eJournals lendemains 42/166-167

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Narr Verlag Tübingen
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2017
42166-167

Apostrophe – Konflikt – Dialog: Poetiken der Freundschaft

2017
Judith Kasper
Katja Schubert
ldm42166-1670085
85 Dossier Judith Kasper / Katja Schubert (ed.) Apostrophe - Konflikt - Dialog: Poetiken der Freundschaft Un chassé-croisé franco-allemand Einleitung In den 1970er und 1980er Jahren standen der Aufbau und die Pflege der Deutsch- Französischen Freundschaft im Zentrum der politischen und kulturellen Anstrengungen der beiden Nachbarländer. Nach der Wiedervereinigung Deutschlands musste die fragile Freundschaft zwischen Frankreich und Deutschland angesichts einer neuen Kräfteverteilung in Europa neu justiert werden. Im europäischen Einigungsprozess schrieben sich die beiden Partner schließlich die Rolle des Motors zu - das schweißte sie zusammen. Seit einiger Zeit nimmt jedoch - man könnte meinen: parallel zur zunehmenden Unbeliebtheit der europäischen Konstruktion - das Interesse der beiden Nachbarländer aneinander ab. Die Rede von der deutschfranzösischen Freundschaft reduziert sich mehr und mehr auf leere Bekundungen und Beteuerungen, dass die errungene politische und institutionelle Zusammenarbeit weitergeführt wird. Die Vision scheint darin jedoch verloren gegangen zu sein. Dass die erste Reise eines jeden Bundespräsidenten nach Paris führt, gehört seit langem zum Protokoll und erregt kaum mehr Aufsehen. Die letzte symbolische deutsch-französische Geste, die im kollektiven Gedächtnis geblieben ist, ist das Bild von François Mitterrand und Helmut Kohl im Herbst 1984 auf dem Soldatenfriedhof in Verdun, sich die Hände reichend. Das ist lange her. Der Weg der Versöhnung war vor dem Hintergrund der drei kriegerischen und höchst gewaltsamen Konfrontationen, die sich die beiden Nachbarn im Zeitraum von nur 70 Jahren lieferten, schwierig und langwierig. Von dieser Wunde gingen nach 1945 alle Energien aus, sich wieder anzunähern. Inzwischen hat die Passion - Schmerz und Interesse gleichermaßen - aneinander nachgelassen, ähnlicher und fremder zugleich denn je - weder als Feind noch als Freund - stehen die beiden Länder einander gegenüber. Im Nachhinein will es fast scheinen, als sei die Verwundung das stärkste Bindeglied gewesen - in der europäischen Geschichte, die voller Gewalt und Zerstörung ist, ist dies ja nicht allzu selten der Fall. Der europäische Einigungsprozess hat das politische Paradigma der Freund- Feind-Oppositionen abgelöst, damit aber auch eine affektive Dimension verdrängt, die für zwischenmenschliche Beziehungen - und auch die zwischen Ländern und Institutionen beruht letztlich auf derjenigen zwischen einzelnen Menschen - so problematisch wie vital ist. Angesichts des Eindrucks, dass die Rede über die deutsch-französische Freundschaft fade geworden ist, ja dass die Frage dieser Freundschaft innerhalb des neuen 86 Dossier globalen Konfliktfeldes vielleicht nur noch einen Nebenschauplatz einnimmt, ist es erstaunlich, dass jüngst der französische Starregisseur François Ozon (geb. 1967 und damit der Generation angehörend, zu der die meisten BeiträgerInnen dieses Dossiers gehören) mit Frantz (2016) einen viel beachteten Film herausgebracht hat, der das Trauma des deutsch-französischen Zerwürfnisses, für das Verdun zumindest auf französischer Seite bis heute das Symbol ist, in Szene gesetzt hat. Der Film spielt in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, aber seine Botschaft betrifft den Zuschauer unmittelbar in dieser Gegenwart, da der Film die Geschichte als eine singuläre Liebes- und Freundschaftsgeschichte erzählt, die nur möglich ist, weil die deutsch-französische Geschichte, die eben diese Liebe und Freundschaft schlechterdings verunmöglichen würde, einmal anders erzählt wird. Der französische Soldat Adrien, der im Gefecht einen deutschen Soldaten getötet hat, nimmt sich dessen Papiere an und sucht kurz nach dem Krieg dessen Familie in Quedlinburg auf. Er gibt sich als Freund des toten Frantz aus und er gibt damit - nämlich mit der erfundenen Geschichte seiner Freundschaft - den Eltern und der Verlobten des Getöteten ein Stück von Frantz zurück. Dass Adrien eine ganz andere Geschichte anstelle der wahren Begebenheit erzählt, ist weder eine zu verurteilende Lüge noch als Verdrängung abzutun, sondern es ist vielmehr die nur in der Fiktion und mithin vornehmlich in Kunst und