eJournals lendemains 42/165

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Narr Verlag Tübingen
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2017
42165

‚Bildung‘ im Transit:Brückenzölle und Sonderabgaben beim Versuch, einen Begriff auf Reisen mitzunehmen – und Gedanken zu ihrer Entstehung

2017
Jürgen Helmchen
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77 Dossier Jürgen Helmchen ‚Bildung‘ im Transit: Brückenzölle und Sonderabgaben beim Versuch, einen Begriff auf Reisen mitzunehmen - und Gedanken zu ihrer Entstehung Brief an einen französischen Kollegen Cher François! Von unserem Kolloquium in Limoges nach Berlin zurückgekehrt, gilt es zunächst einmal, dir und allen, die an der Vorbereitung und der Durchführung dieser Veranstaltung mitgewirkt haben, Dank auszusprechen. Dieses Zusammentreffen kann meiner Überzeugung nach zu einem neuen Baustein einer wiederzubelebenden deutsch-französischen Verständigung werden - auch über unsere eigene Fachdisziplin, die Erziehungswissenschaft, hinaus. Zu Zeiten, da das deutsch-französische Verhältnis kaum noch unter politischer und auch nicht unter historisch-kultureller Perspektive wahrgenommen wird, ist es mehr denn je erforderlich, jene intensive gegenseitige Wahrnehmung wieder in Gang zu setzen, die zwischen beiden Ländern über die ganze historische Moderne bestanden hat, auch über eine lange Geschichte hinweg den Kern des europäischen Gedankens bildete, 1 und deren eine europapolitische Auswirkung dann schließlich im Abkommen von 1962 bestand. Für solche - wenn man das 19. und 20. Jahrhundert bedenkt, eigentlich viel zu späte - Verständigung gab und gibt es nicht nur Gründe, die zwischen Friedenspolitik und Ökonomie anzusiedeln sind. Vielmehr liegen diese auch darin, dass der Stellung der beiden Länder zueinander seit jeher in der Geschichte Europas eine herausragende Funktion zukommt. Politisch meist im Gegensatz zueinander, in der gesellschaftlichen Organisation vielfach konträr, in den ökonomischen und technischen Entwicklungen, den Entfaltungen der sozialen Stände und der Entwicklung der Klassen meistens in höchster Ungleichzeitigkeit - dem dynamischen Absolutismus steht der fortdauernde Feudalismus der Kleinstaaterei gegenüber, der Hoheit der Fürsten und ihrer die Provinz verbindenden Religion in den deutschen Ländern der historisch frühzeitige, institutionell noch dem Katholizismus verbundene, ihn gleichwohl politisch überholende etatistische Zentralismus in Frankreich -, in ihren gelungenen oder misslungenen Revolutionen kaum kompatibel, mit Institutionen, deren Genese und Funktionieren noch heute vielfach gegenseitige Verständnislosigkeit hervorruft - also überwiegend ein „Jardin des malentendus“ 2 -, sind doch beide Länder nicht nur kulturell und zivilisatorisch, sondern auch politisch auf höchstem Niveau aufeinander bezogen gewesen. Die ‚Erbfeindschaft‘, die noch für die Kriege im letzten Jahrhundert herhalten musste, war ein mörderisch dummes Wort; dieses Wort war aber auch - ganz gegen seine Intention - der zur Hassparole verbogene Hinweis, dass es da ein ‚Erbe‘ schon immer anzutreten gegeben habe. Europäische Intellektualität und Verständnis von Politik und Kultur waren, sofern sie als Streit ausgetragen wurden, zu einem ganz 78 Dossier großen Teil ein Streit in diesen beiden Sprachen und vor dem Hintergrund beider Gesellschaften: fremde, zuweilen einander auf vielerlei Weise feindlich gesinnte Geschwister der Aufklärung. Die fundamentale