eJournals lendemains 35/137

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Narr Verlag Tübingen
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2010
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Exil und Verfolgung im nationalsozialistischen Kontext

2010
Joseph Jurt
ldm351370039
39 Discussion Joseph Jurt Exil und Verfolgung im nationalsozialistischen Kontext Deutsche Schriftsteller im französischen Exil Schon ab 1933 waren freie Schriftsteller in Deutschland gefährdet. Sie konnten nur noch im Exil frei sprechen. Viele von ihnen glaubten, in Frankreich ein sicheres Refugium gefunden zu haben. Sie waren vom Süden des Landes angezogen, wo sie sich als Kurgäste und nicht als Emigranten fühlen konnten. Lion Feuchtwanger, Franz Hessel und Franz Werfel hatten sich in Sanary-sur-Mer niedergelassen. Joseph Roth, Heinrich Mann und Hermann Kesten mieteten ein Haus in Nizza. Doch mit dem Kriegsausbruch 1939 und vor allem mit dem Vichy-Régime wurde ihre Situation äußerst prekär. Sie mussten nach neuen Exil-Orten suchen. Ruth Werfel, eine Verwandte von Franz Werfel, die in Zürich aufwuchs und heute als Kulturjournalistin tätig ist, hat sich intensiv mit der Situation der Schriftsteller im französischen Exil beschäftigt und organisierte 2004 in der Zürcher Zentralbibliothek zu diesem Thema eine Ausstellung, die 2007 auch in der Basler Universitätsbibliothek gezeigt wurde. In dem im Anschluss an die Ausstellung herausgegebenen Sammelband 1 sind zahlreiche Original-Dokumente zur Exil-Erfahrung der verfolgten Schriftsteller abgebildet - darin besteht ein wichtiger dokumentarischer Wert des Buches. Die Herausgeberin versammelt hier überdies neun Beiträge von Fachleuten, die die Thematik aus unterschiedlichen Blickwinkeln beleuchten. Behandelt wird nicht so sehr das Schriftsteller-Leben in Frankreich, sondern das Ende des Asyls. Schon bei Kriegsausbruch wurden die Schriftsteller, obwohl sie in Opposition zu Hitler standen, in Frankreich schlicht als ‘feindliche Ausländer’ eingestuft und interniert, so im berühmt gewordenen Ziegelwerk ‘ Les Milles’ in der Nähe von Aix-en-Provence, unter anderem auch Golo Mann, Max Ernst und Hans Bellmer. Mit dem Artikel 19.2 des Waffenstillstandsvertrags hatte sich Vichy-Frankreich verpflichtet, deutsche Staatsangehörige auf französischem Boden an das Reich auszuliefern. Damit wurde in Frankreich mit der seit dem 19. Jahrhundert geltenden Tradition gebrochen, politischen Emigranten Schutz zu gewähren. „Unholdes Frankreich“ lautete der bezeichnende Bericht Lion Feuchtwangers aus dem Jahre 1942. Als Ausweg blieb bloß mehr die Flucht nach Übersee, die nur möglich war, wenn Aus-, Durch- und Einreiseerlaubnisse vorlagen. Die prekäre Situation der Betroffenen hielt Anna Seghers eindrücklich in ihrem Buch Transit fest. 2 Betont wird in den Beiträgen zu Recht das mutige Wirken von Hilfswerken, allen voran des Emergency Rescue Committee mit dem Amerikaner Varian Fry, der über 600 Ausreisewilligen zur Flucht verhalf. Fry hatte im August 1940 in Marseille das Centre américain de secours aufgebaut und wirkte dort, bis er im September 1942 von Vichy-Frankreich ausgewiesen wurde. 3 Er starb 1967 in den USA vergessen und verbittert. Das Ehepaar Hans und Lisa Fithko geleitete zusammen mit dem 40 Discussion Bürgermeister von Banyuls, Azéma, viele Flüchtlinge über einen eigenen Fluchtweg über die Pyrenäen. Für Walter Hasenclever und Walter Benjamin wurde die Gefährdung zu groß - sie wählten den Freitod. Wenn die meisten Beiträge des Bandes präzise und immer sehr leserfreundlich die historische Situation rekonstruieren (wobei gewisse Überschneidungen offenbar nicht zu vermeiden waren), wird in zwei Artikeln auch der spezifische Niederschlag der Exil- und Flüchtlingssituation in den Texten analysiert: etwa die verlorene Heimat als Suchfigur oder Walter Benjamins Thesen über den Begriff der Geschichte vor dem Hintergrund der bitteren Exilerfahrung. Die Exilerfahrung von Jacques und André Schiffrin Die Exilerfahrung steht auch im Mittelpunkt des Rückblicks des Verlegers André Schiffrin Allers-retours. Paris - New York, un itinéraire politique. 4 In den Vordergrund gerückt wird zunächst sein Vater, der 1892 im damals russischen Baku geboren wurde und dann in Frankreich nach dem Ersten Weltkrieg Asyl fand. Er hatte während des Ersten Weltkrieges in Genf Recht studiert und konnte danach nicht mehr nach Russland zurückkehren, wo das petrochemische Familienunternehmen verstaatlicht worden war. Er ließ sich 1922 in Paris nieder und wurde dort verlegerisch tätig. 1925 gründete er einen eigenen Verlag, les Editions de la Pléiade/ J. Schiffrin & Cie. Ein wichtiges Anliegen war ihm die Vermittlung russischer Literatur. Schon 1923 hatte er zusammen mit Gide und Boris de Schloezer Puschkins Dame de pique übersetzt. In seinem Verlag erschienen dann in einer eigenen Reihe ‘Les auteurs classiques russes’ Dostoiewski, Gogol, Tolstoi, Laskov und andere. Schiffrin edierte auch illustrierte Luxusausgaben von Werken von Valéry, Gide und Julien Green, und Charles du Bos leitete in seinem Verlag eine eigene Reihe ‘Ecrits intimes’. Der nachhaltigste Erfolg war aber eine Reihe, die Klassiker-Ausgaben in einem eleganten Taschenformat vorlegen sollte: die ‘Bibliothèque reliée de la Pléiade’. Im September 1931 erschien in dieser Reihe als erster Band Œuvres von Baudelaire. Zwölf weitere Bände folgten. Der finanzielle Aufwand wurde zu groß und Jacques Schiffrin suchte einen Verlagspartner. Gide konnte Gallimard nach langem Insistieren überzeugen, die ‘Bibliothèque de la Pléiade’ zu übernehmen, die später zu einem eigentlichen Markenzeichen des Hauses wurde. 5 Ab 1933 gab Schiffrin seinen Verlag auf, um im Verlag Gallimard die Pléiade-Reihe und zwei andere Bereiche zu leiten. Seit 1922 war Schiffrin mit Gide freundschaftlich verbunden. Vor kurzem wurde auch der Briefwechsel der beiden veröffentlicht. Gide beharrte auch darauf, dass Schiffrin, der fließend Russisch sprach, ihn bei seiner Russlandreise begleitete, obwohl die sowjetischen Behörden der Präsenz eines Emigranten sehr skeptisch gegenüberstanden. Im Briefwechsel findet sich dann auch ein intensiver Austausch über Gides Projekt Retour de l’URSS. Mit der Besetzung von Paris durch die Deutschen wurde die Wohnung der Schiffrins - 1935 kam ihr Sohn André zur Welt - requiriert, und sie waren gezwun- 41 Discussion gen unter einer falschen Identität in Südfrankreich zu leben. Da Schiffrin und seine Frau jüdischen Ursprungs waren, waren sie besonders gefährdet. Auf Geheiß von Abetz wurde das Haus Gallimard ‘arianisiert’ und Gaston Gallimard kündigte im August 1940 Schiffrin, dem er seine berühmteste Reihe zu verdanken hatte. 