eJournals lendemains 32/128

lendemains
0170-3803
2941-0843
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/
2007
32128

Die Literaturwissenschaft und das Leben

2007
Toni Tholen
ldm321280098
98 Toni Tholen Die Literaturwissenschaft und das Leben Bemerkungen anlässlich einer anhebenden Debatte im Jahr der Geisteswissenschaften 1. Zu Ottmar Ettes Programmschrift im Jahr der Geisteswissenschaften 2007 In seiner Programmschrift Literaturwissenschaft als Lebenswissenschaft 1 nutzt Ottmar Ette die temporäre Aufmerksamkeit, die den Geisteswissenschaften genau ein Jahr lang zugestanden worden ist, um diese in ihrer gesellschaftlichen Bedeutung neu zu verorten und sie damit aus dem auch selbstgemachten Kerker der Nicht-Beachtung und Einflusslosigkeit zu befreien. Damit es nicht nur bei einem kurzen Strohfeuer im Bereich des Wissenschaftsbetriebs bleibt, sollte die von Ette initiierte Debatte um eine Neuausrichtung der Literaturwissenschaften möglichst breit und nachhaltig geführt werden. Ettes Denkanstöße gehen in verschiedene Richtungen und sie verstehen sich dabei, wenn mein Eindruck nicht trügt, als wirkliche Anstöße, die weiterzudenken, zu modifizieren und auch kritisch zu hinterfragen sind. Um deutlich zu machen, an welchen Aspekten meine Überlegungen ansetzen, sei zunächst Ettes Anliegen pointiert wiedergegeben. Der Vorschlag, Literaturwissenschaft fortan als „Lebenswissenschaft“ zu betreiben, hat eine doppelte Stoßrichtung: Zum einen zielt er auf eine Selbstkritik der Literaturwissenschaft, insofern sie sich in einem „Garten des Wissens“ (Nietzsche, in: Ette, 7) eingerichtet habe, ohne nach dem Nutzen ihres Tuns fürs Leben zu fragen. Zum anderen konstatiert er eine wachsende gesellschaftliche „Bringschuld“ (Ette, 10) der Literaturwissenschaft. Diese richtet sich auf die Notwendigkeit, das Verständnis dessen, was Leben ist oder sein soll, nicht nur den Life Sciences zu überlassen, sondern dazu beizutragen, die bereits in Gang gesetzte Reduktion eines die kulturellen Dimensionen ausschließenden, nur biowissenschaftlich-naturwissenschaftlichen Verständnisses von Leben zu revidieren. Ettes Globalziel ist die Einbindung verschiedenster Wissenschaften zum Zwecke einer „nicht-reduktionistische[n] Konzeption der Lebenswissenschaften“ (Ette, 11). 1 Ette, Ottmar: Literaturwissenschaft als Lebenswissenschaft. Eine Programmschrift im Jahr der Geisteswissenschaften, in: Lendemains 34 (2007), H. 125, 7-32 (künftig: Ette). 99 2. Ein konstruktiv-kritischer Dialog mit den Life Sciences Die zuletzt genannte Stoßrichtung hat bei Ette zunächst primär eine auf wissenschaftspolitischer und -strategischer Ebene stimulierende Funktion, nämlich die in der Tat nicht unwesentliche Bereitschaft der Literaturwissenschaften zu signalisieren, in eine „lebenswissenschafliche Verbundforschung“ (Ette, 32) einzutreten. Dabei lässt Ette noch weitgehend offen, was in einem solchen Forschungsnetzwerk die genauen Aufgaben der Literaturwissenschaft wären. Allerdings legen einige Formulierungen nahe, dass die Literatur und ihre Interpreten in konstruktiv-kritischer Weise einem einseitigen, durch die Naturwissenschaften und Life Sciences geprägten Wissenschaftsverständnis Grenzen setzen sollen. Darin liegt die Forderung einer kritischen Haltung, insofern die Literaturwissenschaft an literarischen Texten zeigen könnte, dass Leben mehr und vielleicht sogar gänzlich anderes bedeuten kann als biologisches Material, das zu welchen Zwecken auch immer manipulierbar und technisch beherrschbar ist. Sinnvoll wäre es hier allerdings, wie Christoph Menke bei seiner Reaktion auf Ettes Schrift vorschlägt, den Biowissenschaften nicht nur auf epistemologischer Ebene begegnen zu wollen, sondern vor allem eine Kritik ihrer jeweiligen Ideologien zu entfalten. 