Unterschiedlichkeit der Blicke auf diese welthistorische Epoche gelangt schon in ihrer jeweiligen Bezeichnung zum Ausdruck: Feldarbeit die eine, die ‚Aufklärung‘ - Segnung die andre, nämlich ‚Lumières‘. Als sich die ‚Erbfeindschaft‘ endlich legte, sprachen etliche deshalb in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vom ‚couple franco-allemand‘, das von einem europäischen Risiko endlich zu einem europäischen Glücksfall geworden sei. Andere, die weniger lebens- und zyklusbetont und dafür eher machtpolitisch und technisch formulieren wollten, sahen später darin einen ‚Motor‘, der in Hinsicht auf die politische Herausbildung Europas mehr oder weniger rund gelaufen wäre (wenn sie darin nicht gar eine Bedrohung erblickten). Allerdings zeigt der semantische Wechsel vom ‚couple‘ zum ‚moteur ‘ auch an, dass es schließlich weniger besinnlich hergegangen ist und dass die Prioritäten sich von der freundlichen Verständigung zur Frage von Leistung und Effektivität verschoben haben. Auch mögen einige den sprachlichen Wechsel vom ‚couple‘ zum ‚moteur ‘ - zumal im Hinblick auf den gegenwärtigen Zustand Europas - schon als eine mentale Vorstufe zur Verschrottung verstanden haben, und der Wechsel des Sprachregisters sollte dann wohl strategisch andeuten, dass die technische Entsorgung eines Motors weniger Probleme hervorruft als die Auflösung eines ‚couple‘. Insofern ist womöglich der begriffliche Schwenk schon ein Vorzeichen derjenigen Funkstille gewesen, die die politischen, kulturellen, sprachlichen und überhaupt gesellschaftlichen Beziehungen der beiden Länder nunmehr prägt. Unabweisbar scheint mir der Befund, dass die direkte Kommunikation zwischen Deutschland und Frankreich im gesellschaftlichen Gesamtmaßstab schwieriger geworden, wenn sie nicht gar auf weiten Feldern zum Erliegen gekommen ist. Über die hegemonialen Ursachen dieser mittlerweile eingetretenen gegenseitigen Ignorierung in kultureller und in politischer Hinsicht mag man sicherlich noch lange nachdenken können. Eine neue Weltordnung und damit ihre Vorstellungswelten scheinen gerade diejenigen gesellschaftlichen und kulturellen Dimensionen, die das deutsch-französische Verhältnis mit Leben erfüllt hatten, mit einer neuen Sprache für die Dinge und die Verhältnisse der Welt massiv in den Hintergrund zu drängen, und es ist noch nicht abzusehen, was die Dominanz allein schon einer derart hegemonialen Sprache für die Fähigkeit bedeutet, die Spannung zwischen unseren beiden Ländern auch in Zukunft noch auszumessen - oder muss man bereits feststellen, dass jene hegemoniale Sprache dieses Potenzial schon eingeebnet hat? Dabei tritt diese neue Weltsprache nicht nur als fast verpflichtendes Medium internationaler Kommunikation auf, sondern sie profiliert diese anderen Sprachen (und das jeweils unterschiedlich) in wesentlichen gesellschaftlichen Segmenten, sie saugt diese anderen Sprachen geradezu auf, so dass sie, abgesehen vom Verschwinden aus dem Lehrplan der Schulen, 3 als faktische Sekundärsprachen keine originären Instrumente direkter Kommunikation mehr ausbilden, also sich nicht mehr 79 Dossier in direktem Kontakt aneinander entwickeln, sondern nur noch über ein Drittes, das die Regeln macht (Gehrmann 2015). Will man wirklich etwas über das Verhältnis unserer beiden Länder wissen und sich nicht der international üblich gewordenen, funktional reduzierten, einheitssprachlichen Oberflächenformatierung gesellschaftlicher Phänomene hingeben, wird es deshalb unabdingbar