6 Jacques Schiffrin machte sich über die Folgen des Antisemitismus im besetzten Frankreich keine Illusionen und bemühte sich nun um die Ausreise nach Amerika. In den Briefen Schiffrins und im Bericht seines Sohnes wird offensichtlich, wie äußerst schwierig die zahlreichen Formalitäten waren, um Ausreisepapiere zu erhalten. Gide intervenierte bei Varian Fry, um die Ausreise von Schiffrin zu ermöglichen. André Schiffrin würdigt in seinem Buch mit warmherzigen Worten Frys Wirken. Wenn Schiffrin in Gides Tagebuch gewisse antisemitische Vorurteile monierte, 7 so wuchs der Schriftsteller in seiner Beziehung zu Schiffrin über diese Vorstellungen hinaus und zeigte sich äußerst großzügig. Er ermöglichte finanziell die Ausreise, vermittelte für die Familie die Wohnung eines Freundes in Casablanca und ersparte ihnen so das Warten in einem Internierungslager. André Schiffrin berichtet in seinen Erinnerungen indes, wie demütigend der Abschied von Frankreich Anfang 1940 war: „Le départ de France n’aurait pas pu être plus humiliant, même si c’était un immense soulagement pour tous de partir enfin. Ma mère n’en a parlé que bien plus tard, mais elle a été très ébranlée par les cris de ‘sales youpins’ que nous ont lancés les dockers quand notre bateau a quitté Marseille. Une telle trahison de la part de nos concitoyens semblait impensable et profondément blessante.“ 8 Nach seiner Ankunft in New York im August 1941 war Schiffrin wiederum verlegerisch tätig, ab 1944 im Rahmen von Pantheon Books. Hier kümmerte er sich um die Verbreitung der französischen Literatur, die ihm so am Herzen lag; er publizierte Saint-Exupéry und noch während des Krieges Vercors Silence de la mer, aber auch Gide, Maritain und Malraux. „Les livres ont joué un rôle symbolique en démontrant que la France ne se limitait pas à la lâcheté et à la complicité de Vichy“. 9 Erst aus den Briefen an Gide konnte der Sohn ermessen, wie traurig der Vater fern von der geliebten kulturellen Welt Europas war. Hannah Arendt, mit der er in intensivem Kontakt stand, hatte auch seine Situation beschrieben, als sie in der Studie Der Jude als Paria ausführte, das Klagen sei ein Luxus, der dem Geflohenen untersagt sei, weil es ihm ja gelungen sei, der Hölle zu entkommen. Immerhin entstand in New York ein Verhältnis der Solidarität zwischen den Emigranten, die aus verschiedenen Ländern Europas stammten. So berichtet André Schiffrin von den intensiven Gesprächen in ihrem Hause zwischen seinen Eltern, Schapiro, Hannah Arendt und Hermann Broch, der dann auch die Grabrede auf Jacques Schiffrin halten sollte. 10 Dennoch war die Einsamkeit der Schiffrins groß, und er hegte den Wunsch, möglichst rasch nach dem Krieg nach Frankreich zurück zu kehren, währenddessen die meisten deutschen Emigranten - außer einigen prominenten Figuren der Frankfurter Schule - sich in Amerika integrierten. Doch war die Bibliothèque de la Pléiade bei Gallimard nun in anderen Händen, und überdies verhinderte eine Lungenkrankheit Jacques Schiffrins eine schnelle Rückkehr. 42 Discussion Der Sohn hatte sich aber schnell an Amerika angepasst und verfolgte mit großem Interesse das politische Leben der USA. Die Eltern, die zu Hause immer Französisch sprachen, wollten aber, dass er sich dem kulturellen Leben Frankreichs nicht völlig entfremdete und schickten ihn 1949 auf einem Kohlen-Schiff nach Europa, wo er in Paris vom Ehepaar Martin-Chauffier aufgenommen wurde. In Süd-Frankreich wurde er herzlich von Gide und Martin du Gard begrüßt. Der Sohn sollte eine Art Vorbote für die Rückkehr der Familie nach Frankreich sein. Dazu kam es aber nicht. Jacques Schiffrin starb 1950 unerwartet früh an den Folgen seines Lungenleidens. Sein Sohn blieb in den USA, studierte unter anderem in Cambridge und trat dann in die Fußstapfen seines Vaters, stand an der Spitze eines der prestigereichsten amerikanischen Verlagshäuser Pantheon Books, um dann 1991 ein eigenes Verlagshaus zu gründen The New Press. Seine Vertrautheit mit der französischen und der amerikanischen Kultur ermöglichte ihm, als Vermittler tätig zu sein; er publizierte in den USA insbesondere Foucault, Sartre, Duras. Er blieb aber auch ein wacher Beobachter der amerikanischen Verlagsszene, deren wachsende Ökonomisierung er 1999 in seinem Buch L’édition sans éditeurs denunzierte. Hélène Berrs Tagebuch im besetzten Frankreich Wenn es den Emigranten, die ihr Land verließen, gelang, ein sicheres Asyl zu finden, so war doch diese erzwungene Situation meist alles andere als erfreulich. Das wird in ihren Erinnerungen und in ihren Briefen, die oft erst heute zugänglich sind, sichtbar. Diejenigen, die der Verfolgung nicht entgehen konnten, hinterließen oft keine Spuren. Die Auslöschung aller Spuren jüdischer Existenz war das erklärte Ziel der Nationalsozialisten. Patrick Modiano hat in seinem Buch Dora Bruder in ergreifender Weise seine - letztlich erfolglose - Spurensuche nachgezeichnet; letztlich ist es ihm nur möglich, mit literarischen Mitteln - mit seiner Vorstellungskraft - das mögliche oder wahrscheinliche Schicksal des jüdischen Mädchens zu beschwören. 11 Patrick Modiano berichtete unlängst von einer anderen Entdeckung, einem Tagebuch, das ein jüdisches Mädchen, Hélène Berr, von April 1942 bis zu seiner Festnahme im Februar 1944 führte 12 - ein Text, der ihn so sehr bewegt hatte, dass er ihn unbedingt einleiten wollte. Hélène Berr schrieb das Tagebuch für ihren Verlobten, Jean Morawiecki, den sie an der Sorbonne kennen gelernt hatte und der im November 1942 Paris verließ, um sich in Nordafrika den freifranzösischen Truppen anzuschließen. Er engagierte sich später im diplomatischen Dienst; er vermachte das Manuskript des Tagebuchs der Nichte von Hélène Berr, die es 2002 dem Centre de Documentation Juive Contemporaine übergab. Nunmehr ist der Text auch als Buch greifbar. Die 1921 als zweitjüngstes Kind geborene Hélène Berr hatte 1938 mit glanzvollem Resultat die Hochschulreife erreicht und studierte an der Sorbonne Anglistik, 43 Discussion dachte an ein Dissertationsprojekt über den Einfluss der griechischen Literatur auf Keats. Warum sie ihr Tagebuch begann, wird nicht offensichtlich. Der erste Eintrag Anfang April 1942 beginnt mit einem markanten Ereignis. Die Tagebuchschreiberin kann bei Valéry ein Buch mit einer Widmung des Dichters abholen: „Au réveil, si douce la lumière, et si beau ce bleu vivant.