2 In den Labors und in den Chefetagen von biowissenschaftlichen Instituten und Konzernen (wissenschaftliche und ökonomische Interessen sind hier ja schon längst nicht mehr voneinander zu trennen) befinden sich immer noch Menschen, die ganz bestimmte kulturell geprägte Vorstellungen von Leben und Generierung von Leben haben, deren Forschen selbst eingebunden bleibt in ein Begehren, das immer auch mit dem Wunsch nach Herrschaft und Macht, vor allem aber mit Schöpfungswahn verbunden ist. Man kann in diesem Zusammenhang den kürzlich in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erschienenen, leicht ironisch angehauchten Bericht 3 von einer Tagung unter Natur- und Biowissenschaftlern in den USA über das Thema „Was ist Leben? “ ruhig auch als ernsthaften Beleg für deren zum Teil hochproblematische Selbstbeschreibung und -einschätzung werten, wenn etwa der Genomentschlüssler J. Craig Venter süffisant in die Runde wirft, dass er sich ein Jahr lang bei Vertretern der Religionen erkundigt habe, ob es ‘o.k.’ sei, Gott zu spielen und alle Befragten ihr o.k. gegeben hätten. Es steht zu fürchten, dass solche Geschichtchen mehr Wahres über die Phantasmen und Ideologien von Biowissenschaftlern verraten als irgendwelche gut gemeinten offiziellen Selbstverpflichtungen. Und es könnte u.a. eine Aufgabe der Literaturwissenschaften sein, solche Aussagen als Texte mit all ihren kulturellen Implikaten und Codierungen auf dem Hintergrund 2 Menke, Christoph: Jenseits von Geistes- und Biowissenschaften. Vier kurze Bemerkungen zu Ottmar Ette: „Literaturwissenschaft als Lebenswissenschaft“, in: Lendemains 32 (2007), H. 126/ 127, 209. 3 Mejias, Jordan: Lasst uns Gott spielen! Lebensfragen: J. Craig Venter programmiert die Zukunft, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 31.8.2007, 33. 100 bereits vorhandenen kulturellen und historischen Wissens aufmerksam und vor allem kritisch zu lesen. Andererseits zeigt der anekdotenhafte Einwurf Venters aber auch, dass die Vertreter von Kultur und Religion, wer immer sie in diesem Fall gewesen sein mögen, stets anfällig dafür sind, sich „neuen Göttern“, wenn sie denn nun mächtig genug sind, kritiklos zu unterwerfen. Die gigantischen Möglichkeiten, die den Biowissenschaften und -technologien jetzt schon zur Verfügung stehen und in Zukunft noch zur Verfügung stehen werden, führen unweigerlich zu neuen Vorstellungen davon, wie die Welt und das Leben zukünftig aussehen sollen. Das impliziert auch ästhetische Idealvorstellungen, etwa die vom schönen Menschen als geist-leiblich vollkommenes Geschöpf. Die mögliche Durchsetzung solcher gerade auch ästhetischer Wertvorstellungen mitsamt ihrer diskriminierenden Wirkung gegenüber allen, die sich solcher Formung des Lebens widersetzen bzw. aus materiellen oder möglicherweise rassistischen Gründen von ihr ausgeschlossen werden, erzeugt ganz selbstverständlich Ängste, die sich schon seit einiger Zeit in der Literatur zu dichten, bisweilen apokalyptischen Visionen formen, so etwa in Thomas Lehrs meisterhafter Novelle Frühling. Darin werden in surrealistischer Manier die Konturen einer schönen, neuen Welt mit lauter perfekten, biomedizinisch vollkommen heilbaren Menschenkörpern gezeichnet, die sich allerdings durch die halluzinatorische Einblendung der in den deutschen KZs durch medizinische Experimente grausam zu Tode gefolterten Gefangenen als totalitär erweist. Eine zentrale Passage der Novelle imaginiert einen Kongress von Biomedizinern und Pharmakologen, in dessen Zentrum ein großer, lichter Hör- und Sehsaal „wie eine: ganze Stadt“ 4 steht und in dem alle, die in ihn hineingehen dürfen, von ihren Krankheiten geheilt werden. Dass der Text nicht eine Utopie, sondern eine Schreckensvision vor Augen führt, wird durch eine nichtdialektische Inversion der Himmel-Hölle-Metaphorik verdeutlicht. Der Ich-Erzähler, selbst Teilnehmer des Kongresses, berichtet unter dem Eindruck der Vision des Großen Saales: „wir sind nicht in einem Krieg, sondern in der Umkehrung eines Krieges, dies ist kein Schlachtfeld, sondern die Umkehr eines Schlachtfeldes, keine Seuche, sondern die Umkehr einer Seuche, ein katastrophal herrliches Lazarett, eine Heilung im Ausmaß einer Verheerung, ein Segen, der über Zehntausende kommt wie ein Orkan […].“ 5 Die biomedizinische und -technologische Vision eines Paradieses der Gesunden und Erlösten fällt hier mit der irdischen Hölle zusammen. Die literarische Inversion in Lehrs Novelle bringt die Denkfigur einer Hölle hervor, die sich als Paradies verwirklicht. Nun enthalten literarische Texte wie dieser viele Zumutungen für Vertreter der Life Sciences. Ein konstruktiver Dialog zwischen einer ‘lebenswissenschaftlich orientierten Literaturwissenschaft’ und eben jenen Vertretern wird aber davon abhängen, inwieweit sie bereit sind, solche Bilder als in der Tat existierende Angstgemälde von Menschen, die über ein historisches und kulturelles Gedächtnis und 4 Lehr, Thomas: Frühling. Berlin 2005, 94. 