sein, sich der alten Kommunikationen und Kontroversen zu erinnern, und zwar in unseren Originalsprachen, und die daraus auf Gegenwart bezogenen Kommunikationsformen ebenfalls wieder in den Originalsprachen stattfinden zu lassen. Die Sprachen aus den Gesellschaften, mehr noch aus ihrer Kultur und Geschichte wegzukürzen, lässt diese Gesellschaften selbst verkümmern, schleift die Kontroversen ab und verhindert Erkenntnisse. Gewiss ist das Dictum, demzufolge ‚traduction‘ eine ‚trahison‘ sei, etwas, was im Französischen eine boutade genannt wird. Aber gute Übersetzer, anders als Maschinen, die nur Algorithmen kennen und keine Geschichte, wissen beim Übersetzen immer mehr vom Zusammenhang der Sache, als dann in der Übersetzung auf den ersten Blick zum Vorschein gelangt. Daraus folgt, dass nicht gleichgültig ist, nicht nur in welche Sprache etwas übersetzt wird; es ist auch nicht gleichgültig, welche Sprachform, welches Sprachmodell benutzt wird - oder welches Sprachraster vorgegeben wird. Um das zu illustrieren, mag man sich an die Exercices de style von Raymond Queneau erinnern. Bedenkt man das, dann wird die sprachliche Kompatibilisierung von Gesellschaften, die ihnen ihre Sprache raubt und heute alles auf eine einzige funktionale ‚Zielsprache‘ verpflichtet, geradezu ein absurdes Projekt - oder, auch das sollte man als Möglichkeit bedenken, ein weltweit durchgesetztes hidden curriculum. Solche ‚Globalisierung‘ treibt ganze Kulturen in eine nur schwer zu behebende Amnesie (cf. Zymek 2002: 46). Diese Problematiken, die auch den Hintergrund unseres Kolloquiums abgaben, können hier nur als grobe Skizze benannt werden. Es wären dafür noch etliche andere Aspekte anzubringen. Allen auf dieser Tagung waren diese gegenwärtigen Voraussetzungen wissenschaftlicher, kultureller Kommunikation präsent. Es wurde aber auch deutlich, wie mühsam es immer noch - oder schon wieder - ist, vom Wissen über diese Zerstörung des kulturellen Gedächtnisses zu den Fragen zu gelangen, die den Dialog wieder öffnen könnten. Es ist hier nicht der Ort, auch nur eine Skizze eines neu zu durchdenkenden Komplexes von historischer Soziologie, Gesellschaftstheorie, Staatsvorstellungen, Institutionentheorie, Individualitäts- und Kollektivkonzepten und politischer Philosophie unserer beiden Gesellschaften zu versuchen. Das überstiege bei weitem die Möglichkeiten eines solchen, unser Zusammentreffen noch einmal in einigen Aspekten durchdenkenden Briefs und müsste ohnehin einem ‚deutsch-französischen Projekt zur intellektuellen Entwicklung beider Länder‘ (so will ich das einmal vorläufig nennen) vorbehalten bleiben. Mit einer solchen, ein wenig altmodisch scheinenden Formulierung gehe ich absichtlich etwas weiter in das 20. Jahrhundert zurück, denn ich bin tatsächlich der Meinung, dass diese deutsch-französische ‚geistige Zusammenarbeit‘ von ziemlich weit ‚unten‘ neu aufzubauen ist. 4 80 Dossier Wenn wir uns in diesem Kolloquium ohne Mühe darauf verständigt haben, dass eine grundsätzliche gemeinsame Verankerung unserer beiden modernen Länder in Renaissance, Humanismus, Aufklärung, Republik und Demokratie sowie Rechtsstaat besteht, so stellt sich doch immer wieder heraus, dass es große Unterschiede zwischen unseren beiden Ländern gibt, wenn es gilt (und auch in der Geschichte galt), diesen Grundsätzen ihre institutionelle Form zu geben und diese Formen im Dialog zu begründen. Institutionen einer Gesellschaft - wenigstens auf einer bestimmten Ebene ihrer