“ 13 Die Worte fassen das Lebensgefühl der jungen Studentin zusammen, die aus einer kultivierten, begüterten Familie stammt, die Literatur studiert, Musik liebt und spielt. Das Quartier latin erscheint ihr wie eine verzauberter Bereich; mit großer Begeisterung folgt sie den Vorlesungen über englische Literatur an der Sorbonne. Im Tagebuch glücken ihr immer wieder stimmige Beschreibungen der Pariser Viertel, die sie abschreitet und der atmosphärischen Nuancen. Fast hat man das Gefühl, der Krieg werde im Kontext dieses ‘normalen’ Lebens in Paris nicht wahrgenommen. Die Tage in der Hauptstadt wechseln mit Wochenenden im Landhaus in der Region, in Aubergenville, die ihr ein starkes Glücksgefühl vermitteln: „J’ai retrouvé“, so schreibt sie an einem Samstag im April 42, „les sensations de l’été dernier, fraîches et neuves, qui m’attendaient comme des amies. Le foudroiement de lumière qui émane du potager, l’allégresse qui accompagne la montée triomphante dans le soleil matinal, la joie à chaque instant renouvelée d’une découverte, le parfum subtil des buis en fleurs, le bourdonnement des abeilles, l’apparition soudaine d’un papillon au vol hésitant et un peu ivre. Tout cela, je le reconnais avec une joie singulière.“ 14 Doch bald schon wirft der Krieg seinen Schatten auf diese glückliche Idylle. Als sie nach einer Vorlesung im Jardin du Luxembourg mit einem Kommilitonen spazieren geht, ist sie zunächst fasziniert vom Spiel der Sonne auf dem Wasser des Teichs im Park; der Mitstudent meint dann, die Deutschen würden den Krieg gewinnen und das würde wenig an ihrem Leben ändern. Von der Schönheit des Augenblicks gepackt erscheint ihr ein Disput nichtig. Dann rafft sie sich auf und entgegnet: „ ‘ Mais ils [les Allemands] ne laissent pas tout le monde jouir de la lumière et de l’eau! ’ Heureusement, cette phrase me sauvait, je ne voulais pas être lâche.“ 15 Das Leiden, die Ausgrenzung beginnen im Juni 1942, als sie erfährt, dass die deutschen Behörden jüdische Personen ab sechs Jahren verpflichten, den gelben Stern zu tragen. Die junge Frau ist entschlossen, das Abzeichen nicht zu tragen, das sie als Gemeinheit empfindet und als Ausdruck des Gehorsams den Deutschen gegenüber. Dann aber findet sie, diese Verweigerung sei eine Feigheit gegenüber den anderen, die den gelben Stern tragen; sie will ihn auch tragen, aber stets mit einer entschiedenen Haltung. Die ganze Paradoxie des Lebens an einem schönen Sommertag, der einhergeht mit der rassischen Diskriminierung, hält sie so in ihrem Tagebuch fest: „Il fait un temps radieux, très frais [...] un matin comme celui de Paul Valéry. Le premier jour aussi où je vais porter l’étoile jaune. Ce sont les deux aspects de la vie actuelle: la fraîcheur, la beauté, la jeunesse de la vie, incarnée par cette matinée limpide; la barbarie et le mal représentés par cette étoile jaune.“ 16 Sie beschreibt dann genau die Reaktionen ihr gegenüber, in der Métro, auf der Straße; einige wenden den Blick ab; kleine Mädchen zeigen mit Fingern auf sie; keine der Kommilitoninnen versteht ihr Leiden; aber andere, oft auch 44 Discussion einfache Leute, bringen mit einem Lächeln ihre Solidarität zum Ausdruck; Reaktionen von Bekannten zeugen von freundschaftlicher Verbundenheit. Das Leben erscheint ihr so gleichzeitig als „étrangement sordide et étrangement belle“. 17 Die sehr präzisen Einträge der jungen jüdischen Studentin lassen den Leser von heute nachvollziehen, wie unendlich demütigend das Leben für die so Stigmatisierten in jedem Augenblick wurde. Man wird sich bewusst, dass die Ausgrenzung durch diese Markierung nicht eine partielle Maßnahme war, dass hier eine Grenze überschritten, die Menschenwürde verletzt, ein Prozess in Gang gesetzt wurde, der mit der Vernichtung endete. Hélène Berr bekam die Ingangsetzung dieses mörderischen Räderwerks noch im selben Monat mit. Am 24. Juni 1942 wurde ihr Vater, der Vizedirektor des wichtigen Chemie-Unternehmens Kuhlmann war, festgenommen von der französischen Polizei und der Gestapo und dann ans Internierungslager Drancy überstellt. Sie aber will das alles festhalten; dem Tagebuch kommt so die neue, wichtige Funktion der Zeugenschaft zu: „Je voulais écrire ceci, hier soir [...]. Ce matin, je me force à le faire, parce que je veux me souvenir de tout.“ 18 Sie erfährt nun die ganze Willkür des Systems. Für ihren Vater, der für seine militärischen Verdienste im Ersten Weltkrieg mit der Ehrenlegion ausgezeichnet worden war, hätten die anti-jüdischen Maßnahmen gar nicht angewandt werden dürfen. Nun wurde er wegen einer Lappalie - er hatte den Judenstern nicht annähen, sondern bloß anheften lassen - wie ein Verbrecher behandelt. Hélène sieht so im Polizeikommissariat eine Situation, die sie aus Dostojewskis Schuld und Sühne kannte. Der Vater soll freigelassen werden, wenn er sich bereit erklärt zu emigrieren. Die Tochter durchschaut das Kalkül in luzider Weise. Die Nazis wollen keine Helden, sondern ihre Opfer demütigen: „En échange de Papa, ils nous prennent ce que nous estimons le plus: notre fierté, notre dignité, notre esprit de résistance. Non lâcheté.“ 19 Die junge Studentin ist nicht bereit, die Augen zu schließen; sie will nicht nur alles festhalten. Sie engagiert sich im Juli 42 bei der vor einem Jahr gegründeten Union Générale des Israélites en France (UGF), die den Familien internierter Juden hilft, als freiwillige Sozialhelferin. Gleichzeitig stellt sie fest, wie die Ausgrenzungsmechanismen gegen die Juden immer drastischer werden. Die Champs Elysées, die Theatersäle, die Restaurants sind ihnen untersagt; einkaufen dürfen sie bloß mehr zwischen 15 und 16 Uhr. Hélène hält hier auch den Ton dieser Maßnahme, die von den deutschen Besatzern am 9. Juli erlassen wurde, genau fest. Die Bürokratensprache kaschiert die Ungeheuerlichkeit der Diskriminierung: „La nouvelle est rédigée d’un ton naturel et hypocrite, comme si c’était un fait acquis, reconnu comme une nécessité et un droit.“ 20 Gleichzeitig sieht sie darin schon die Vorboten der Tragödie: „quelque chose se prépare, quelque chose qui sera une tragédie, la tragédie peut-être.“ 21 Die Katastrophe wird die Razzia des Vélodrome d’Hiver vom 16./ 17. Juli 42 sein, als die französische Polizei auf einen Schlag über 12.000 Juden festnimmt. Auch hier wieder erinnert sie sich an die Pflicht zur Zeugenschaft: „Je note les faits, hâtivement, pour ne pas oublier, parce qu’il ne faut pas oublier [...] Je veux rester encore, pour connaître à fond ce qui s’est passé 45 Discussion cette semaine, je le veux pour pouvoir prêcher et secouer les indifférents.“ 22 Gleichzeitig hält sie auch die Äußerungen der Solidarität in diesem feindlichen Kontext fest: „Le peuple est admirable [...] Et puis il y a la sympathie des gens dans la rue, dans le métro. Il y a le bon regard des hommes et des femmes, qui vous remplit le cœur d’un sentiment inexprimable. Il y a la conscience d’être supérieur aux brutes qui nous font souffrir, et d’être unis avec les vrais hommes et les vraies femmes. Plus les malheurs s’amassent, plus ce lien s’approfondit.“ 23 In dieser Zeit der ständigen Gefährdung kommt der Freundschaft eine ganz neue Qualität zu: „Les amitiés qui se sont nouées ici, cette année, seront empreintes d’une sincérité, d’une profondeur et d’une espèce de tendresse grave que personne ne pourra jamais connaître. C’est un pacte secret, scellé dans la lutte et les épreuves.