5 Ebda., 96. 101 Lebenswissen verfügen, ernst zu nehmen und ihr eigenes Handeln daraufhin zu reflektieren. Umgekehrt wird die Bereitschaft der Vertreter der Life Sciences zu einem Dialog nur dann überhaupt denkbar sein, wenn sich die Literaturbzw. Geisteswissenschaftler mit pauschalen Unterstellungen und Verurteilungen zurückhalten, indem sie z.B. nicht vorschnell literarische Visionen mit der Wirklichkeit verwechseln und sich darüber hinaus über den jeweiligen Stand der Biowissenschaften und ihrer ethischen Selbstreflexion informieren. 3. Zur Selbstkritik der Literaturwissenschaft Zielt der von Ette geforderte Dialog mit den Life Sciences bereits auf eine gesellschaftlich relevante, lebenswissenschaftliche Erweiterung der Literaturwissenschaft, so verbindet sich diese bei ihm mit einer Selbstkritik der Literaturwissenschaft. Und auf dieser Ebene bietet seine Programmschrift einige Aspekte, die es wert sind, vertieft zu werden. Es eröffnen sich hier Fragen, die an die Grundfesten des fachlichen Selbstverständnisses der letzten zwei bis drei Jahrzehnte rühren. Fragen, die umso dringlicher gestellt und beantwortet werden müssen. a) Der Begriff „Lebenswissenschaft“ Zunächst einmal wäre zu fragen, ob es wirklich ratsam ist, die Literaturwissenschaft als „Lebenswissenschaft“ bezeichnen zu wollen. Insbesondere als Germanist ist es mir ein Anliegen, die von Wolfgang Adam bereits vorgetragenen Bedenken noch einmal zu unterstreichen: 6 Ein von der nationalsozialistischen Bildungsterminologie kontaminierter Begriff wie der der Lebenswissenschaft, der zudem bei dem NS-Bildungspolitiker Walther Linden in der mit Ettes Ettiketierung identischen Formulierung „Literaturwissenschaft als Lebenswissenschaft“ auftaucht, ist, zumindest was die Germanistik anbetrifft, nur in Anführungszeichen zu benutzen. Unbehagen erzeugt der Begriff „Lebenswissenschaft“ aber noch aus einem anderen Grund: Trifft er wirklich die unterstützenswerte Intention Ettes, die Literaturwissenschaft auf das Leben hin zu öffnen? Damit ist doch auch die Absicht verknüpft, die Literatur für Aspekte des Lebens zurückzugewinnen, die eben nicht rein wissensmäßig oder gar wissenschaftlich strukturiert, sondern mit Praxis verbunden sind. Und diese Praxis umfasst sowohl ethische Aspekte, die sich in der Frage „Wie kann ich heute (mit anderen zusammen) leben? “ bündeln lassen, als auch Aspekte des Lesens von und des Schreibens über Literatur. Ette berücksichtigt ausdrücklich den ethischen Aspekt, indem er an mehreren Stellen davon spricht, dass Literatur Konzepte von Lebensführung („normative Formen von Lebenspraxis“, Ette, 31) zur Disposition stellt. Nur ist zu fragen, ob diese sich nicht oftmals einer wissenschaftlichen Behandlung gar nicht erschließen, da letztere eine stän- 6 Vgl. hierzu Adam, Wolfgang: Beitrag zur Debatte: Ottmar Ette, Literaturwissenschaft als Lebenswissenschaft, in: Lendemains 32 (2007), H. 126/ 127, 227. 102 dige Distanzierung und Relativierung des Lebenswissens des einzelnen Textes von der Person des Lesers fordert. Mit anderen Worten: Das existentielle Bedürfnis, das mit der Öffnung der Literaturwissenschaft aufs Leben hin unweigerlich verbunden ist, und d.h. konkret: Antworten in literarischen Texten auf die Frage nach dem Leben-Können oder dem Über-Leben-Können zu suchen, dieses Bedürfnis geht im Begriff der „Lebenswissenschaft“ nicht gänzlich auf, weil es sich nicht in einem primär wissenwollenden lesenden Subjekt, sondern in einem leben und (mit anderen zusammen) sein wollenden lesenden Subjekt festmacht. Will man aber gerade den existentiellen Aspekt einer neuen Zuwendung der Literaturwissenschaft zum Leben betonen, dann böte es sich vielleicht eher an, von einer Philologie des Lebens zu sprechen. In einer literaturwissenschaftlichen Lebenswissenschaft dominiert immer der Aspekt eines Wissens über die In-Form- Setzung von Leben in der Literatur, und in einem solchen Gewande ist sie nicht dagegen gefeit, in den hortus conclusus akademischen Wissens zurückzukehren. Eine Philologie des Lebens hingegen würde das Wissen über das