Betrachtung - ziehen noch einmal andere historische Entwicklungen und Prägungen auf sich als die eine Gesellschaft konstituierenden Grundsätze. Und diesen besonderen institutionellen Zuschnitt geben sie auch weiter an die Individuen, die sich in ihnen befinden oder durch sie hindurchgehen. So kommt es, dass die über Ländergrenzen hinweg relativ mühelos vollzogene Verständigung über gemeinsame Grundsätze und Ziele in ihren sozialen Ausprägungen oder auch in den sie repräsentierenden Individuen wieder sehr unterschiedlich oder sogar konträr ausfallen können. Die Gemeinsamkeit in den Prinzipien, sagen wir: die Berufung auf eine aufklärerische Vernunft, das Rechtsstaatsprinzip, die Öffentlichkeit gesellschaftlichen Handelns etc. müssen deshalb jenseits von Ländergrenzen, über die hinweg nicht dieselben Institutionalisierungsformen gelten, auch nicht unmittelbar erkennbar sein. Sie bedarf der Erkenntnis und der Interpretation. 5 Mit der freilich immer noch viel zu summarischen Diskussion, die einen Moment der Tagung prägte und sich um die Frage drehte, ob die Begriffe ‚deutsche Romantik‘ und ‚Romantisme allemand‘ wohl dasselbe bezeichneten, wenn wir über Dimensionen eines Vergleichs oder einer Kontrastierung von Erziehungskonzepten oder deren Institutionalisierungen sprechen, war eine wichtige Dimension angesprochen, die die noch immer - und immer wieder neu - zu verhandelnde Kontroverse über das Pädagogische in der Gesellschaft auf die Tagesordnung brachte. Dabei konnten Diskussionen um die historisch-institutionensoziologischen und staatstheoretischen Aspekte relativ schnell (vorläufig jedenfalls) erledigt werden: die höheren Erziehungsinstitutionen in Frankreich - und im Hinblick auf die hier verhandelten Fragestellungen kommt es erst einmal nur auf diese an - hatten es (trotz des historischen Dauerkonflikts zwischen Laizität und Kirche) wegen des vom Absolutismus vorbereiteten und weiter bestehenden hohen Institutionalisierungsgrads wesentlich leichter, historische Zäsuren zu überstehen. Sie waren des Zentralismus wegen als gesellschaftliche, Identifikation erzeugende Institutionen und wegen ihrer dann schließlich doch sich auch an die Institutionenform der Kirche anlehnende Einrichtungen einfacher zu entwickeln als das im - noch in Kleinfeudalität verharrenden - Deutschland der Fall war. Die trotz Laizismus katechetische Form des programme führte zu einer Kanonisierung des Wissens (und in der Folge davon zu einem fast staatspolitisch mystifizierten Begriff des ‚savoir ‘), um das sich deutsche Bildungsphilosophie und Pädagogen erst noch vermittels der Auslegung eines unspezifischen Bildungsbegriffs bemühen mussten. Herbarts Vermittlungsformen des Unterrichts (cf. Benner 1986) und Willmanns Didaktik als Bildungslehre (1900) sind von deutscher Seite die ‚Vorübungen‘ für das, was in Frankreich in den gemauerten 81 Dossier Institutionen der lycées bereits lange schon als selbstverständlicher und auf einem unbezweifelten Wissen (und Wissensbegriff) beruhender Kanon Bestand hatte. Herbart und Willmann, sehr viel früher auch schon Ratke und Comenius - als Didaktiker, die Didaktik als pädagogische Kernwissenschaft postulierten und konstituierten - sind aber eben auch jene, die insoweit den Verfahrensunterschied zum französischen Unterrichtsmodell markieren. In Deutschland muss philosophisch etwas eingeholt werden, was in Frankreich institutionell schon im napoleonischen System der université besteht. Jullien de Paris, vorhin schon einmal erwähnt, wird im Zuge dieser Differenz, wenn er über die Pädagogik Pestalozzis schreibt, nur die „Methode“ zur Kenntnis nehmen (Jullien de Paris 1812). 