieren. Wie diese Zeichensetzung gelang, die dieser Atomisierung entgegenwirkte, soll im Zentrum der folgenden Überlegungen stehen. 2 118 Dossier Freundschaftspolitik als Personalpolitik Zu den zentralen Gestalten des widerständigen Dialogs von Rajsko gehörte die am 25. Juni 1942 - also sehr früh - deportierte Claudette Bloch-Kennedy, eine promovierte Chemikerin, die zuvor Mitarbeiterin im prestigereichen CNRS sowie an der Sorbonne tätig gewesen war. Ihr gelang es, auf den SS-Mann Joachim Caesar, der den Forschungslabors von Rajsko vorstand, zunehmend Einfluss auszuüben und so überhaupt erst die materiellen Voraussetzungen für Freundschaft zu schaffen: During the day we still worked at Rajsko, digging, carrying wooden trays of soil... until one day Caesar arrived with a microscope! He didn’t know what to do with it but had thought it would look good to have a scientific instrument. Such a familiar object filled me with contradictory feelings, but I had been in camp long enough not to be sentimental, and to think instead of what advantage could be gained from this new acquisition. To impress Caesar, I showed him a drop of dirty water under the microscope; placing his eye clumsily on the ocular he marveled at the sight of the corpuscles floating in the water. I explained then that we could find which kok-saghyz plants were the richest in latex by making sections of the stems, and then we could cultivate the seeds of these high-yielding plants and only those (Shelley 1991: 162). Auffallend ist, mit welchem Selbstbewusstsein Bloch-Kennedy aus der ihr zugewiesenen Rolle als Gefangene hinaustrat, um in ihre ursprüngliche Rolle als hochqualifizierte Wissenschaftlerin zurückzukehren. Nach Inbesitznahme des Mikroskops erlangte sie das Recht, sich aus der Effektenkammer ‚Kanada‘ weitere wissenschaftliche Hilfsmittel zu besorgen, was wiederum ihre Autorität stärkte. Die schrittweise ‚Professionalisierung‘ des Labors wurde sodann für die Legitimierung der Forderung genutzt, die personelle Ausstattung Rajskos müsse mit der technischen Schritt halten. In Wirklichkeit richtete sich Bloch-Kennedys Ehrgeiz jedoch keineswegs auf die Erhöhung der Kautschukerträge. Vielmehr versuchte sie, Joachim Caesar einen Personalbedarf glaubhaft zu machen, der in Wirklichkeit gar nicht bestand. Auf diese Weise vermochte Bloch-Kennedy, das Solidaritätsnetz nach Birkenau auszuweiten und weitere Frauen ins rettende Rajsko zu holen. Erfindung von Arbeit wurde zum Freundschaftsdienst und Freundschaftsdienst zur Voraussetzung des Überlebens. After this easy success my secret preoccupation became the finding of as many requirements as possible for gardeners or scientific specialists, for whom I invented special qualifications. It was not always easy and sometimes dangerous (ibid.: 163). Die Sabotage, die von den Frauen in einem zweiten Schritt in Gang gesetzt wurde, zeichnete sich hier bereits ab. Aus der Perspektive der Nationalsozialisten betrachtet, stellten funktionierende Freundschaften eine Gefahr dar. Wie dem System, das blinden Gehorsam auf die Befehle der SS-Männer verlangte, die Intimität dialogierender Namen entgegengesetzt wurde, zeigt Charlotte Delbos Buch Le convoi du 24 janvier, um das es jetzt gehen soll. 119 Dossier Vor- und Spitznamen Delbos Buch stellt auf den ersten Blick ein sachlich-nüchternes, who-is-who-artiges Personenlexikon dar, doch auf den zweiten Blick, untergründig gleichsam, entfaltet es ein emphatisches Freundschaftsalphabet, das von einem Netz von Spitznamen getragen wird. Delbo hat in Interviews die Lebensschilderungen ihrer einstigen Mitgefangenen zusammengetragen, und zwar, indem sie stets von Neuem sich selbst als deren Freundin mit ins Spiel bringt. Die Aufrechterhaltung