eJournals lendemains 42/166-167

lendemains
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2941-0843
Narr Verlag Tübingen
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2017
42166-167

Une autobiographie allemande

2017
Cécile Wajsbrot
ldm42166-1670026
26 Dossier Cécile Wajsbrot Une autobiographie allemande Einleitung Manche Bücher warten auf den Tischen der Buchhandlungen, in Bibliotheksregalen auf den Augenblick, wo sie uns winken. Ihr einsamer Strahl trifft einen umso heftiger, als er aus der Abfolge der Zeiten gelöst, zeitlos, einzigartig geworden ist. Ich habe Osnabrück ein paar Jahre nach seinem Erscheinen gelesen, ich habe es nach anderen Büchern von Hélène Cixous, obwohl es vorher geschrieben worden war, gelesen, außerhalb der Chronologie, außerhalb der Zeit. Aber ich kannte den Namen, denn er war den Seiten jener anderen Bücher eingeschrieben, und als ich die Stadt in der Reihe der Anschlussmöglichkeiten hörte, die aus dem Lautsprecher in Hannover tönten, einem Halt auf der Strecke des Zuges, der mich nach Berlin brachte, wo ich einen Teil meines Doppellebens lebte - und noch lebe -, da war ihr Name untrennbar mit einem anderen Namen verbunden, Hélène Cixous. Gelesen, ehe ich es hörte, gelesen, ehe ich es sah, vor einigen Jahren auf einem Bahnsteigschild des Osnabrücker Hauptbahnhofs, wo ich zu einer Lesung im Felix Nussbaum Museum ausgestiegen war. Und trotz dem Maler, der dorther stammte und neuerdings gefeiert wurde, trotz Erich Maria Remarque, der ebenfalls in Osnabrück zur Welt kam - sollten jene, die vor 1933 in dieser Stadt geboren wurden, dazu bestimmt sein, aus ihr fortzugehen, ins Ausland zu fliehen, Nussbaum starb 1944 in Auschwitz, Remarque, glücklicher, 1970 in Locarno -, trotz ihrer Gegenwärtigkeit, ihren Museen, in den Straßen der Stadt, begleitete mich ein anderer Name. Osnabrück - war es nicht zum ersten Mal in Benjamin nach Montaigne, vielleicht jener Satz „ich sehe es, sagte ich mir, die Vergangenheit Osnabrück hatte, anstatt weiter in Deutschland zu verrotten, einmal vom Geräusch ihrer Schritte geweckt, begonnen [...] ihnen zu folgen“ - ihnen, Eve, Hélènes Mutter, und Eri, ihrer Tante, die ebenfalls aus Osnabrück fortgegangen sind. Ja, dort musste es wohl gewesen sein, der erste oder einer der ersten Auftritte, vor dem Buch Osnabrück jedenfalls, das nicht so sehr von der Stadt spricht als von jener - Eve -, die sie verließ. „Das bestürzte Gesicht, das meiner Mutter entgleitet, wenn sie den Namen Osnabrück sagt, wie man am Ufer der See einen Knochen findet, den ein verschwundener Walfisch hinterlassen hat.“ Hélène und Osnabrück, das Thema hatte seine Variationen, Deutschland, Vergangenheit - eine gewisse Vergangenheit: dieser Satz, wiederum in Benjamin nach Montaigne: „der größte Irrtum besteht darin zu denken, dass die Geschichte, von der siebzig Jahre lang keiner spricht, etwas Abgeschlossenes und Zerfallenes ist“. Es gab auch die Wörter der deutschen Sprache, die in Kursivschrift die Seiten zierten, und dann Dinge des deutschen Lebens - etwa die Bedeutung des Spargels. Zuvor jedoch war Or erschienen, zwei Jahre vor Osnabrück, das Buch des Vaters, das Buch der Mutter, Algerien, Deutschland. Doch in der kollektiven Vorstellungswelt, in Frankreich, im Erzählten war der Mittelmeerraum mehr verwebt, ein häufiger besuchtes und weitläufigeres Terrain als der Rhein. Aber das erste Buch von Hélène 27 Dossier Cixous, das ich gelesen hatte, hieß Angst, ich konnte nichts dafür, und diese Linie hatte sich mir eingeprägt. So viele Echos, zweifellos, in mir, deren Familie von ferner kam, von der Geschichte aber über Deutschland geführt worden war, in der auch eine Zwillingssprache des Deutschen - das Jiddische -gesprochen wurde, in mir, die durch die Zufälle - oder nicht - des Lebens seit Jahren einen Teil der Zeit in Berlin lebte. Man versucht zu erklären, doch das Wesentliche flieht uns. Ich bin Hélène durch einen gemeinsamen Freund begegnet, Frédéric-Yves Jeannet, mit dem mich ein Gefühl von Exil verbindet, das aus seinen Büchern spricht. Und wenngleich mir der genaue Inhalt unseres ersten Gesprächs heute entgeht, weiß ich doch: Gegenwärtig war, wie in den folgenden Gesprächen, Deutschland, Berlin, woher ich kam, wohin ich bald wieder aufbrechen würde. So war es, wir sahen uns selten, aber regelmäßig, ich im Aufbruch nach Berlin, Hélène neugierig auf Nachricht aus Deutschland, und der Himmel von Paris verblich eine Zeitlang und zeichnete die Konturen einer anderen - lebendigeren - Stadt, eines anderen - offeneren - Landes. Als Hélène mir von verschiedenen Einladungen erzählte, Gespräche und Kolloquien zu Algerien, zum Mittelmeerraum, konnte ich nicht umhin zu denken: und Deutschland, warum nie Deutschland? Auf der anderen Seite meines Lebens kam mir, wenn ich die Gelegenheit hatte, von Literatur zu sprechen, wenn man mich in Deutschland fragte, welche zeitgenössischen französischen Autoren..., sogleich der Name Hélène Cixous, und man kannte sie, sicherlich, doch die übersetzten Bücher waren wenige an Zahl. Bei einem Gespräch mit einem Freund, Gernot Krämer, Redakteur der Zeitschrift Sinn und Form, strömten die unterirdischen Flüsse plötzlich heran und flossen in mir zu der Idee zusammen, warum nicht mit Hélène ein Gespräch über Deutschland führen, über die deutsche Sprache, ihren Stellenwert. Ich wusste nicht, ob sie Lust darauf haben würde, und als ich ihr bei meiner Rückkehr nach Paris die Frage stellte, bemerkte ich, dass ich sonderbar an der Idee hing - vielleicht weil ich im Widerhall auf die Frage in Si près „Cixous, was ist das für ein Land? “ geantwortet hätte, wäre es eine Stadt, dann wäre es jedenfalls Osnabrück. Hélène war einverstanden unter der Bedingung, dass die Fragen und Antworten sich ohne Ungeduld und Druck in Zwischenzeiten schieben ließen. Wir würden uns schreiben, als Flaschenpost, die eines Tages aufgelesen werden würde, ganz gleich jedoch, an welchem Strand, am Ufer welcher See sie stranden würde, sie würde ihre Bestimmung erreichen. „Ich habe so sehr in *Angst gelebt, dem Land, wo die seltsamen Irrlichter leben. Und tatsächlich - jene prähistorischen ‚Städte‘, die die Triebe und Leidenschaften sind, die liegen in meinem inneren Deutschland“, schreibt Hélène Cixous zu Beginn des Gesprächs. Und so wäre dieses vielleicht der Versuch, eine Brücke zwischen einem inneren und einem äußeren Deutschland zu schlagen, zwischen den fließenden Klängen der Sprache und einer allzu soliden Orthographie, auch zwischen den Zeiten, den Ks, von Kleist zu Kafka, den Sprachen, die sich mischen, Deutsch, Französisch, Englisch, in denen Städtenamen wie Köln, Hamburg, Manchester oder New York widerhallen. 28 Dossier Wir würden einander schreiben und die Briefe per Post schicken, weil wir Zeit hatten, nichts drängte die gestellte Frage, sich erneut zu stellen, sie konnte in der Schwebe bleiben und, einmal empfangen, konnte sie noch einmal warten, und genauso nahm die Antwort sich die Zeit, sich den Weg zur folgenden Frage zu bahnen. Einige Wegstrecken vom Norden in den Süden von Paris, vom Osten in den Westen Europas, von einem Frühling in einen Herbst, und zwar von Mai bis November 2012. So passte es im Grunde gut, dass das Gespräch in seiner ersten Gestalt in Deutschland, auf Deutsch erschien. Aber die Zeitschrift schlug ihr Maß vor, ein Dutzend Seiten - kann man am Ufer haltmachen, wenn man die Landschaft sich noch so weit erstrecken sieht? Als seine erste Fassung 2014 in der März/ April-Nummer von Sinn und Form erschien, hatten