6 Wenn diese Unterschiede in unserem Kolloquium noch einhellig zu diskutieren waren und wir uns wenigstens über die dabei zu berücksichtigenden Daten, Prozesse, Entwicklungen und Begriffe einigen konnten, blieb aber doch - wie fast immer - ein Einverständnis über den Begriff der Bildung aus. Immerhin war noch Einvernehmen darüber herzustellen, dass dieser Begriff, der dem ‚Deutschen‘ so zugehörig scheint wie die Loreley, nicht deckungsgleich ist (worauf einmal ein Versuch Wolfgang Hörners hinauslaufen sollte; Hörner 2008) mit dem Begriff der ‚culture‘. Dieser mag einen Habitus bezeichnen, schon weniger den Prozess, aber ganz bestimmt nicht alle jene Dimensionen, die zwischen spezifisch historischer Subjektkonstitution und Gesellschaftsbildung liegen, oder anders gesagt, die in jeder Phase prekäre Wechselwirkung von Gesellschaft und Individuum. Angesichts der Schwierigkeiten, den der Begriff der Bildung vor allem in einem französischen Diskussionskontext regelmäßig hervorruft, könnte man darüber spekulieren, ob es so etwas wie ein historisch lange anhaltendes und auch immer noch in gegenwärtige Wahrnehmungsweisen hineinwirkendes kollektives Gedächtnis gibt, eine durkheimsche conscience collective, die aber nicht nur soziologisch als Strukturelement des Gegenwärtigen aufzufassen ist, sondern als Färbung eines generationenübergreifenden Verlaufs von Erfahrung und Institutionalisierung. Auf eine sprachlich den Zeitumständen unterliegende Weise hat diese Vermutung auf dem Gebiet der frühen deutschen vergleichenden Erziehungswissenschaft in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts der das französische Bildungssystem interessiert beobachtende Friedrich Schneider zum Ausdruck gebracht. Aus seiner vergleichenden Sicht heraus sprach er von „Triebkräften der Pädagogik der Völker“ (Schneider 1947). So abwegig eine solche in der ‚Völkerpsychologie‘ Wilhelm Wundts (Wundt 1900-1909) verharrende Formulierung uns heute auch scheinen mag (aber sie ist noch bis in die 50er Jahre in Gebrauch gewesen, darüber Röhrs 1975: 89) - sie ist ein (freilich untauglicher) Annäherungsversuch an historisch lange Strukturelemente, die die Herausbildung von Institutionen und Gesellschaft prägen. Es gelingt insbesondere dem erziehungshistorischen und erziehungssystematischen Diskurs in beiden Ländern nicht wirklich nachhaltig, in den wenigen stattfindenden Diskursen wirksame und auch auf nicht nur spezialisierte vergleichend-erziehungswissenschaftliche Disziplinen ausstrahlende Verständnisebenen zu etablieren. 82 Dossier Von der bereits erwähnten Diskussionsetappe über die Frage, ob ‚Deutsche Romantik‘ und ‚Romantisme allemand‘ dasselbe bezeichneten, aus gelangten wir zu der Feststellung, dass der bürgerliche Erziehungsstaat, der sich aus der Aufklärung ergab, unter französischen und unter deutschen Verhältnissen jeweils anders aussehen musste. Die historischen Bedingungen ließen Anschlüsse an jeweils völlig andere Ressourcen der Vergangenheit zu. In Frankreich hat die Revolution von 1789 den Staat nicht zerstört. In ihrem Kern bestanden seine Institutionen überwiegend weiter und behielten ihre Autorität. Durch sie mussten die Individuen hindurch, um ihren menschenrechtlichen Status als citoyen zu realisieren. Die Wege dafür waren vorgezeichnet, wenn auch gemäß der Revolution