des Dialogs mit anderen Überlebenden wird im Text anschaulich gemacht, indem Spitz- und Kosenamen unablässig in den Vordergrund rücken und so die vorangestellten ‚offiziellen‘ Namen unterlaufen. Zwei Schwestern sollen aus dem Ensemble von 230 Frauen herausgegriffen werden, die auch in Delbos Auschwitz-Trilogie Auschwitz et après mehrfach auftauchen. Die Kurzbiographie ist überschrieben mit den titelgebenden Namen „Lucienne THEVENIN , née Serre (‚Lulu‘) et sa sœur Jeanne SERRE (‚Carmen‘)“ (Delbo 2013: 277). Hier ergibt sich als erster Eindruck, dass die Schwestern durch ihre Nachnamen auseinander traten. Die eine definierte sich über den durch Heirat angenommenen - Thévenin -, die andere durch ihren Mädchennamen Serre. Doch zugleich schlossen sie sich auch zusammen, nämlich in einer familien- und namenübergreifenden Solidarität. Les deux sœurs sont arrêtées en même temps, le 19 juin 1942, avenue Trudaine, à Paris, chez des résistants […]. Elles passent trois jours aux Renseignements généraux et sont envoyées au dépôt. C’est là qu’un agent baptise Jeanne ‚Carmen‘ et c’est sous ce nom qu’elle a été populaire pendant toute la déportation. Plus que sous le nom de Renée Lymber, une identité d’emprunt sous laquelle elle a été inscrite dans tous les camps, car la police n’a jamais découvert son vrai nom. Pendant longtemps, personne n’a su que Lulu et Carmen étaient les deux sœurs (Delbo 2013: 17). Angenommene und wirkliche Identität stehen hier gegeneinander und erweisen sich doch als zusammengehörig. Ebenso stehen die Zuweisung eines neuen Vornamens (‚Carmen‘) und die freiwillige Wahl desselben gegeneinander, paradoxerweise aber begleitet von dem Umstand, dass auch sie, nämlich die Namen, zusammengehören: Jeanne wird unter dem Namen Carmen in Birkenau bekannt. Dieser Vorname war jedoch, bevor er zum Spitznamen (d. h. zur Adresse von Freundschaft) avancierte, ein mit Polizeigewalt assoziierter. Und doch bringt ‚Jeanne‘ alias ‚Renée‘ alias ‚Carmen‘ ein unerwartetes Maß an Kreativität auf, um das, was ihr durch die äußeren Umstände zugeschrieben worden war, zu etwas Eigenem zu machen: Sie wird ‚wirklich‘ Carmen (eine Carmen ganz ohne Anführungszeichen), über die Polizei hinaus oder genauer: in einer Art zustimmendem Widerspruch zur Namensgebung, die von der Polizei offiziell gemacht worden war. Ebenso ist auch ‚Lucienne‘ nicht einfach nur Lucienne, sondern zugleich (und vielleicht sogar mehr noch) ‚Lulu‘, d. h. die Verdopplung der Anfangssilbe ihres Vornamens. Dieser Umgang mit Namen, die Fähigkeit, jeden Namen, gleich welchen Ursprungs, nach Beseitigung der Anführungszeichen anzunehmen und sich selbst 120 Dossier gleichsam zu verdoppeln - verrät, wie beweglich beide Schwestern auf die Deportation reagierten: Beide befreiten sich durch die Aneignung der petits noms von der erzwungenen Passivität, waren also keineswegs nur Opfer der ihnen auferlegten, ‚großen‘ Geschichte. Die Gestaltung des eigenen Namens enthielt die Chance, sie selbst zu bleiben - und sich so mit anderen, zu Nummern gemachten Frauen dialogisch zu verbinden. Die Nummern wurden von den Gefangenen selbst nie verwendet, sondern stets nur die Namen, allen voran die petits noms. Die Anführungszeichen erwiesen sich als überlebenswichtig. Die Aneignung der von der Polizei aufoktroyierten Namen war jedoch nicht sofort gleichzusetzen mit einer Wegnahme der Anführungszeichen, die diese neuen Namen umgaben. Erst einmal mussten diejenigen, die sie trugen, ein Verhältnis zu ihnen gewinnen. Dieses war zugleich ein verändertes Verhältnis zu sich selbst. Erst dann wurden die Anführungszeichen zu einer Strategie der Subversion, die die Rückgewinnung des Rechts enthielt, über den eigenen Namen zu bestimmen. Wie wichtig diese Verwandlung