Lebenswissen der Literatur nicht übergehen, aber sie ließe in bestimmten Situationen des Lesens und in Bezug auf bestimmte dringende Fragen des individuellen Lebens eine Aussetzung, eine Unterbrechung des Wissenwollens zu; eine Zäsur, innerhalb derer sich lesend eine Freundschaft zum Wort, eine Lebensnähe zum Text einstellte, eine Nähe, die nicht nur aus den „Probleme[n] […] individueller Existenz“ 7 resultieren muss und diese bearbeiten soll, sondern die im Akt des Lesens selbst auch die augenblickhafte Gemeinschaft mit einer Stimme, einem im Text vernehmbaren Gefühl, mit der Denk- und Handlungsweise einer Figur (oder deren Ablehnung) sein könnte. b) Autonomie vs. Aufhebung der Literatur(wissenschaft) in Lebenspraxis In dem Moment, in dem ein Literaturwissenschaftler die Notwendigkeit einklagt, dass die Philologien „sich - im vollen Wortsinne - um das Leben […] kümmern“ (Ette, 30) sollen, weiß jeder Kenner der literaturtheoretischen Diskussion der letzten Jahrzehnte, welche Reaktionen dies zwangsläufig hervorruft. Und deshalb ist es nicht verwunderlich, dass unter den ersten Teilnehmern an der Debatte gleich mehrere sind, die die Autonomie der Literatur, d.h. ihre Eigenlogik, ihr eigenes System, ihre Selbststeuerung, ihren Eigensinn nicht angetastet wissen wollen. 8 Die systematischen Argumente dafür setze ich hier als hinreichend bekannt voraus. Ette weiß selbst um das Prekäre seines Unterfangens und spricht deshalb vorsichtig von einer ‘relativen Autonomie’ (vgl. Ette, 8 u. 21) der Literatur, innerhalb derer die Komplexität ihrer eigenen Gesetze und Verfahren auch gar nicht in Frage zu stellen, ja sogar unbedingt zu erhalten sei. Er merkt aber auch zu Recht an, 7 Gumbrecht, Hans Ulrich: Wie könnte man nicht einverstanden sein? Beistimmender Widerspruch zu Ottmar Ette, in diesem Heft, #SEITENZAHLEN#. 8 Vgl. ebda. sowie die Beiträge von Menke und Nünning in Lendemains, 32 (2007), H. 126/ 127, bes. 211f. und 214. 103 dass die Frage der Betrachtung von Kunst/ Literatur bzw. nach deren Funktion immer auch unter bestimmten historischen, gesellschaftlichen und auch wissenschaftspolitischen Bedingungen gestellt wird (vgl. Ette, 9). Und viele Zeichen deuten in der Tat darauf hin, dass sich die gesellschaftlichen und historischen Voraussetzungen in einer Weise schon verändert haben, dass sich auch der Umgang mit der Literatur zu verändern begonnen hat. Genauso wie die Herausbildung einer autonomen „Institution Kunst/ Literatur“ (Peter Bürger) Resultat eines historisch-gesellschaftlichen Prozesses ist, unterliegt die Infragestellung ihrer Selbstreferenzialität und Selbstgenügsamkeit einem von ihr selbst gar nicht allein steuerbaren Prozess. Und dieser Prozess ist schon - obgleich er lange Zeit von vielen Literaturwissenschaftlern kaum beachtet wurde - seit den neunziger Jahren in vollem Gange. Die wohl auch im Zusammenhang des Verhältnisses von Literatur und Leben bedeutsamste Veränderung außerhalb oder besser gesagt: am Rande der Literaturwissenschaft ging zunächst von den späten Schriften Foucaults zu einer Ästhetik der Existenz aus und bündelte sich um die Jahrtausendwende in einer breiteren Hinwendung zu Fragen der von Ette eigentümlicherweise nicht angesprochenen Lebenskunst 9 und der Ethik 10 . Dabei wurden und werden gerade offene Textformen (oftmals Essays, Briefe, Aphorismen und Tagebücher) zu bevorzugten Medien der Frage, wie man leben könne und vielleicht nicht leben solle, weil sie als literarische gerade keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit ihrer Antworten stellen müssen, wie es etwa in der Moralphilosophie der Fall ist, zumal sie oft genug auch gar keine eindeutigen Antworten oder lebbaren Konzepte anbieten. Es geht in diesem Zusammenhang gar nicht darum, ob sich durch Literatur das Leben oder die Gesellschaft verändern lässt, sondern es geht um die Frage des möglichen oder auch unmöglichen Leben-Könnens der individuellen Existenz in einem als zunehmend defizitär empfundenen gesellschaftlichen Umfeld, freilich oft auch verbunden mit der kleinen Hoffnung auf Veränderung der Lebensformen. Dabei sollte eine Unterscheidung eingeführt werden, die für ein gegenwärtiges Verständnis des an der Literatur/ Kunst orientierten Leben-Könnens von Bedeutung ist: Fragen der Lebenskunst, die an die Literatur herangetragen werden, haben 9 Symptomatisch für diese Hinwendung ist der Erfolg der philosophischen Habilitationsschrift von Wilhelm Schmid: Philosophie der Lebenskunst. Eine Grundlegung. Frankfurt/ M.: Suhrkamp, 1999 und auch der Nachdruck sowie die Distribution zahlreicher Texte der antiken Lebenskunstlehre im Umkreis der Schule Epikurs und der Stoa durch Verlage und Buchhandlungen. 