nun unter dem Gebot der égalité. In Deutschland hingegen war diese konstitutionelle égalité nicht durchgesetzt worden; es waren auch überhaupt die Bedingungen dafür nicht vorhanden. Die Gleichheitsvorstellung ging deshalb nicht vom Staat aus, wie auch überhaupt die Individualitätsvorstellung nicht zusammen mit dem Staat gedacht wurde, sondern als Aufwachsen ‚hin zum Staat‘ oder vielmehr zur Gesellschaft. Zusammengehörig waren Individuum und Staat in Frankreich, nicht jedoch in Deutschland - denn um welchen Staat hätte es sich auch handeln sollen? Der Bürger der Revolution war dem Staat in Frankreich positiv, auch rechtlich positiv verbunden; das deutsche Subjekt suchte nach dem Seinen. Die ‚Suche‘ hatte aber zur Voraussetzung, dass es sich als ‚staats-loses‘ Subjekt zunächst begreifen musste, wofür der Protestantismus die Voraussetzung schuf, in dem der Staat nicht zur unmittelbaren Identität des Individuums zählte, sondern das protestantische Subjekt gegebenenfalls auf die Obrigkeit bloß verpflichtet wurde. In der deutschen Logik der Subjektkonstitution musste also von ‚unten heraufgearbeitet‘ werden, weshalb auf die Notwendigkeit, dass der Einzelne aus sich heraus den Willen ausbildete, sich der Obrigkeit zu fügen und die entsprechenden Handlungen zu internalisieren (das ist die historische Leistung des deutschen Pietismus), Bildungsprozesse an diesem Einzelnen vorgenommen werden mussten, die in Frankreich bereits in den Institutionen verpflichtende Formen angenommen hatten. Der Wille zur Gesellschaft, nicht aber jene in Frankreich seit Condorcet und Napoleon institutionalisierte, verpflichtende und kodifizierte Aufnahme in sie, war die Bildungsform in den deutschen Institutionen. Deshalb gibt es in Deutschland eine Reifeprüfung am Ende des gymnasialen Bildungsgangs, eine ‚Matura‘, während in Frankreich ein Status verliehen wird: der Baccalaureus. Darin ergänzten sich Gesellschaftsform, Staatsform und Protestantismus, dass sie eine widersprüchliche Dynamik bildeten, in der die Elemente relative Eigenständigkeit behielten, wohingegen in Frankreich die Ziele und die Mittel des Einfügens des Individuums in die Gesellschaft von den Institutionen vorgegeben wurden. Daher konnte in Frankreich ohne große Widerstände eine Erziehungsauffassung weiterbestehen, die eher auf dem (hier einmal vereinfacht so genannten) lockeschen Modell der tabula rasa aufgebaut war. Deutschland hingegen musste auf eine pietistisch-selbstverpflichtende Moralerziehung und nicht auf eine Verhaltenserziehung 83 Dossier den Schwerpunkt liegen. In der deutschen ‚Bildung‘ ging es um eine innere Entscheidung, die das Wesen des Subjekts zu durchdringen hatte: aus seinem eigenen Antrieb heraus musste das (vielleicht romantische) Ich zur Gesellschaft gelangen (oder sich ihr auch verweigern) (Humboldt 1793). Dies ist auch die Wurzel der späteren Unterscheidung, die die frühe deutsche Soziologie prägen sollte, nämlich die zwischen ‚Gemeinschaft‘ und ‚Gesellschaft‘ (Tönnies). So wird auch die Zentrierung der deutschen Pädagogik auf die Didaktik als allgemeine pädagogische Grundlagenwissenschaft unter den deutschen Bedingungen erklärlich. Didaktik, seit Ratke und Comenius nicht nur eine Überlegung, wie zu lehren sei, sondern auch eine, wie das, was gelehrt wird, auch gelernt werden kann, wird über die Didaktik Herbarts und die Formalstufen in Deutschland mit Otto Willmann zur ‚Bildungslehre‘ (zu Ratke und Comenius in diesem Zusammenhang cf. Mitzenheim 