“ 24 Während neun Monaten hat Hélène die Einträge in ihrem Tagebuch unterbrochen, um dann im August 1943 fortzufahren. Sie fasst dann das inzwischen Geschehene kurz zusammen: ihr Freund ist nach Spanien aufgebrochen, um zu den freifranzösischen Streitkräften zu gelangen. Fast alle Mitarbeiterinnen der jüdischen Hilfsorganisation, in der sie arbeitete, wurden verhaftet. „Les raisons d’espérer sont immenses“, schreibt sie dennoch im August 43, um dann fortzufahren: „Mais je suis devenue très grave, et je ne peux pas oublier les souffrances.“ 25 Immer wieder finden sich Überlegungen zur Funktion des Tagebuches, das bloß durch den nüchternen Sachbezug geprägt und nicht durch den Gedanken an mögliche Leser orientiert sein soll. „Ecrire, et écrire comme je le veux, c’est-à-dire avec une sincérité complète, en ne pensant jamais que d’autres liront, afin de ne pas fausser son attitude, écrire toute la réalité et les choses tragiques que nous vivons en leur donnant toute leur gravité nue sans déformer par les mots, c’est une tâche très difficile et qui exige un effort constant.“ 26 Angesichts der Mutlosigkeit und des Zweifels am Sinn ihrer Tagebuch-Aufzeichnungen erinnert sich Hélène an die Pflicht, vor allem auch eingedenk der Tatsache, dass die anderen es nicht wissen oder nicht wissen wollen, welches Leid Menschen angetan wird: „Il faudrait donc que j’écrive pour pouvoir plus tard montrer aux hommes ce qu’a été cette époque [...] Tout ce que je peux faire, c’est de noter les faits ici, qui aideront plus tard ma mémoire [...]“ 27 Was Hélène immer wieder beschäftigt, das ist das Unverständnis der anderen; zu schnell reduzieren sie die Verfolgung auf Einzelfälle oder äusserten bloss Mitleid. Gerade einzelne Christen reagierten mit einem Mitleid, das letztlich Ausdruck eines herablassenden Überlegenheitsgefühls sei. Was gefordert sei, das sei viel mehr: das Verstehen: „Ce n’est pas la pitié qu’ils doivent donner, c’est la compréhension qui leur fera sentir toute la profondeur, l’irréductibilité de la souffrance des autres, la monstrueuse injustice de ces traitements et les révoltera.“ 28 Nach der Lektüre des Epilogs von Martin du Gards Les Thibault stellte sich auch die Frage nach dem Erstarren lebendiger Erfahrungen, wenn diese zur ‘Geschichte’ werden.: „En ce moment, nous vivons l’histoire. Ceux qui la réduiront en paroles […] pourront bien faire les fiers. Sauront-ils ce qu’une ligne de leur exposé recou- 46 Discussion vre de souffrances individuelles? Ce qu’il y a eu, en dessous, de vie palpitante, de larmes, de sang, d’anxiété? “ 29 Gerade ihr, der Zwanzigjährigen, der im Prinzip das Leben mit seinen Verheißungen offen steht, wird bewusst, dass es angesichts einer Situation, wo überall Gefahr lauert, besonders schwierig ist, kühlen Kopf zu wahren und sie fragt sich, ob sich künftige Generationen dessen bewusst werden: „Beaucoup de gens se rendront-ils compte de ce que cela aura été que d’avoir 20 ans dans cette effroyable tourmente, l’âge où l’on est prêt à accueillir la beauté de la vie, où l’on est tout prêt à donner sa confiance aux hommes? Se rendront-ils compte du mérite [...] qu’il y aura eu à conserver un jugement impartial et une douceur de cœur à travers ce cauchemar? “ 30 Immer mehr muss sie feststellen, dass sich im Kontext der Besatzung und der Verfolgung ein moralisches Bewusstsein verliert, dass immer mehr Leute von diesem Geist angesteckt werden. Dass die Polizei ein Zweijähriges seiner Amme entreißt, um es zu internieren, dass die Polizei in einem Waisenhaus sechzehn Kinder im Alter von fünf bis dreizehn Jahren aufspürt, um einen Deportations-Zug voll zu machen, entrüstet sie zutiefst; noch mehr aber entrüstet sie sich darüber, dass sich so wenige entrüsten und ein Polizist sich mit dem Hinweis auf die Pflichterfüllung glaubt rechtfertigen zu können: „qu’on soit arrivé à concevoir le devoir comme une chose indépendante de la conscience, indépendante de la justice, de la bonté, de la charité, c’est la preuve de l’inanité de notre prétendue civilisation.“ 31 Gleichzeitig hebt sie den totalen Irrationalismus der Maßnahmen der Nationalsozialisten hervor, die die Deportationen als Vorkehrungen ausgaben, um Arbeitskräfte zu gewinnen. Warum dann kleine Kinder und alte Frauen deportieren? „La monstrueuse incompréhensibilité, l’horrible illogisme de tout cela vous torture l’esprit. Il n’y a sans doute pas à réfléchir, car les Allemands ne cherchant même pas de raison, ou d’utilité. Ils ont un but, exterminer.“ 32 Die Aufgabe des kritischen Geistes, des individuellen Denkens steht für sie am Anfang der nationalsozialistischen Untaten: „Et puis ils ne pensent pas, j’en reviens à cela, je crois que c’est la base du mal; et la force sur laquelle s’appuie ce régime. Annihiler la pensée personnelle, la réaction de la conscience individuelle, tel est le premier pas du nazisme.“ 33 Sie argumentiert allerdings nicht bloß auf der intellektuellen Ebene, wenn sie den Sieg des Irrationalen über das kritische Denken feststellt, sondern auch auf einer moralischen: „Quel triomphe du mal sur le bien.“ 34 „Pourquoi Dieu a-t-il implanté en l’homme le pouvoir de faire le mal, et le pouvoir d’espérer toujours un affranchissement de l’humanité? “, 35 fragt sie sich im Anschluss an einen Vers von Shelley. Auch bei Tolstoi hatte sie nach den „raisons de tout ce mal“ gefragt. Gleichzeitig erscheint es ihr als Pflicht, dem unsagbaren Leiden eines jeden einzelnen Verfolgten gerecht zu werden. In Tolstois Résurrection sind die Erfahrung der Verfolgung und der Deportation übersetzt. Dieses Zeugnis ist notwendig in einer Zeit, wo die Verfolgten einsam sind und gerade die Verfolgung eine Barriere aufrichtet und ihre Erfahrung nicht mehr vermittelbar macht. In ihrer letzten Tagebucheintragung von Februar 1944 spürt man, wie sehr sich der Horizont inzwischen verfinstert hat: 47 Discussion „Maintenant, le tragique est devenu uniformément sombre, la tension nerveuse constante. Tout n’est que grisaille, et incessant souci, d’une monotonie de l’angoisse.“ 36 Am 7. März 1944 wurde Hélène Berr zusammen mit ihren Eltern verhaftet und am 27. März, an ihrem 23. Geburtstag, nach Auschwitz deportiert. Im Januar 1945 überstand sie nach der Evakuierung von Auschwitz den Todesmarsch nach Bergen-Belsen, wo sie Anfang April 1945 einer Typhuserkrankung erlag. Dafür, dass nun mehr als sechzig Jahre später ihr Tagebuch veröffentlicht wurde, kann man nur dankbar sein. Die Reife, die Hellsichtigkeit der jungen Frau bewundert man ohne jede Einschränkung, aber auch die literarische Qualität ihrer Aufzeichnungen, in denen sie sich immer wieder auf englische Autoren, aber auch auf russische und französische bezieht. „Elle est imprégnée par la poésie et la littérature anglaise et elle serait sans doute devenue un écrivain de la délicatesse de Katherine Mansfield“, schreibt Patrick Modiano in seinem Vorwort, 37 um dann zu schließen: „Au seuil de ce livre, il faut se taire maintenant, écouter la voix d’Hélène et marcher à ses côtés. Une voix et une présence qui nous accompagneront toute notre vie.