10 Vgl. für einen Forschungsüberblick zur ethischen Wende im Zwischenbereich von Literatur und Philosophie Brink, Margot / Sollte-Gresser, Christiane: Grenzen und Entgrenzungen. Zum Verhältnis von Literatur und Philosophie, in: (dies.) (eds.): Ecritures. Denk- und Schreibweisen jenseits der Grenzen von Literatur und Philosophie. Tübingen: Stauffenburg, 2004, 9-29. Vgl. zu einer ethisch-existentiellen Neuorientierung der Philologien im Angesicht der von Foucault und Agamben diagnostizierten Biomacht auch Tholen, Toni: Philologie als Ethik. Eine Skizze, in: Brink / Sollte-Gresser (eds.): Grenzen und Entgrenzungen, 261-273. 104 nicht unbedingt den gleichen Status wie die avantgardistische Forderung, die Kunst in Leben aufzuheben. Die Lebenskunst setzt eher das Scheitern dieser Forderung voraus. Man könnte sagen, dass sie die gegenwärtige Erfahrung dieses Scheitern ist. 11 Sie ist von daher weder ein Angriff auf das Kunstsystem noch eine Revolte gegen die bürgerliche Gesellschaft, sondern der Versuch des Einzelnen, seinem Leben (auch mit anderen) nach dem historischen Scheitern dieser Ambitionen - zuletzt in der 68er-Revolte - einen Sinn zu geben. Die damit verbundene Poetisierung oder auch Spiritualisierung des eigenen Lebens findet fast ausschließlich im Privaten statt, in der eigenen Wohnung, und auch im Umgang mit Freunden; und das heißt vom Ganzen aus gesehen: an vielen (kulturell) verschiedenen Orten in ganz unterschiedlicher Weise. Und in dieser Perspektive verändert sich auch die literaturtheoretisch hart erstrittene Grenzziehung zwischen Autonomie und Aufhebung: Auf der Ebene eines existentiell-individuellen Umgangs mit Literatur entschärft sich der Streit insofern, als die Autonomie des Literatursystems nicht grundsätzlich in Frage gestellt wird und sich gleichwohl ein existentielles Begehren im Akt der Lektüre regt, das auf lebendigen Widerhall in der Literatur hofft. 12 Die offene Frage ist, ob es der Literaturwissenschaft auf Dauer nicht mehr schadet als nutzt, wenn sie dieses Begehren im Beharren auf der Eigenlogik des Ästhetischen weiterhin überhören will. Weil die Indizien - auch nach Ette - dafür sprechen, dass ihr das schaden wird, plädiere ich literaturtheoretisch für mehr Gelassenheit: Es ist heute möglich, um die Eigensinnigkeit der Literatur(en) zu wissen und sie gleichzeitig auf ihre Bedeutung für gesellschaftliche Probleme und für die individuelle Existenz zu befragen. Eine Nichtbeachtung dieses Zugleichs würde, von welcher Seite die Restringierung auch immer erfolgte, zur einer Minderung des Potenzials der Literatur führen sowie den Ausschluss bestimmter, vielleicht heute in ihrer Bedeutung erst hervortretender Textsorten und AutorInnen aus dem Kanon fortsetzen (was insbesondere trotz aller Frauenliteraturforschung immer noch mit den Texten von Frauen geschieht, die in der dominanten Literaturtheorie bisher eine marginale Rolle spielen). c) Das Verhältnis von Text und Leser(in) Ettes Text bleibt nicht auf der programmatischen Ebene der Skizzierung eines neuen Forschungsparadigmas stehen, sondern versucht auch schon konkretere Vorschläge zu machen bezüglich eines Umgangs mit literarischen Texten, der das 11 Das schließt nicht aus, dass schon Autoren im Umkreis der historischen Avantgarden, insbesondere des Surrealismus, diese Erfahrung selbst gemacht, sie sogar zur Grundlage ihres Denkens gemacht haben. Vgl. dazu Bürger, Peter: Surrealismus als Ethik, in: (ders.): Der französische Surrealismus. Studien zur avantgardistischen Literatur. Um neue Studien erweiterte Ausgabe. Frankfurt/ M.: Suhrkamp, 1996, 207f. 12 Vgl. dazu das an einen Gedanken Dieter Henrichs anschließende Plädoyer Wolfgang Asholts für eine Beachtung der Gleichzeitigkeit der Reflexion auf den Kunstcharakter von Literatur und ihrer Intention einer anderen Lebenspraxis, in: Asholt, Wolfgang: Neues Leben (in) der Literaturwissenschaft? , in: Lendemains 32 (2007) H. 126/ 127, 223. 