1992). Frankreich repräsentierte hingegen in seinem napoleonischen Erziehungssystem formal einen egalitären Institutionalismus. In Bezug auf die Erziehungsauffassung in Frankreich, auf den Prozess der Individualitätskonstitution, die ‚Subjektwerdung‘ zu nennen vielleicht schon an diesem System vorbeigeht, könnte man meinen, dass im Zuge der Revolution die auf dem Locke-Helvétius-Modell der ‚Prägungen‘ entstehende sensualistische Psychologie mit ihrem Grundmodell der ‚Gewohnheit‘ nur verallgemeinert, als allgemeines, alle Individuen betreffendes Prinzip konstituiert wurde (Kahn 2006: 94sqq.). Der Staat garantierte das egalitäre Prinzip, nämlich aus den biografischen Umständen der Geburt und des Standes herausgehoben zu werden und die Gleichheit garantierende Organisationsebene des Staates genießen zu können. Der Gleichheit der Individuen kommt der organisierende Staat mit den allgemeingültigen, normierenden ‚Gewöhnungen‘ entgegen, und erst wenn diese absolviert sind, darf das Individuum über diese Norm hinausgehen. 7 Es ist deshalb nicht falsch, mit J. Gautherin festzustellen, dass die Science de l’éducation in Frankreich, als sie Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelt wird, eine „politische Natur“ aufweist - und zwar eine, die mit der Republik konform geht (Gautherin 2002: 93sqq.). Das hat sich in Frankreich lange vorbereitet, prägt die Lehrerausbildung in den Écoles Normales und führt nicht zuletzt auch zur lange bereits bestehenden Diskriminierung der Science de l’éducation innerhalb des Disziplinengefüges der Wissenschaften. Ihr traut man als Magd der Politik keine Erkenntnis, sondern nur Propaganda zu, und das ist auch noch sichtbar in den jüngsten Kontroversen, wo prononcierte erziehungswissenschaftliche Positionen - um nur die neueste Periode zu berücksichtigen - seit 40 Jahren mit politischer Polemik beantwortet werden (Barjon 2016, Millner 1984). Bedenken wir nun jene Unterschiedlichkeit der Prozesse, vermittels derer das deutsche Subjekt und das französische Individuum zur Gesellschaft und zum Staat gelangen, und nehmen wir die eben apostrophierte ‚politische‘ Eigenschaft der historisch in Frankreich relativ spät entwickelten Erziehungswissenschaft hinzu (zwischen der von Marc-Antoine Jullien de Paris erhobenen Forderung nach einer solchen und den programmatischen Arbeiten von Buisson, Marion und Claparède im Genfer Kontext liegt fast ein Jahrhundert - cf. u. a. Helmchen 2006: 43sqq.), so erklärt sich auch, 84 Dossier warum in der historischen Konstitutionslogik der Pädagogik in Deutschland als subjektiver Wille zur Gesellschaft das politische Programm systematisch zunächst keinen Platz erhielt. Auch erschließt sich leichter die besondere Form der lebensreformerisch und zivilisationskritisch betonten deutschen Reformpädagogik, die sich von den frankophonen Spielarten der éducation nouvelle in ihrer überwiegend präsenten strikten Subjektbetonung unterscheidet. Vor dem Hintergrund dessen, was ich hier ausgehend von unseren Diskussionen im Kolloquium noch einmal beleuchtet habe, ist es nun überhaupt nicht verwunderlich, wenn die konträr gesetzten Begriffe ‚Bildung‘ und ‚programme‘ (bzw. ‚savoirs‘) so lange nicht auf der anderen Seite verstanden werden, wie sie nicht von einer historischen Kenntnis der Institutionen oder Vergesellschaftungswege begleitet werden. Wir benötigen für das gegenseitige Verständnis dieser Prozesse ein permanent betätigtes, aufmerksames historisch-semantisches Sensorium, viel