Dichtung mögliche inventio einer Brücke, dort wo sonst nur Schützengräben das Bewusstsein der Überlebenden durchfurchen und durchtrennen. Ein zweites Beispiel für eine besondere, ebenfalls in und mit der Zeit und den Sprachen arbeitende deutsch-französische Freundschaftskonstellation liegt dem Briefwechsel von Hélène Cixous und Cécile Wajsbrot zugrunde, der 2016 unter dem Titel Une autobiographie allemande veröffentlicht wurde (cf. das Hélène Cixous gewidmete Dossier im vorliegenden Heft, u.a. mit der deutschen Fassung der Einleitung zu diesem Band). Beide Autorinnen unternehmen darin den Versuch „eine Brücke zwischen einem inneren und einem äußeren Deutschland zu schlagen, zwischen den fließenden Klängen der Sprache und einer allzu soliden Orthographie, auch zwischen den Zeiten, den Ks, von Kleist zu Kafka, den Sprachen, die sich mischen, Deutsch, Französisch, Englisch, in denen Städtenamen wie Köln, Hamburg, Manchester oder New York widerhallen“ (cf. oben, S. 27). Dieses Buch und auch der Film Frantz sowie ein Teil der Beiträge im vorliegenden Band deuten darüber hinausgehend auch an, dass sich die Freundschaft in bestimmten Kontexten nicht auf eine exklusive Zweisamkeit, auf eine binäre kulturelle Konfiguration beschränken kann, wenn sie ihren ganzen Reichtum zur Entfaltung bringen will. Es spricht immer mindestens eine dritte Person, eine dritte Sprache mit, ganz so, als ob zwei nicht genug seien. Mit diesen wenigen Hinweisen sei der Kontext skizziert, in dem sich die nachstehenden Beiträge bewegen, die sich in Anlehnung an und in Differenz zu Jacques Derridas Politiques de l’amitié (1994) den Poetiken der Freundschaft / Poétiques de l’amitié widmen. Derrida legt die unausgesprochenen Ökonomien der abendländischen - durchgehend männlich ausgelegten - Freundschaft dar: ihre unabdingliche 87 Dossier Eingebundenheit in die Freund-Feind-Dialektik; das Brüderlichkeitsprinzip, dem die Freundschaft durchgehend aufsitzt; die Nachträglichkeit, die ihre eigentliche Zeit zu sein scheint: erst der Tote wird zum Freund, dessen Eingedenken ich als ihn überlebender Freund oder überlebende Freundin zu tragen habe. Im Unterschied zu den ausschließlich männlich erzählten politischen und philosophischen Freundschaften, die Derrida darlegt, nehmen die hier versammelten Beiträge diesseits des abstrakten Konzepts der Freundschaft singuläre Freundschaften in den Blick, in denen nicht zuletzt das Geschlechterverhältnis eine wichtige Rolle spielt - und dadurch dann auch die prekären und kreativen Übergänge zwischen Freundschaft und Liebe, Liebe und Eros in den Blick kommen. Darüber hinaus legen die Beiträge verstärkt den Akzent auf die ‚Freundinnenschaft‘, die als Begriff und Institution nicht existiert, von der es nichtsdestoweniger lesbare Zeugnisse und Erfahrungen gibt. Freundinnenschaften zeichnen sich erstmals deutlich in der deutschen Frühromantik ab, in der Frauen wie Rachel Levin Varnhagen, Pauline Wiesel und Bettina von Arnim im nicht kanonisierten und darum in mehrfacher Hinsicht volatilen Genre des Briefes ihrem Selbstbewusstsein als Freundinnen Ausdruck geben. Keiner der Beiträge behandelt in direkter Weise das Problemfeld der deutschfranzösischen Freundschaft. Die deutsch-französische Freundschaft ist aber Voraussetzung und Rahmen dafür gewesen, dass Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Deutschland und Frankreich, deutsche RomanistInnen und französische GermanistInnen, im November 2015 im Heinrich-Heine Haus in Paris zusammenkommen konnten, um über ‚Freundschaft‘ und ‚amitié‘ und deren unterschiedliche poetologische Ausprägungen anhand von singulären Freundschaftskonstellationen nachzudenken. Der Gastfreundschaft des Heinrich-Heine-Hauses, das seit Jahrzehnten unermüdlich für die deutsch-französische Freundschaft in einem internationalen Kontext arbeitet, sei an dieser Stelle ein besonderer Dank gewidmet. Entgegen aller Entleerung und verloren gegangener Leidenschaft der offiziellen Diskurse bleibt die Maison Heinrich Heine ein Ort, der jederzeit einen Begegnungsraum für das produktive Streitgespräch und für experimentelle Entwürfe eines deutsch-französischen Denkens und künstlerischen Ausdrucks anbietet. * Wenige Tage vor dieser Zusammenkunft wurden am Freitag, dem 13. November 2015 durch eine Serie von terroristischen Attentaten in Paris 130 Menschen getötet und 352 verletzt. Es war zunächst unklar, ob die Tagung zu den Poetiken der Freundschaft überhaupt würde stattfinden