von Namen mit Anführungszeichen in Namen ohne Anführungszeichen dann auch praktisch wurde, zeigt die so genannte ‚Evakuierung‘, der die Rajskoer Frauen unterworfen wurden. Der Wegfall der Anführungszeichen als Symbol freundschaftlicher Vertrautheit ermöglichte den Versuch, selbst in Situationen zusammenzuhalten, in denen dieser Zusammenhalt praktisch unmöglich war. Es ist kein Zufall, dass Charlotte Delbo in ihrer Kurzbiographie die Anführungszeichen dann tatsächlich fallen lässt: ‚Lulu‘ wird zu Lulu, ‚Carmen‘ zu Carmen. Der Schwierigkeit zusammenzuhalten begegneten die Gefangenen, als sie von Rajsko nach Ravensbrück gebracht werden sollten. Die Überfüllung des ihnen zugedachten Waggons war derart katastrophal, dass alle sofort die Todesgefahr begriffen, in der sie sich befanden. Aufgrund ihrer gegenseitigen Vertrautheit gelang es ihnen jedoch, die ungestaltbare Situation zu gestalten. Das Insistieren auf Freundschaft ging aus von Frauen, die Delbo ihrer Leserschaft unter ihren Spitznamen vorstellt: ‚Poupette‘, ‚Cécile‘, ‚Gilberte‘ und eben auch: ‚Carmen‘ und ‚Lulu‘. D’emblée, elles comprennent que, pour ne pas périr pendant le voyage, il faut imposer une règle impitoyable, se diviser exactement, - cinquante-cinq de chaque côté - s’allonger à tour de rôle. L’ordre est strict: cinq femmes se couchent à un bout du wagon pendant une heure; vingt sont assises, emboîtées les unes dans les autres, jambes écartées, comme des guillemets, pendant une heure; les autres restent debout, serrées. Elles changent leurs places à tour de rôle. Grâce à quoi elles sont toutes arrivées vivantes (ibid.: 26). Diese Deportation haben Carmen und Lulu und mit ihnen die anderen Trägerinnen weiterer Anführungszeichen im wahrsten Sinne des Wortes als Anführungszeichen erlitten: ineinander geschachtelt, Körper an Körper, zusammen mit weiteren Frauen, 800 an der Zahl. „Comme des guillemets“. Der Vergleich zwischen den zusammengedrängten Leibern auf der einen Seite und den Anführungszeichen auf der anderen zeigt die Wirklichkeit. Ein größerer Kontrast zum Versuch, die Wirklichkeit durch die Aneignung von Namen in Anführungszeichen ihrerseits in Anführungszeichen zu setzen, war kaum denkbar. 121 Dossier Es lässt sich die Kraft ermessen, die Carmen und Lulu zeigten, als sie, obwohl sie selbst als Anführungszeichen (und nur als diese) ‚reisten‘, sich selbst Regeln gaben - die freundschaftliche Zeichensetzung, von der ich eingangs sprach. Da, wo, wirklicher als wirklich, alle Regeln durchbrochen worden waren, gelang es ihnen, dennoch Regeln durchzusetzen, in die Regellosigkeit und Unmöglichkeit von Regeln hinein: die Anführungszeichen als einzig mögliche Rettung aus dieser Wirklichkeit. Aber der Rettungsversuch durch Anführungszeichen bedeutete natürlich keineswegs, dass die Wirklichkeit in den Waggons eine angebliche (und nicht etwa eine wirkliche) gewesen wäre. Im Gegenteil verbürgte gerade das Anführungszeichenhafte der Haltung, die die Deportierten umschichtig einnehmen mussten, die Tatsache, dass die Gefahr, erdrückt zu werden und selbst andere zu erdrücken, eigentlich, nämlich am eigenen Körper, als wirklich wirklich erlebt wurde. Dans les autres wagons il en allait autrement: les kapos, des prisonnières de droit commun, roulaient les détenus les plus mal en point dans une couverture, s’asseyaient sur elles, les étouffaient; il n’y avait plus qu’à secouer la couverture par-dessus les ridelles pour faire de la place (ibid.: 26sq.). Das also war die Regel: das Massensterben. Aber die Kraft des Namens, den eine Frau wie Jeanne sich zu eigen gemacht hatte - Carmen ohne Anführungszeichen -, bestand eben darin, dass er der Name war, der ihre Verbundenheit mit der Schwester und allen anderen Mitgefangenen