Zeit und vor allem unsere Sprachen, wenn wir nicht Gefahr laufen wollen, beim Eintritt in jede Diskussion jeweils die Hälfte unserer Bedeutungen an der Garderobe abgeben zu müssen und gegenseitig uns nur noch klappernde Gerippe vorzuzeigen. Überdeutlich wurde diese Gefahr am Ende unseres Kolloquiums, als nach den vielen Diskussionen es noch einmal um die (systematische) Unklarheit des Begriffs der Bildung ging: der Einwand eines Kollegen gegen diesen Begriff hat mich schließlich auch zu diesem Brief veranlasst. Dieser Einwand war: „J’aurais des difficultés à me passer des savoirs à l’école“. Ich antwortete ihm mit einer Referenz auf Louis Pasteur, die Duby und Lardreau in ihren Dialogues verwenden, freilich in anderem Zusammenhang als in einem erziehungswissenschaftlichen, die aber die Problematik historisch-institutionell induzierter Prägung des Blicks deutlich macht. Im Gespräch mit Duby beruft sich Lardreau auf diesen keiner romantisch-mystifizierenden, antiwissenschaftlichen Regung verdächtigen Repräsentanten des wissenschaftlichen Positivismus, indem er dessen Diktum aufnimmt, man müsse die Natur mit „Hintergedanken“ befragen (Duby/ Lardreau 1982: 52). Darin läge vielleicht ein zur begrifflichen Weiterarbeit führendes, in einem französischen Kontext geöffnetes Tor zum Begriff der Bildung. Denn allein dem programme und den savoirs dürften ‚Hintergedanken‘ nicht entspringen. Im Begriff der Bildung sind Resultat und Prozess gleichermaßen und gleichberechtigt - aber als Problem - gefasst (Humboldt 1793). Diese Diskussion muss weitergehen! Barjon, Carole, Mais qui sont les assassins de l’école? , Paris, Robert Laffont (Mauvais esprit), 2016. Cauly, Olivier, Comenius, Paris, Éditions du Félin (Histoire et sociétés), 1995. Denis, Marcelle, Comenius. Une pédagogie à l’échelle de l’Europe, Bern / New York, Lang (Exploration), 1992. Duby, Georges / Lardreau, Guy / Bayer, Wolfram, Geschichte und Geschichtswissenschaft. Dialoge, Frankfurt a. M., Suhrkamp (stw, 409), 1982. Fuchs, Eckhardt, „Der Völkerbund und die Institutionalisierung transnationaler Bildungsbeziehungen“, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 54, 2006, 888-899. 85 Dossier Gautherin, Jacqueline, Une discipline pour la République. La science de l’éducation en France (1882-1914), Bern, Lang (Exploration. Éducation: Histoire et pensée), 2002. Gehrmann, Siegfried, „Die Kontrolle des Fluiden. 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Fuchs 2006. 5 Das nicht berücksichtigt zu haben, macht die Monstrosität sowohl der in den letzten Jahrzehnten durch die Erziehungssysteme hindurchgezogenen „Large Scale Assessments“ à la PISA aus, aber auch die so genannte ‚Bologna-Reform‘, die zu nichts Weiterem geführt hat denn zu einer Sklerose aller Universitätssysteme, die diesem Prozess unterzogen worden sind. 6 Comenius wird in Frankreich in einer eher schmalen Rezeption vor allem als Pädagoge dargestellt, dessen Einsatz für die Entwicklung von Sprachen auf eine europäische Perspektive verweist, vielleicht noch als Reformer des Erziehungssystems, nicht aber als pädagogischer Theoretiker, der die Didaktik als allgemeine und systematisch zur Erziehungswissenschaft gehörende Dimension konstituierte (cf. Denis 1992, Cauly 1995). 7 Es versteht sich von selbst, dass ich hier von dem projektierten Idealzustand und dem Prinzip der Institutionenkonstitution spreche - nicht vom konkreten institutionellen Handeln in den politischen Etappen der Gesellschaften.