“ 38 Erinnerung an Auschwitz: Jean Samuel und Primo Levi Fast gleichzeitig wie das Tagebuch von Hélène Berr erschien das Zeugnis von Jean Samuel, der Auschwitz überlebt hatte. 39 Jean Samuel berichtet, wie er 1990 einem von Tzvetan Todorov organisierten Abend beiwohnte, der dem Werk Primo Levis galt. Nach der Diskussion hätte ihn eine junge Frau angesprochen, die ihn nach ihrem Großvater fragte, der in Auschwitz umgebracht wurde. Es handelte sich um Raymond Berr, den bekannten Chemiker und Industriellen, den Vater von Hélène Berr. Bei einem Gespräch bei der Schwester von Hélène erfuhr er von ihr: „La jeune fille était, m’a-t-on dit, étudiante à la Sorbonne, mais aussi une violoniste prometteuse qui avait laissé un journal des années de guerre, une œuvre magnifique que la famille a conservée et dont on m’a offert un exemplaire.“ 40 Jean Samuel lebt in Strassburg. Im Rahmen eines Seminars über die Literatur und die Erinnerung an die Shoah im WS 1999/ 2000 besuchten wir das KZ Struthof und begegneten dann Jean Samuel, der über zwei Stunden vor den Studenten von seiner Zeit in Auschwitz sprach, mit bewundernswerter Gelassenheit. Auf die Frage, warum er all das nicht niederschreibe, antwortete er, er misstraue seinem Gedächtnis, das das Erfahrene verändern könne. Die Gefahr bestehe dann, dass Negationisten solche Unstimmigkeiten ausschlachteten. Nun hat Jean Samuel seine Erfahrungen - zum Glück - niedergeschrieben, in Zusammenarbeit mit einem jungen elsässischen Historiker, Jean-Marc Dreyfus. Es handelt sich hier um ein Zeugnis aus dem Rückblick, das auch die Veränderungen der Erfahrungen durch die Gedächtnisarbeit thematisiert, während das Tagebuch möglichst zeitnah die unmittelbare Gegenwart festzuhalten sucht. Hélène Berr und Jean Samuel zählten zur selben Generation; Jean Samuel war nur ein Jahr jünger. Während Hélène sich in dieser so bedrängenden Zeit auf die 48 Discussion Musik und die Literatur stützt, so sind es bei Jean Samuel, der Pharmazie studierte, die Naturwissenschaften, vor allem die Mathematik. In Auschwitz suchte er der permanenten Erniedrigung standzuhalten durch die intellektuelle Aktivität, durch die Reflexion über mathematische Probleme, über die er mit anderen Naturwissenschaftlern diskutierte. 41 Was aber Jean Samuel noch mehr bewegte, das waren seine Begegnung mit Primo Levi im Lager Auschwitz III-Monowitz und die darauf folgende lebenslange Freundschaft. Aus einer elsässischen Apothekerfamilie stammend, war er zusammen mit seinen Angehörigen 1943 nach Süd-West- Frankreich geflohen. Im März 1944 wurde die ganze Familie, die im Kontakt zur Résistance stand, von der Gestapo verhaftet und nach Auschwitz deportiert. Weil Jean Samuel Pharmazie studiert hatte, wurde er dem Chemie-Kommando zugeteilt. Als Jüngster musste er die Aufgabe des Gehilfen des Kapos übernehmen. Primo Levi war kurz zuvor demselben Kommando zugeteilt worden; er gab Jean Samuel, dem Kapo-Gehilfen, den Namen ‘Pikolo’, ein Wort, das in der Lager-Sprache nicht vorkam und das als persönliche Wortschöpfung Primo Levis menschliche Sympathie in einer unmenschlichen Welt zum Ausdruck brachte. Primo Levi hat in einem zentralen Kapitel von Se questo è un uomo seine Erinnerung an Jean Samuel festgehalten „Jean était un Pikolo exceptionnel. Il joignait à la ruse et à la force physique des manières affables et amicales: tout en menant avec courage et ténacité son combat personnel et secret contre le camp et contre la mort, il ne manquait pas d’entretenir des rapports humains avec ses camarades moins privilégiés; et de plus il avait été assez habile et persévérant pour gagner la confiance d’Alex, le Kapo.“ 42 Als Primo Levi im Lager zusammen mit Jean zum Essenholen eingeteilt wird, bittet ihn dieser, ihm jeweils auf dem Weg Italienisch beizubringen. Primo Levi zitiert ihm aus dem Gedächtnis lange Passagen aus dem ‘Inferno’ von Dantes Commedia Divina, Verse, die wie kaum ein anderes Werk dem Unheil standhalten konnten. Jean Samuel erwähnt hier die zentralen Verse Dantes, die eine radikale Negation der Welt des Konzentrationslagers darstellen: Considerate la vostra semenza Fatti non foste a viver come bruti Ma per seguir virtute et conoscenza/ Considérez quelle est votre origine Vous n’avez pas été faits pour vivre comme des brutes Mais pour ensuivre et science et vertu.“43 Jean Samuel beschreibt in seinem Buch die zahllosen Erniedrigungen, die sie im Lager tagtäglich erleiden mussten, der Willkür der SS ausgeliefert, die in jedem Augenblick in ihrer angemaßten Allmacht über Leben und Tod entscheiden konnten. Er beschreibt, wie sie im Januar 1945 in ein Zeltlager eingewiesen wurden und auch die Zivilbevölkerung nicht die geringste Solidarität zeigte: „Nous longions un village. On n’y voyait que des femmes et des enfants, des visages fermés, des yeux qui ne nous voyaient pas, qui se détournaient sur notre passage. Nous étions devant eux comme des criminels, des bagnards qu’on n’ose pas regarder. Nous 49 Discussion étions transparents, n’existions plus. Cela a été une épreuve horrible. C’était aussi dur à supporter que le froid ou le soif.“ 44 Alle männlichen Mitglieder der Familie von Jean Samuel, sein Vater, sein Onkel, sein Bruder fanden den Tod in Auschwitz. 45 Er überlebte allein den Todesmarsch nach Buchenwald. Nach der Rückkehr übernahm er dann die Apotheke seines Vaters im elsässischen Wasselonne. Schon 1946 trat er wieder in Kontakt mit Primo Levi, mit dem er bis zu dessen Tod in Freundschaft verbunden blieb - zahlreiche im Buch abgedruckte Briefe sind ein beredtes Zeugnis dieser Verbundenheit. Aber auch im Kontakt mit anderen Überlebenden suchten sie die Erinnerung an das Geschehene wach zu halten. Dies ist vor allem das primäre Anliegen Primo Levis, der 1957 mit Se questo é un uomo ein bleibendes Zeugnis ablegte, in dem sich die Überlebenden wiederfanden. „J’ai fait vœu de ne jamais oublier ça, je me le répète tous les jours comme une prière.“, 46 schrieb Primo Levi in einem Brief an Jean Samuel, der die Konzentrations- und Vernichtungsrealität als „l’expérience humaine la plus absolue que le XX e siècle, et d’autres siècles sûrement, ait eu à connaître“ 47 bezeichnet. Jean Samuel berichtet aber auch von der Solidarität unter den Häftlingen, etwa wenn er beschreibt, wie er und ein Kamerad anlässlich eines Gedenktages sich gegenseitig etwas vom Mund Abgespartes schenkten: „[Le geste] était d’une gravité mémorable. Dans les conditions où nous vivions, il était la marque d’une immense confiance mutuelle; il prouvait que, même dans cet enfer, l’homme peut rester un frère pour l’homme.