wir unser Gespräch bereits wieder aufgenommen - immer schriftlich, bisweilen mit langen Intervallen - und Dominique Bourgois, der ich eines Tages von diesem Abenteuer erzählt hatte, war sogleich bereit gewesen, es bei sich aufzunehmen. Die Folge fand zwischen April 2013 und Mai 2014 statt. Die erste Zeit, diejenige der Zeitschrift, hörte bei der Erwähnung der Mauer auf. Den Schnitt jedoch macht nicht diese Mauer. Der Schnitt ereignet sich zwischen dem Brief vom 16. Juni und dem vom 10. Juli. Es ist Eve - es ist ihr Tod. In dem letzten Brief vor dem Abgrund schrieb Hélène: „Aber der Schmerz, oh! ich mache mich auf ihn gefasst. Er brütet im Deutschen. Seit Jahren halte ich das Deutsche für meine Mutter oder umgekehrt. Vor drei oder fünf Jahren machte mich der Gedanke schaudern, dass mir drohte, die beiden zusammen zu verlieren. Ich habe mir eine Welt ohne Maman-Deutsch vorgestellt und heftig zurückgewiesen. Ich habe ein Heft geöffnet und begonnen, die zahlreichen vertrauten Worte zu notieren, die mir, ahnte ich, entrissen werden sollten, vielleicht wie man mit einem toten Krieger auch seine Pferde und Waffen verbrennt. Ich bin voll Schrecken. Ich ahne, fühle schon die dumpfe Grausamkeit einer abgeschnittenen Zunge.“ In Hypertraum fand sich ein paar Jahre zuvor dieser Satz: „Mit einem Schlag, aber ich habe es in dem Moment nicht gemerkt, bin ich unter die Herrschaft der letzten Zeiten geraten, ich meine der allerletzten Zeiten, jene, die kommen werden.“ In Corollaires d’un vœu trägt die Zeit einen anderen Namen. „Hier jetzt die Zeit der Literatur.“ Auch in dieser deutschen Autobiographie ist es, zu beiden Seiten des Schnitts, das Schreiben, das erlaubt fortzufahren, dem mäandernden Lauf zu folgen, Hindernisse zu überwinden - The End of the World in The Hand of the World umzuwandeln. Gestatten Sie jedoch eine letzte Szene. Seit Beginn des Gesprächs hatte ich den Gedanken, diesen Text - den, der in der deutschen Zeitschrift erschienen ist - mit Hélène in Osnabrück zu lesen... Ihn zum Anlass zu machen, damit Hélène nach Osnabrück kommt. Erlauben Sie mir, die Einzelheiten zu überspringen und nur zu sagen, dass Andrea Grewe sich sehr dafür eingesetzt hat, um endlich zu jenem Abend im April 2015 zu gelangen, wo wir da vor dem vollen Saal des Osnabrücker Theaters saßen und lasen, in Deutschland, auf Deutsch. Ich erlebte die Szene und zugleich schaute ich ihr zu. Ich hörte Hélène in Deutschland auf Deutsch von Deutschland 29 Dossier sprechen, ich hörte die Schauspielerin auf Deutsch einen Auszug aus Benjamin nach Montaigne lesen, das von Osnabrück sprach, das Osnabrück sagte. Ich schaute den Osnabrückern zu, wie sie diesen Seiten lauschten, die aus Frankreich kamen und ihrer Stadt die Dimension eines Mythos verliehen, und dann die letzte Seite des Buches Osnabrück, von Hélène auf Französisch gelesen, das so begann: „Ich führe so gern noch einmal nach Osnabrück, träumte meine Mutter.“ Ich schaute ihnen zu, wie sie den Besuch empfingen - was würden sie daraus machen? Zu Beginn des Gesprächs, an einem Oktobertag 2012, steht eine dreifache Frage. „Werde ich gehen, werde ich dort gewesen sein, werde ich jemals dort gewesen sein? “ Es ist Osnabrück, sicherlich. Aber es ist auch Deutschland, die Sprache, die Vergangenheit, das Gedächtnis und das damit einhergehende Vergessen, und all diese Verben, zugehören, bleiben, zurückkommen, aufbrechen, und diese Namen, Exil, Name, Archiv. Und Shakespeare und Montaigne, die nie fern sind. Das Buch spricht auch davon, glaube ich - doch haben wir wirklich davon gesprochen, weiß man, welche Schatten vor diesen Ufern umhergeschweift sind? Aus: Hélène Cixous / Cécile Wajsbrot, Une autobiographie allemande, trad. Esther von der Osten, Paris, Christian Bourgois, 2016.