können; etwa die Hälfte der Teilnehmerinnen und Teilnehmer reiste aus dem Ausland an und hatte Angst, unter diesen Ausnahmebedingungen in die französische Hauptstadt zu kommen; die andere Hälfte war vor Ort, und jeder hatte im Bekannten- und Freundeskreis Nahestehende, die verletzt oder gar getötet worden waren. Alle hatten ihre Beiträge vor dieser Katastrophe verfasst und konnten sich nicht mehr sicher sein, ob ihre Ausführungen jetzt überhaupt noch Aussagekraft und Gültigkeit hätten. Auf der einen Seite schien 88 Dossier das Nachdenken über Poetiken der Freundschaft obsolet angesichts des Gefühls der Ohnmacht, schutzlos Hass und Gewalt ausgesetzt zu sein. Andererseits zeigten die Attentate, dass vor allem Orte der freundschaftlichen Begegnung - wie der Stade de France, wo ein Anschlag während des Freundschaftsspiels zwischen Deutschland und Frankreich gerade noch vereitelt werden konnte, aber insbesondere auch die Pariser Cafés um den Canal Saint Martin und die Bastille als Orte, die in unserer westlichen Kultur mit Freizeit, Hedonismus, Konsum, aber auch mit Begegnung und Freundschaft verbunden sind - unter Beschuss standen. Die Bedrohung dieser geselligen Orte war ohne Präzedenz. Ohnmacht, Sprach- und Fassungslosigkeit sowie überwältigende Angst beherrschten den Raum, in dem die Tagung zu den Poetiken der Freundschaft nichtsdestoweniger stattfand. Unter diesen erschwerten Umständen wurde allein die Tatsache, dass die Tagung stattfand, zu einem Akt der Freundschaft: zum Ausdruck eines freien intellektuellen Zusammenseins, des gemeinsamen Studiums, des Sich- Gegenseitig-Zuhörens und Ansprechens, den wir für ein friedliches Zusammensein in dieser Welt für unabdingbar halten. Die Philologien, seien sie germanistisch oder romanistisch oder anderen Nationalliteraturen verpflichtet, haben vor allem im 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts einen nicht zu vernachlässigenden Anteil an den nationalistischen Freund- Feind-Stellungen in der westlichen Welt gehabt. Sie haben aber auch das Potenzial, zumal wenn sie ihrer ‚Liebe zum Wort‘, der sie sich ja vom Namen her immer schon zuschreiben, eingedenk sind, eine Sprache der Freundschaft hervorzubringen, die abseits der wissenschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Frontstellungen und Grenzziehungen Zwischenräume und Durchgänge eröffnet - Zwischenräume und Durchgänge, die nirgends festgeschrieben sind, sondern im poetischen Transport selbst liegen und darin freigelegt werden können. * Viele Beiträge, die in diesen schweren Tagen artikuliert wurden, thematisieren Freundschaftskonstellation vor dem Hintergrund der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs und des deutsch-jüdischen Verhältnisses vor und nach der Shoah. In allen Beiträgen wird deutlich, dass erst und vor allem eine gewisse Unmöglichkeit des Zusammenseins - sei es aufgrund von Vertrauensverlust, sei es aufgrund von kulturellen und religiösen Unvereinbarkeiten, sei es aufgrund des Todes, der eine Freundschaft für immer unmöglich, aber in diesem Moment häufig erst spät, zu spät artikulierbar macht - Freundschaft als ein fragiles Sprechen ins Spiel bringt. Dieses fragile Sprechen muss immer erst performativ hervorgebracht werden. Sprechakte der Freundschaft, die mal tastend, mal bittend, mal fordernd, mal melancholisch, mal euphorisch artikuliert werden, sind dafür unabdinglich. Der prominenteste Sprechakt ist dabei zweifelsohne die Apostrophe: die Anrede, die nie einfach eine einfache Hin-, sondern immer auch schon eine Abwendung impliziert. In der Tat spricht die Anrede immer auch schon die Möglichkeit mit aus, dass sie ihre Adresse verfehlt 89 Dossier und ohne Antwort bleibt. Die meisten Freundschaftsgeschichten und -konstellationen, die in den nachstehenden Beiträgen evoziert und analysiert werden, sind darum nicht ohne die Verfehlungen und Missverständnisse zu denken, die ebenso konstitutiv zur Freundschaft gehören wie sie diese immer auch schon bedrohen. Wendet man sich von den Politiken den Poetiken der Freundschaft zu, treten vor allem drei wesentliche Züge der Freundschaft hervor: Chaque amitié est singulière. Jede Freundschaft ist einzigartig. Freundschaft verlangt die Dimension des Wartens und ist doch die Unterbrechung des Erwartbaren. C’est l’irruption de l’inattendu. L’amitié a force de (re)naissance au monde. Mit der Freundschaft kann in jedem Moment etwas Neues beginnen. Diesem Ereignis ist das Dossier gewidmet.