105 Leben und die Lebenspraxis nicht aus der Lektüre ausgrenzt. Seine Überlegungen zu den textinternen und textexternen Modellierungen von Lebenswissen rahmt er mit einer grundsätzlichen Forderung, nämlich der des „Verstricktseins von Literatur und Lebenspraxis“ (Ette, 22), die er aus wenigen Formulierungen eines bekannten Aufsatzes von Wolfgang Iser zum Lesevorgang destilliert. Iser sieht den „Eindruck von Lebensnähe“ 13 dadurch gewährt, dass sich im Akt der vom Leser selbst hervorgebrachten Textgestalt die Erfahrung eines intensiven „Erlebens“ einstelle. Wenn auch die Forderung nach Lebensnähe und Verstricktsein von Literatur und Leben im Zusammenhang einer „lebenswissenschaftlich ausgerichtete[n] Philologie“ (Ette, 26) konsequent ist, so ist doch zu bezweifeln, ob der von Ette dafür aufgerufende Theoriestrang der Rezeptionsästhetik und insbesondere die Kategorie des ‘Erlebens’ das Potenzial enthält, dessen es bedürfte, einen lebensbezogenen Umgang mit dem Text zu umreißen. Ich sehe in der Kategorie vor allem keinen Entfaltungsspielraum für das existentielle und praktisch-ethische Bedürfnis eines Individuums, das sich im Begehren des Textes regt und in der intensiven Lektüre eine Gestalt geben will. Ich sehe im Anknüpfen an den Begriff des Erlebnisses auch keine Möglichkeit, die eigene Subjektivität experimentell, und d.h. in der Verstrickung von Lesen und Schreiben, in einem offenen Lebensprozess (vgl. dazu auch Ette, 19), und eben nicht nur in einem punktuellen ästhetischen Erlebnis, in Erfahrung zu bringen. Darum aber müsste es einer Philologie des Lebens gehen. An dieser Stelle kann nur skizzenhaft darauf hinweisen werden, dass es durchaus neuere Ansätze in der Literaturwissenschaft und -theorie gibt, die sich genau dieser Frage schon intensiv gewidmet haben. Wenn Ette für die enge, kaum zu trennende Verbindung von Leben und Lesen, Lieben und Literatur das Briefkorpus einer schreibenden Frau, Juana Borrero, als Beispiel wählt, so weist dies u.a. darauf hin, dass gerade das Schreiben von Frauen ein Lebenswissen enthält, dem die Literaturwissenschaft als ganze (und nicht nur eine als feministisch separierte Unterabteilung) größere Aufmerksamkeit schenken sollte. Gerade im Hinblick auf das Lebens- und Liebes-„Wissen“ von Frauen, das eben nicht im traditionellen oder institutionellen Sinne wissensförmig ist, sondern allererst durch einen bestimmten Umgang mit Texten tradierbar gemacht werden müsste, sind die jüngeren Arbeiten von Christa Bürger, vor allem ihre Studien Leben Schreiben und Das Denken des Lebens im Bereich der Literaturwissenschaft Pionierarbeiten. 14 Ganz im Sinne des oben bereits skizzierten Aussetzens des literarwissenschaftlichen Wissens bzw. Wissenwollens entfaltet Bürger eine explizit essayistisch-dialogische Schreibweise, in der das Ich der Schreibenden nicht ausgegrenzt wird, sondern sein Begehren, seine Suche nach Gemeinsamkeit mit den schreibenden Vorgängerinnen ver- 13 Iser, Wolfgang: Der Lesevorgang. Eine phänomenologische Perspektive, in: Warning, Rainer (ed.): Rezeptionsästhetik. Theorie und Praxis. München: W. Fink, UTB, 1975, 271. 14 Bürger, Christa: Leben Schreiben. Die Klassik, die Romantik und der Ort der Frauen. Stuttgart: Metzler, 1990 und Bürger, Christa: Das Denken des Lebens. Frankfurt/ M.: Suhrkamp, 2001. 106 nehmbar wird. Und zwar so, dass es sich die ganz unterschiedlichen Lebensgebärden, und d.h. die Umstände und Bedingungen ihres (Nicht-)Leben-Könnens selbst zur Erfahrung werden lässt. Indem Bürger sich bewusst gegen die methodischen Absicherungen des üblichen wissenschaftlichen Schreibens entscheidet, vermag sie eine - Distanz nicht ausschließende - Lebensnähe zwischen sich und den Texten zu erzeugen, die die Grenzen aufhebt, welche den „Garten des Wissens“ vom Leben und seiner Verstrickung mit der Literatur trennen. Bürgers Schreiben entlang der Texte ihrer Vorgängerinnen von Madame de Sévigné über die deutschen Autorinnen der Romantik bis zur brasilianischen Autorin Clarice Lispector steht, auch in Anlehnung an die Denk- und Schreibpraxis männlicher Vorgänger wie vor allem Erich Auerbach 15 , paradigmatisch für eine existentielle Neuorientierung in der Literaturwissenschaft. Zum