“ 48 In seinen Augen war es wichtig, auch diesen Aspekt festzuhalten. So schrieb er 1946 in einem Brief an Primo Levi: „Il s’agit pas seulement de montrer le côté monstrueux de la vie du camp, il faudrait surtout dépeindre les efforts que nous avons faits pour résister à la tentation de nous transformer en bêtes tout court, pour rester des hommes et même des hommes pensants.“ 49 Als viel später Jean Samuel die Gelassenheit gefunden hat, um von seiner Auschwitz-Erfahrung vor der jüdischen Gemeinde seines Heimatortes zu sprechen, fragt er sich, warum er diese Schrecken überleben konnte, und versucht dann eine Antwort: „Vivre le quotidien sans relâche, refuser le passé et l’avenir, et surtout rester humain, ne pas devenir ‘bête’ ou ‘brute’ comme le souhaitaient nos bourreaux.“ 50 Simone Veils Lebensrückblick Gleichzeitig mit Jean Samuels Rückblick veröffentlichte auch Simone Veil ihre Memoiren. 51 Simone Veil ist zweifellos eine der populärsten, aber auch der charismatischsten Persönlichkeiten der politischen Szene Frankreichs. Sie verdankt diese Resonanz, die weit über ihr Land hinausgeht, ihrer unbeirrbaren Treue zu bestimmten Prinzipien, aber auch ihrem unabhängigen Urteil, das sie keiner Partei- Räson unterstellt. Jetzt, nachdem sie achtzig geworden ist und kein öffentliches Amt mehr bekleidet, blickt sie zurück auf ihr Leben und legt unter dem schlichten Titel Une vie ihren Rückblick vor, der in Frankreich als ein Ereignis wahrgenom- 50 Discussion men wurde. Wenn Simone Veil als Rednerin in der Öffentlichkeit präsent war, so hatte sie bisher noch nicht ihren Lebensweg beschrieben. Sie tut dies in einer sehr persönlichen, unkomplizierten, erfahrungsgetränkten Art und Weise, die ihr einen breiten Leserkreis gesichert hat. Sie beginnt ihren Rückblick mit der Schilderung einer glücklichen Kindheit als jüngstes Kind einer bürgerlichen jüdischen Familie, die ihre Zugehörigkeit zur jüdischen Gemeinschaft nur kulturell, nicht aber religiös definierte. 52 Der Vater hatte sich als Architekt in Nizza niedergelassen, war relativ streng und erlaubte seiner Frau nicht, weiter berufstätig zu sein. Von der Mutter zeichnet sie ein sehr empfindsames Porträt, das von einer großen Verbundenheit mit ihr zeugt. Die Mutter kümmerte sich um deutsche Flüchtlinge, während der Vater, der im Ersten Weltkrieg als Kriegsgefangener in Deutschland war, deutschlandfeindlich eingestellt war. Über die Repressionen im nationalsozialistischen Deutschland erfuhr die Familie schon bald über den befreundeten jungen Raymond Aron. Mit den Rassengesetzen von Vichy - „ein Skandal im Land der Menschenrechte“ - konnte der Vater seinen Beruf nicht mehr ausüben. Die italienische Verwaltung in Nizza war aber den Juden gegenüber viel toleranter als Vichy-Frankreich. So fanden in Nizza über 30 000 Flüchtlinge Unterschlupf. Ab dem Sommer 1943 übernahm die Gestapo die Macht in Nizza und organisierte nun eine systematische Jagd auf die Juden. Die einzelnen Mitglieder der Familie Jacob - so der Name der Familie von Simone Veil - konnten gefälschte Identitätskarten erwerben und bei befreundeten Familien untertauchen. Trotzdem wurden alle Familienmitglieder, außer der ältesten Schwester, die sich dem Widerstand angeschlossen hatte, 1944 von der Gestapo aufgegriffen und in das Sammellager von Drancy überführt. Der Vater und der Bruder wurden nach Litauen deportiert, wo sich ihre Spuren für immer verloren. Am 15. April 1944 kam die sechzehnjährige Simone zusammen mit ihrer Mutter und ihrer Schwester im KZ Auschwitz an - „ein Datum, das ich nie vergessen werde zusammen mit dem Datum des 18. Januar 1945, dem Tag, an dem wir Auschwitz verließen.“ Man werde die Verantwortung der Vichy-Behörden, die bei der Endlösung Hand boten, nicht vergessen können. Simone Veil schließt aber in dieses Urteil nicht die gesamte Bevölkerung ein. Drei Viertel der französischen Juden konnten in Frankreich der Deportation entgehen, mehr als in jedem anderen besetzten Land. Darum widersetzte sie sich später als Ministerin der Ausstrahlung des Films Le chagrin et la pitié, weil er ein zu negatives Bild der Franzosen während der Besatzungszeit entwerfe. In Auschwitz erlebte sie gleich zu Beginn die unendliche Demütigung durch die Tätowierung, die jede Identität auslöschen sollte. Sie überlebte nur, weil sie sich älter ausgab, als sie war, aber auch wegen einer Aufseherin, einer ehemaligen polnischen Prostituierten, die ihr, ihrer Mutter und ihrer Schwester eine weniger erschöpfende Arbeit in einem Nebenlager zuwies; als sie nach dem Todesmarsch nach Dachau und dann nach Bergen-Belsen dort ankam, wies dieselbe Aufseherin sie dem Küchendienst zu, was sie vor dem Hungertod rettete. Die Haltung dieser Aufseherin, die dann von den Engländern gehängt wurde, bleibt der Autorin „ein 51 Discussion Geheimnis“, lässt sie vor allzu absoluten Urteilen zurückhalten. 53 In Bergen-Belsen aber starb auch die geliebte Mutter - wie Hélène Berr - an Typhus. In Bezug auf die Judenvernichtung lehnt Simone Veil die These Hannah Arendts von der Banalität des Bösen ab. Das bedeute, dass jeder zu solchen Gräueltaten fähig sei. Damit seien alle schuldig und gleichzeitig niemand. Damit verkenne man auch die großen Risiken, die ‘Gerechte’ eingegangen seien, um Juden zu retten. Die aus den Lagern Zurückgekehrten störten aber die französische Nachkriegsgesellschaft, die möglichst schnell die düsteren Vorkommnisse vergessen wollte. 54 Man feierte wohl die Leute aus dem Widerstand, die sich für eine Idee entschieden hatten, nicht aber die rassisch Verfolgten, die ihr Schicksal als Opfer nicht selber gewählt hatten. Die Vereinigung der Überlebenden von Auschwitz wurde indes völlig von den Kommunisten in einem politischen Sinne vereinnahmt. Das war die erste politische Erfahrung von Simone Veil, die sich entschieden einem stalinistischen Diktat widersetzte. Von ihrem Lebenswillen zeugte dann im Herbst 1946 die Heirat der 19-Jährigen mit ihrem Kommilitonen Antoine Veil, der ebenfalls aus einer nicht-religiösen jüdischen Familie stammte und wie sie Politische Wissenschaft studierte. Wenn sie sich in die Aufbruchstimmung eines neuen Frankreich einreihte, so fand sie doch, dass de Gaulle nach dem Krieg zu schnell unmittelbare Vergangenheit vergessen ließ und die Judenverfolgung kaum ansprach. Das junge Ehepaar lebte dann im Rahmen der französischen Besatzungsverwaltung in Deutschland, was für die KZ- Überlebenden kein Problem darstellte. Sie trat früh für die Idee einer europäischen Gemeinschaft ein und plädierte darum für eine schnelle und totale Versöhnung mit Deutschland, im Gegensatz zu den Gaullisten