enthielt, also zu ihrem eigentlichen Namen geworden war: über ihre Person hinausweisend. Carmen ohne Anführungszeichen heißt jedoch nicht, dass jetzt das ‚Eigentliche‘ - die Aneignung des neuen Namens - eine Art ‚Sieg‘ davongetragen hätte. Die Anführungszeichen hielten selbst nach ihrem Verschwinden den Namen weiterhin umklammert. Dennoch bestand in der Annahme des Namens durch ihre Trägerin so etwas wie eine - wenigstens rudimentäre - Lösung aus der Umklammerung. Diese Integration der anderen in die eigene Person, ihrer freundschaftlichen Anrede, die sich im Spitznamen aussprach, wurde zur Voraussetzung für das, was den Frauen in der Enge des Zuges gelang: diese Wirklichkeit als Wirklichkeit zu erkennen und gewissermaßen auch anzuerkennen, um sie, obwohl ungestaltbar, dann doch zu gestalten. Wer in Bezug auf den eigenen Namen eingeübt hatte, nur einen minimalen Spielraum für Entscheidungen zu haben, konnte, in Ruth Klügers Sinne, ‚frei‘ handeln. Vielleicht sollten wir Freiheit schlicht als das nicht Voraussagbare definieren. […] Und deshalb meine ich, es kann die äußerste Annäherung an die Freiheit nur in der ödesten Gefangenschaft und in der Todesnähe stattfinden, also dort, wo die Entscheidungsmöglichkeiten auf fast Null reduziert sind. […] In einem Rattenloch, wo die Menschenliebe das Unwahrscheinlichste ist, wo die Leute die Zähne blecken und wo alle Zeichen in Richtung Selbstbewahrung deuten, und wo dennoch ein Vakuum bleibt, kann die Freiheit als das Verblüffende eintreten. [...] Und so könnte man etwa sagen, dass gerade in diesem perversen Auschwitz das Gute schlechthin als Möglichkeit bestand, als ein Sprung über das Vorgegebene hinaus (Klüger 1992: 135sq.). 122 Dossier Auf die Frauen in dem oben geschilderten Zug bezogen, würde das bedeuten, dass sie in der totalen Enge - am räumlichen Nullpunkt - zu einer paradoxen Art von Freiheit fanden, und zwar dadurch, dass sie sich selbst, obwohl bereits an jeder Bewegung gehindert, noch mehr an Bewegung hinderten: zu Anführungszeichen in absoluter Bewegungslosigkeit werdend. Anführungszeichen machen Wörter zu fremden, anderen, verleihen Doppeldeutigkeit. So wie das Erstarren zu Anführungszeichen das Maximum an Bewegung enthielt, das im Kontext der Deportationszüge möglich war, so war auch die Bereitschaft, sich weitere Einschränkungen aufzuerlegen, Ausdruck einer ebenso winzigen wie großen Freiheit. Anführungszeichen bringen Bewegung in die Wörter, und um die Frage der Bewegung ging es in den Waggons. Der Spielraum, den die Frauen durch die Anführungszeichen für ihre Namen hervorgebracht hatten, konnte umgesetzt werden in den minimalen Spielraum, der ihnen blieb, um gemeinsam die Fahrt im Wortsinn zu über-stehen. Natürlich war die Bewegungslosigkeit zugleich auch (und vor allen Dingen) das Höchstmaß an Zwang, Unfreiheit und Gewalt, aber dass es doch so etwas wie eine auf Freundschaft gründende Zeichensetzung gegen die Gewalt gab, ist festzuhalten. Das Besondere an den Körpern als Anführungszeichen bestand darin, dass ein Anführungszeichen dasjenige anderer berührte, also etwas geschah, was in der Sprache nicht üblich ist: Anführungszeichen werden in der Regel nicht verdoppelt. Anführungszeichen umfangen das Wort allein. Aber hier musste eben auf eine vollkommen neue Gefahr reagiert werden - und die Körperstellung als Anführungszeichen ging mit ihrer Ballung einher. Nur muss sich die These von aus größter Unfreiheit geborener Freiheit - der Freiheit zur Freundschaft - bewusst bleiben, dass sie in gefährliche Nähe zum viel missbrauchten Zitat aus Hölderlins Patmos-Gesang gerät: „Wo aber die Gefahr ist, wächst das Rettende auch“? Das aber wäre nicht länger das ‚Vakuum‘ als Voraussetzung von Freundschaft, von dem Klüger