einen deshalb, weil es ihr thematisch um die Ausrichtung des Leben-Schreibens auf die existentiellen Grundfragen wie Leben und Tod, Sinn und Nicht-Sinn, Einsamkeit und Gemeinschaft geht; weil sie Texte von Autoren und Autorinnen vergleichend daraufhin befragt, inwieweit sie ihr Schreiben entweder in den Dienst eines Lebens-im-Tod stellen oder andererseits es auf ein Leben-Können im Hier und Jetzt ausrichten. Für letzteres verwendet Bürger die vom frühen Lukács geprägte Formel einer „Lebensimmanenz des Sinns“, welche bei ihr vor allem das Zusammenleben(können) mit anderen im Hier und Jetzt eines gelebten Lebens meint. Dafür steht bei Bürger vor allem das Schreiben Marie de Sévignés und Isabelle de Charrières, im deutschsprachigen Bereich die Briefromane Bettina von Arnims. 16 Zum anderen stehen Bürgers Arbeiten deshalb für eine existentielle Neuorientierung, weil sie das Verhältnis von Text und Leser(in) im Sinne einer dialogischen Hermeneutik versteht, innerhalb derer die Stimmen des Textes und die eigene Stimme, das eigene Ich der Lesenden hörbar werden, sie gleichsam in ein Lebensverhältnis einrücken, das als Lektüreprozess Nähe und Distanz ergründet, freilich nicht ohne das Wissen um den historisch-gesellschaftlichen Abstand, der die Texte und Lebensgebärden von der hermeneutischen Situation der Lesenden entfernt. 17 Anstöße für einen solchen Umgang mit Texten gibt über die konkreten literaturbezogenen Lektüren hinaus vor allem die Hermeneutik Gadamers, insofern sie das Verhältnis von Text und Leser mit demjenigen von Ich und Du vergleicht und dadurch den Lektürebzw. Verstehensprozess als ein lebendiges, immer wieder 15 Wie prägend Auerbach, aber auch Werner Krauss für Bürgers eigene Auffassung von Literaturwissenschaft und auch für die Art und Weise, über Literatur zu schreiben, waren und sind, erläutert sie in einem für den Zusammenhang von Literaturwissenschaft und Lebenspraxis höchst erhellenden Kapitel ihres Buches Mein Weg durch die Literaturwissenschaft. 1968-1998. Frankfurt/ M.: Suhrkamp, 2003, 77-83. 16 Vgl. dazu vor allem die entsprechenden Essays in Bürger: Das Denken des Lebens. Hingewiesen sei im Hinblick auf das Schreiben von Frauen im 20. Jahrhundert auch auf die Beiträge in Bürger, Christa (ed.): Literatur und Leben. Stationen weiblichen Schreibens im 20. Jahrhundert. Stuttgart: Metzler, 1996. 17 Vgl. dazu und zum Folgenden Tholen, Toni: Erfahrung und Interpretation. Der Streit zwischen Hermeneutik und Dekonstruktion. Heidelberg: Winter, 1999, 89-123. 107 neu zu beginnendes Wechselverhältnis betrachten kann. An Gadamer lässt sich im Zusammenhang einer sich um das Leben kümmernden Philologie deshalb anknüpfen, weil er trotz seines konservativen Werk- und Traditionsbegriffs auch einen lebenshermeneutischen Umgang mit Texten intendiert, der die Intensität der Zuwendung zum einzelnen Text mit der existentiellen Fragehaltung des Lesenden verbindet: in der hermeneutischen Einstellung eines Seins zum Leben, das sich seiner eigenen Geschichtlichkeit stets bewusst bleibt. Der existentielle Umgang mit Texten, der die eigenen Lebensfragen, die individuelle wie kollektive Existenz betreffend, literaturwissenschaftlich nicht länger ausklammert, setzt voraus, dass die Literaturwissenschaft das lange aufrechterhaltene Pathosverbot ihrer eigenen Diskurspraxis wenn nicht aufhebt, so doch zumindest lockert. Nur dann könnte die Literaturwissenschaft hoffen, auch die Formen ihres eigenen Schreibens dem anzunähern, was Ette als Verstricktsein von Literatur und Lebenspraxis fordert. Eine Verbindung von Lebenspraxis und Literatur lässt sich nämlich erst dann verwirklichen, wenn sie nicht nur wissensförmig in Texten vorgefunden wird, sondern wenn der über Literatur Schreibende sie selbst wissenschaftlich-literarisch, experimentell, vielleicht sogar essayistisch, praktiziert. Dafür bedarf es vor allem des Muts zur Beschränkung auf das eigenste Interesse, wie z.B. in Roland Barthes Vorlesungen am Collège de France, Wie zusammen leben und Das Neutrum. In letzterer bekennt er ganz offen: „Die Vorlesung existiert, weil es ein Begehren des Neutrum (nach dem Neutrum) gibt: ein Pathos […].