und Kommunisten, die beide Europa-skeptisch eingestellt waren. Nach dem Jurastudium gedachte sie als Anwältin tätig zu werden, was ihrem Mann nicht so genehm war; so einigte man sich auf eine Richterlaufbahn. In diesem Kontext kümmerte sie sich als Mitarbeiterin des Justizministeriums intensiv um die Verhältnisse in den Gefängnissen. Als Chirac unter Giscard Premier-Minister wurde, betraute er sie - sie war die einzige Frau im Kabinett - mit dem Gesundheitsministerium. Sie spricht in ihren Memoiren auch aus, was sie an Chirac faszinierte: seine unglaubliche Energie, aber auch seine Umgänglichkeit. Giscard betraute sie gleich mit der Reform des Abtreibungsgesetzes, das noch aus dem Jahre 1920 stammte. Der Name von Simone Veil bleibt mit diesem neuen Gesetz verbunden, das ihr auch Gegner, gerade in ihrem eigenen Lager, einbrachte. Giscard, dem sehr an der deutsch-französischen Aussöhnung lag, schlug sie dann 1979 als Präsidentin des Europa-Parlaments vor: als KZ-Überlebende sollte sie diese Versöhnung symbolisieren. Europa sollte dann während mehr als zwanzig Jahren im Zentrum ihrer politischen Tätigkeit stehen. Mit einer gewissen Desillusion stellte sie jedoch das geringe Europa-Engagement der französischen Politiker fest, im Unterschied zu den als Europa-skeptisch angesehenen Briten, die sich in Brüssel viel mehr für die Sache einsetzten. 52 Discussion Nach 1998 wurde Simone Veil in den französischen Verfassungsrat gewählt, was sie zu einer gewissen politischen Reserve zwang. Als Europa-Politikerin tätig kam sie mit den Großen der Welt in Kontakt - die Photos im Memoiren-Band belegen diese Begegnungen. Aufschlussreich sind ihre knappen aber klaren Einschätzungen der Staatsmänner und -frauen: Margaret Thatcher: „eine trockene, ziemlich harte Frau, die aber bestens ihre Dossiers kannte“. Bill Clinton: „Warmherzig, sympathisch und von großer Präsenz“. Hillary Clinton: „von brillanter Intelligenz kann sie sich mit vollendeter Leichtigkeit ausdrücken, indem sie die Argumente wirkungsvoll und einfach ausfaltet. Eine der politischen Frauen, die auf mich den größten Eindruck gemacht hat.“ Ganz positiv fällt ihr Urteil über Sarkozy aus, als Innenminister: „ein ebenso intelligenter wie lebhafter Mann, ein unermüdlicher Schaffer, außerordentlich vertraut mit seinen Dossiers“. Im Wahlkampf trat sie voll für ihn ein, selbst wenn sie die Idee eines Ministeriums der nationalen Identität nicht so toll fand und die vorgeschlagenen DNA-Tests bei der Überprüfung des Familiennachzugs ablehnte. Wie sehr aber die Erinnerung an Auschwitz für sie präsent ist, lässt sich auch daraus ablesen, dass bei den vier wichtigsten Reden, die im Anhang abgedruckt sind, eine in Auschwitz anlässlich der 60. Wiederkehr der Befreiung des Lagers gehalten wurde; die andere hielt sie als Präsidentin der ‘ Fondation pour la mémoire de la Shoah’ am 29. Januar 2007 vor der UNO: „Comme tous mes camarades, je considère comme un devoir d’expliquer inlassablement aux jeunes générations, aux opinions publiques de nos pays et aux responsables politiques, comment sont morts six millions de femmes et hommes, dont un million et demi d’enfants, simplement parce qu’ils étaient juifs [...] c’est dans un pays d’Europe, depuis longtemps admiré pour ses philosophes et ses musiciens, qu’il a été décidé de gazer et brûler des millions d’hommes, de femmes et d’enfants, dans des fours crématoires.“ 55 In ihrer Rede vor der UNO blieb Simone Veil aber nicht im Allgemeinen, sondern schilderte ganz konkret ihre persönliche Erfahrung: „Il faut que vous sachiez que, pour les anciens déportés, il n’y pas de jour où nous ne pensions à la Shoah. Plus encore que les coups, les chiens qui nous harcelaient, l’épuisement, la faim, le froid et le sommeil, ce sont les humiliations destinées à nous priver de toute dignité humaine qui, aujourd’hui encore, demeurent le pire dans nos mémoires.“ 56 Simone Veil kam dann auch auf die Massaker in Kambodscha, in Ruanda und in Darfour zu sprechen, auf die Gefahr eines Iran mit Atomwaffen, auf die Vertreter eines radikalen Islam, die zur Zerstörung Israels aufriefen, das zur Heimstatt der Überlebenden der Shoah geworden sei: „Ce nouveau négationnisme m’inquiète car il trouve un grand écho auprès d’esprits ignorants et fanatisés, et notamment, à cause des nouvelles technologies de communication, auprès des jeunes.“ 57 Aber schließlich erinnerte sie auch an die ‘Gerechten’, an die Tausenden von Frauen und Männer, die Juden vor der sicheren Deportation gerettet hatten: „Si j’évoque les Justes, c’est parce que je suis convaincue qu’il y aura toujours des hommes et des femmes, de toutes origines et dans tous les pays, capables du 53 Discussion meilleur. A l’exemple des Justes, je veux croire que la force morale et la conscience individuelle peuvent l’emporter.“ 58 1 Ruh Werfel (ed.): Gehetzt. Südfrankreich 1940. Deutsche Literaten im Exil. Verlag Neue Zürcher Zeitung, 2007, 231p. 2 Siehe dazu François Genton, „D’une patrie l’autre. L’Allemagne et la France dans Transit (1944)“, in: Maurice Godé und Michel Grunewald (eds.), La volonté de comprendre. Hommage à Roland Krebs. Bern, Peter Lang, 2005, 525-535. 3 Siehe dazu die sehr schöne Würdigung Varian Frys durch das Berliner Aktive Museum: Ohne zu zögern. Varian Frey: Berlin-Marseille-New York. Berlin, Aktives Museum, 2007, 493p., 1945 veröffentlichte Varian Fry seinen Bericht über seine Tätigkeit in Marseille unter dem Titel Surrender on Demand (deutsch 1986 Auslieferung auf Verlangen; französische Neuausgabe Livrer sur demande...Marseille, Agone, 2008) 4 André Schiffrin, Allers-retours. Paris - New York, un itinéraire politique. Paris, Liana Levi, 2007, 285 p.; deutsch: Paris, New York und zurück: Politische Lehrjahre eines Verlegers, übers. von Andrea Marenzeller. Berlin, Matthes & Seitz, 2010. 5 Siehe dazu „’Mon ami Schiffrin’, André Gide et la Pléiade“, La lettre de la Pléiade, n° 2, sept.-nov. 1999, 2-3. 6 Der Sohn, André Schiffrin, zeigt sich in seinem Buch relativ nachsichtig hinsichtlich der Haltung Gallimards: „Devant de telles attaques [des fascistes français], on imagine le soulagement de Gaston [Gallimard] quand on lui a offert la chance de continuer à publier, quitte à licencier certains de ses meilleurs employés et à laisser les Allemands s’emparer de sa revue vedette. Il faut reconnaître que plusieurs éditeurs se sont conduits de façon bien pire. Certains pronazis et antisémites enthousiastes ont publié des livres qui exprimaient leurs convictions. L’un s’est hâté de proposer de pilonner ses traductions de Heine avant même que les Allemands n’interdisent son œuvre. (André Schiffrin, Allers et retours, 70). 