spricht. Vielmehr würde die Glorifizierung von Gefahr zu einem Verharmlosungsbetrug. So bleibt nur einiges, weniges: Spitznamen, die es erlaubten, ein Stück von sich (und also auch von der Verbundenheit mit anderen) zu bewahren, also Freundschaften in Klügers ‚Vakuum‘ hineinzustellen. Die petits noms als Widerstand gegen die großen, eintätowierten Nummern. Adressen, die nur denkbar waren durch Anführungszeichen. Hören wir zum Abschluss erneut Delbo. Sie betont, die Frauen ihres Transports hätten sich in kleinen Gruppen organisiert, „étroitement liés“, was die Möglichkeit schuf, que nous nous aidions de toutes les manières, souvent bien humbles: se donner le bras pour marcher, se frotter mutuellement le dos pendant l’appel, et aussi que nous parlions. La parole était défense, réconfort, espoir. En parlant de ce que nous étions avant, de notre vie, nous continuions cet avant, nous gardions notre réalité. Chacune des revenantes sait que, sans les autres, elle ne serait pas revenue (Delbo 2013: 17). Hier kommt ein ganz neuer Gedanke zum Tragen: eine Form von Zärtlichkeit wird sichtbar, die sich in körperlichen Gesten ausdrückt. Berührungen setzen erneut den 123 Dossier Körper als Zeichen ein, die dann auch die Stärke aufnehmen, die in dem Frauennamen Carmen enthalten ist. Carmen steht für eine kämpferische, verführerische und zugleich tragische Gestalt, die in einer von Männern dominierten Welt nicht bereit ist, sich als Opfer zu sehen. Lauscht man den Konnotationen des Namens ‚Lulu‘ im Deutschen nach, gilt Ähnliches wie für Carmen. Indem sich die Frauen gegenseitig mit diesen Namen anriefen, beriefen sie sich zugleich auch auf die Semantisierung aus Kunst, Musik und Literatur. Dies schuf weiteren Raum in den Räumen, die von absoluter Enge und Gewalt gekennzeichnet waren. Aly, Götz / Heim, Susanne, Vordenker der Vernichtung. Auschwitz und die deutschen Pläne für eine neue europäische Ordnung, Frankfurt am Main, Fischer, 1993. Shelley, Lore (ed.), Criminal Experiments on Human Beings in Auschwitz and War Research Laboratories. Twenty Women Prisoner’s Accounts, San Francisco, Mellen Research University Press, 1991. Delbo, Charlotte, Auschwitz et après, 3 Bde, Paris, Minuit, 1970/ 71. —, Le convoi du 24 janvier, Paris, Minuit, 2013. 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Der Soziologe Michael Pollack hebt außerdem die Bedeutung von Symbolfiguren für die Konsolidierung des Zusammenhalts hervor: Einzelne Frauen fungierten gleichsam als Freundschaftspfeiler eines Baus, der leicht zum Einsturz hätte gebracht werden können (cf. Pollack 1990: 287). Hermann Langbein resümiert die Wirkung der gegenseitigen Hilfe: „Der Unterschied ist eindeutig: Von den im April 1942 deportierten Juden sind innerhalb der ersten vier Monate 93,6 Prozent gestorben, von den im Januar 1943 deportierten französischen ‚Arierinnen‘ waren nach mehr als sechs Monaten 24,8 Prozent am Leben“ (Langbein 1999: 90). 2 Die Materialien, die zum Solidaritäts- und Freundschaftskreis von Rajsko vorliegen, sind vielfältig. Lore Shelley, selbst Shoah-Überlebende, hat zu Beginn der 1990er Jahre mit ehemaligen Chemikerinnen, Biologinnen und Gärtnerinnen aus Rajsko Interviews führen können. Peter Weiss’ Die Ermittlung widmet dem Widerstand und Tod der in Rajsko beschäftigten Tschechin Lili Tofler einen ganzen ‚Gesang‘. Eva Tischauers, eine deutsche, nach Frankreich emigrierte Jüdin, beschreibt in ihrer Autobiographie, wie sie aufgrund ihrer Zweisprachigkeit als Bindeglied zwischen deutschen und französischen Frauen fungieren konnte. Die Einbeziehung von Monowitz als eines auf Synthese-Kautschuk spezialisierten Lagers - Primo Levi hat darüber berichtet -, ist verzichtet worden, weil dies den Rahmen meines Themas sprengt.