“ 18 Barthes stellt seine inspirierenden Vorlesungen zu einer neuen Ethik bzw. Lebensführung 19 vorab unter ein ganz persönliches Begehren, das er auch sein „Phantasma“ 20 nennt. Er verzichtet damit explizit auf einen diskursförmigen Allgemeingültigkeitsanpruch seiner Lektüren und begibt sich stattdessen experimentell-fragmentarisierend auf den Weg, das Leben-Können (und damit auch sein eigenes) unter den Bedingungen der Vergesellschaftung seiner Zeit, die in meiner Einschätzung auch noch die unsrige ist, neu in Erfahrung zu bringen. Und dazu wendet er sich vor allem der Literatur zu. d) Das Leben der LiteraturwissenschaftlerInnen Wenn man Ottmar Ettes Programm für die Literaturwissenschaft beim Wort nimmt, enthält es, wie oben deutlich gemacht werden sollte, Zumutungen vor allem für die universitär institutionalisierten Philologien, nicht so sehr für den privaten Leser, der im Stillen von jeher seinen eigenen Lektüre- und Lebensinteressen folgt, und auch nicht so sehr für die einzelnen Literaturdidaktiken, die sich nie so weit wie die Literaturwissenschaften von der Nützlichkeit der Literatur fürs Leben entfernt haben. Wenn die Philologien sich aber nun tatsächlich wieder mehr den Lebensfragen und 18 Barthes, Roland: Das Neutrum. Vorlesung am Collège de France 1977-1978. Frankfurt/ M.: Suhrkamp, 2005, 42. 19 Vgl. ebda., 40. 20 Ebda., 42. 108 dem Lebenswissen der Literatur zuwenden wollen, dann können sie das nicht, ohne sich zu fragen, wie sich ihr eigenes universitäres Leben, und man ist geneigt zu sagen: ihr Überleben derzeit gestaltet und in Zukunft gestalten sollte. Ette mahnt eine solche gesellschaftlich-politische Reflexion des Faches zu Recht an. Und es ist an der Zeit, nicht nur fortwährend die Existenzbedingungen der Anderen, der Literatur, der Gesellschaft etc. zu betrachten, sondern auch die eigenen. Ohne hier zu sehr auf die Abgründe des derzeitigen deutschen Universitätsbetriebs eingehen zu wollen, erscheint es mir doch wichtig, die Forderungen einer notwendigen Neuausrichtung der Philologien auf die Lebensfragen unserer Zeit, die ja auch weit in die Zukunft hineinreichen, zu verbinden mit einer grundlegenden und wirksamen Reflexion der gegenwärtigen universitären Praxis. Ich bin davon überzeugt, dass die Philologien sich nicht in einem qualitativen, und d.h. auch verändernden Sinne um das Leben kümmern können, wenn sie - erstens - weiterhin in stets zunehmender Weise durch die scheinbar auf Dauer gestellte Veränderungs-, Neuordnungs-, Wettbewerbs- und Kontrollwut von Wissenschaftspolitik und -verwaltung fremdbestimmt werden, sodass den Philologinnen und Philologen selbst jede Muße, an der Sache zu arbeiten, fortwährend entzogen wird, 21 und wenn sich - zweitens - in ihnen selbst nicht die Bereitschaft entwickelt, ihr wissenschaftliches Arbeiten, und d.h. vor allem die Art und Weise ihrer Textproduktion zu überdenken. Denn es wird in der gerade aufflammenden Diskussion um die nötige Lebensnähe der Literaturwissenschaft ja mehr als deutlich, dass der von Ette diagnostizierte „Garten des Wissens“ zu einer literaturwissenschaftlichen Kälte-Kultur geführt hat, in der die schreibenden Subjekte sich, statt offenere, kreativere Formen des Schreibens zu praktizieren, hinter Diskursen, Rekonstruktionen und einer objektivistischen Interpretationspraxis verschanzt halten und in ihrer inneren Distanz gegenüber jeder existentiell oder gesellschaftlich begründeten Positionierung ihres eigenen Tuns kaum noch eine Vorstellung von Zeitgenossenschaft haben. Ohne eine solche aber steht im „Garten des Wissens“ jeder Diskursbeitrag in eigentümlicher Verkehrung seines Objektivitätsanspruchs für sich, von der scientific community womöglich gratifiziert, vom Leben selbst aber unberührt. 21 Die Absicht, zukünftig Forschungs- und Lehrprofessuren in den Geisteswissenschaften einzuführen, bei denen einer handverlesenen Elite die nötige Zeit und Muße zum Forschen eingeräumt wird und die Lehrprofessoren im Prüfungsdschungel von BA- und MA- Studiengängen um ihr geistiges Überleben kämpfen, ist mit jener Blindheit gegenüber den Bedingungen einer lebendigen und lebensrelevanten geisteswissenschaftlichen Praxis, die nur in der Einheit von Forschung und Lehre gewährleistet ist, geschlagen, der im Rahmen einer gesellschaftlich relevanten und lebensorientierten Literaturwissenschaft entschlossen entgegen zu treten wäre.