7 „Dans une lettre à un ami, Gide fait allusion aux manières ‘sémites’ de mon père. Même en apprenant sa mort de nombreuses années plus tard, Gide allait souligner qu’il avait été le seul Juif qu’il ait réellement aimé. Et dans la dernière lettre de leur correspondance retrouvée, mon père réprimande Gide sur ses commentaires antisémites à propos de la littérature.“ (Ibidem, 73). 8 Ibidem, 33-34. 9 Ibidem, 44. 10 Abgedruckt in André Gide/ Jacques Schiffrin, Correspondance 1922-1950. Paris, Gallimard, 2005, 347-349. 11 Siehe dazu auch Birgit Schlachter, Schreibweisen der Abwesenheit. Jüdisch-Französische Literatur nach der Shoah. Köln/ Weimar/ Wien, Böhlau, 2006, 195-247; Susan Rubin Suleiman, „’Oneself as Another: Identification and Mourning in Patrick Modiano’s Dora Bruder“, Studies in the 20th and 21st Century Literature, vol. 31, Nr. 2, Summer 2007, 325-350; Joseph Jurt, „La mémoire de la Shoah: Dora Bruder“, in John E. Flower (ed.), Patrick Modiano. Amsterdam, Rodopi, 2007, 89-108. 12 Hélène Berr, Journal 1942-1944. Préface de Patrick Modiano. Paris, Tallandier, 2008, 303p.; deutsch: Pariser Tagebuch: 1942-1944, übers. von Elisabeth Edl. München, Hanser, 2009. 13 Ibidem, 18. 14 Ibidem, 25. 15 Ibidem, 31. 16 Ibidem, 55. 54 Discussion 17 Ibidem, 66. 18 Ibidem, 72. 19 Ibidem, 92-93. Der Vater wird dann im September nach der Zahlung einer Kaution durch die Firma Kuhlmann aus dem Lager Drancy entlassen, darf aber seine Funktion bloß mehr zu Hause wahrnehmen; im März 1944 wird er mit seiner Frau und Hélène nach Auschwitz deportiert. 20 Ibidem, 103. 21 Ibidem, 104. 22 Ibidem, 106, 108. 23 Ibidem, 107. 24 Ibidem, 112. 25 Ibidem, 167. 26 Ibidem, 168. 27 Ibidem, 171. 28 Ibidem, 220. 29 Ibidem, 181. 30 Ibidem, 200. 31 Ibidem, 217. 32 Ibidem, 276. 33 Ibidem, 277. 34 Ibidem, 272. 35 Ibidem, 241. 36 Ibidem, 279. 37 Ibidem, 8. 38 Ibidem, 14. 39 Jean Samuel, Jean Marc Dreyfus, Il m’appelait Pikolo. Un compagnon de Primo Levi raconte. Paris, Robert Laffont, 2007, 222 p. 40 Ibidem, 197. 41 David Rousset spricht in analoger Weise von der Haltung Raymond Berrs in Auschwitz: „Le souvenir de Raymond Berr l’aidait [...] Bernard se souvenait avec étonnement de sa façon claire et captivante, même pour un homme simple, de parler des mathématiques. Et c’était avec le même détachement singulier qu’il étudiait devant eux, pour eux, pour lui, son expérience des camps“ (David Rousset, Les jours de notre mort. Paris, Editions du Pavois, 1947, 512). 42 Primo Levi, Si c’est un homme. Paris, Julliard, 1990, 117. 43 Zitiert bei Jean Samuel, Il m’appelait Pikolo, 40. 44 Ibidem, 75. 45 Die Mutter von Jean Samuel, die als 47-Jährige nach Auschwitz deportiert wurde, überlebte, litt aber bis zu ihrem Tod im Jahre 1978 während Jahrzehnten an den durch das KZ ausgelösten Traumata: „Trente-trois années durant, elle avait revu dans ses cauchemars Auschwitz, la sélection, les Kapos, les cheminées de Birkenau. Trente-trois années durant, elle avait entendu chaque nuit les coups de feu qui achevaient les prisonnières tombées d’épuisement au bord de la route.“ (Ibidem, 162). 46 Ibidem, 87 „Il y avait chez lui“, schreibt später Jean Samuel über Primo Levi, „comme une certitude de sa survie pour écrire. Il s’y préparait. En fait, je me demande si ce n’est pas cette préparation au témoignage, à l’inverse, qui lui a permis de survivre.“ (Ibidem, 191). 47 Ibidem, 88. 48 Ibidem, 77 49 Ibidem, 92. 50 Ibidem, 189. 55 Discussion 51 Simone Veil, Une vie. Paris, Stock, 2007, 399 p.; deutsch: Und dennoch leben: Die Autobiographie der großen Europäerin, übers. von Nathalie Mälzer-Semlinger, Berlin, Aufbau- Verlag, 2009. 52 Auch André Schiffrin bezeichnet seine Familie als säkularisiert jüdisch: „Mes parents, Juifs laïcs typiques, étaient opposés à toute religion et ne suivaient aucun des rites ni des coutumes du judaïsme. En Russie, beaucoup d’intellectuels juifs considéraient les rabbins comme des propagateurs de superstition et d’irrationalisme. Mon père et ma mère n’ignoraient rien de leurs origines, naturellement, mais ils faisaient partie de ceux, nombreux en Europe, qui sont devenus juifs à cause de Hitler.“ (André Schiffrin, Allers-retours, 27). Auch Hélène Berr, stark getragen vom französischen universalistischen Ideal, kann der Idee einer gesonderten jüdischen Gemeinschaft wenig abgewinnen: „Quand j’écris ‘juif’, je ne traduis pas ma pensée, car pour moi une pareille distinction n’existe pas: je ne me sens pas différente des autres hommes, jamais je n’arriverai à me considérer comme faisant partie d’un groupe humain séparé“. Da sie sich nicht einer spezifischen religiösen oder ethnischen Gruppe zugehörig fühlt, ist sie auch skeptisch gegenüber der zionistischen Bewegung: „l’idéal sioniste me paraît trop étroit, tout groupement exclusif, que ce soit le sionisme, l’effroyable exaltation du germanisme auquel nous assistons, ou même le chauvinisme contiennent un orgueil démesuré. Je n’y peux rien, mais jamais je ne me sentirai à l’aise dans des groupes pareils.“ (Hélène Berr, Journal, 254). Jean Samuel schreibt seinerseits, dass Auschwitz seine philosophischen und religiösen Vorstellungen erschüttert habe. Er nahm aber am Leben der jüdischen Gemeinde in seinem Heimatort Wassellonne teil; er berichtet, wie die Synagoge in den 60er Jahren neu aufgebaut wurde. In der jüdischen Gemeinde, im Rahmen des sog. ‘Lernen’ berichtete er 1981 erstmals ausführlich von dem, was er in Auschwitz erlebt hatte: „Mais si difficile que ce soit, il me faut témoigner, surtout pour les jeunes générations qui ignorent presque tout de la vie concentrationnaire.“ (Jean Samuel, Il m’appelait Pikolo, 189). 53 Jean Samuel berichtet seinerseits von der Hausdurchsuchung durch die Gestapo. Einer der Gestapo-Leute schob seine Tante und ihren jungen Sohn hinter einen Schrank und diese entgingen so der Verhaftung. „Curieuse figure, celle d’un ‘Juste’ policier de la Gestapo, semble-t-il, qui, dans un geste spontané, a sauvé un enfant et une femme.“ (Jean Samuel, ibidem, 31). In Auschwitz wies Mengele Jean Samuels Mutter der linken Seite zu; sie aber, erschöpft vom Transport, wollte sich lieber bei der rechten Seite einordnen, bei den Alten und Schwachen, die sofort umgebracht wurden. Mengele aber drängte sie zwei Mal zurück auf die linke Seite. „Aussi incroyable que cela paraisse, Mengele l’a par deux fois repoussée vers la gauche. Aussi incroyable que cela paraisse, je dois la vie de ma mère au pire meurtrier d’Auschwitz.“ (20). 54 „Quant aux Juifs qui n’avaient pas été déportés, c’est-à-dire, en ce qui concerne la France, les trois quarts d’entre eux, la plupart ne supportaient pas de nous entendre. D’autres préféraient ne pas savoir. Il est vrai que nous n’avions pas conscience de l’horreur de nos récits. C’est donc entre nous, les anciens déportés, que nous parlions du camp.“ (Simone Veil, Une vie, 394). 55 Ibidem, 387-388. 56 Ibidem, 390. 57 Ibidem, 396. 58 Ibidem, 398.