eJournals lendemains 35/137

lendemains
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Narr Verlag Tübingen
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2010
35137

Das Handwerk des Tötens

2010
Urs Urban
ldm351370026
26 Discussion Urs Urban Das Handwerk des Tötens Nachtrag zur literarischen Anthropologie des Genozids in Ruanda 1 Du hast eine überaus dumme Sendung über Auschwitz versäumt. Viele grausige Filmausschnitte, und noch mehr verwirrte Intellektuelle, die ihr Unverständnis gegenüber diesem systematischen Mord an Millionen zum Ausdruck brachten. Der Grund, warum sie die Frage, warum so was je passieren konnte, nicht beantworten können, ist, dass die Frage falsch ist. So, wie die Menschen sind, müsste die Frage lauten: ‘Warum passiert das nicht öfter? ’ Woody Allen, Hannah und ihre Schwestern, 1986 Die anthropologische Relation Zu Beginn seines 1974 erschienenen Romans Versuch über die Pubertät beschreibt Hubert Fichte die folgende Szene: Ein Ich-Erzähler namens Hubert besucht im brasilianischen Bahia de Todos os Santos das gerichtsmedizinische Institut Nina Rodrigues und nimmt dort als Beobachter an der anatomischen Sektion von Leichen teil. Der Gerichtsmediziner - oder ‘forensische Anthropologe’ - äußert dem Erzähler gegenüber die ihm aus seiner Arbeit - der restlosen Objektivierung des Menschen - erwachsene Einsicht: „Der Mensch ist nichts.“ Daraufhin wird er vom Erzähler mit eben dieser Äußerung identifiziert und heißt fortan Der Mensch ist nichts. Indem er auf diese Weise seine eigene Rede verkörpert, widerlegt er sie jedoch zugleich - schließlich ist er ein homo faber, einer, der mit Wort und Tat in die Geschichte des Menschen eingreift. Die sezierten Leichname sind gewaltsam zu Tode gekommene Afro-Brasilianer - ‘Neger’, wie der Erzähler vielleicht in Anspielung auf die positive Umdeutung dieses Begriffs in der Négritude-Diskussion sagt (und seine ethnologische Expertise legt das durchaus nahe). Dabei ähneln sich Sezierter und Sezierer auf beunruhigende Weise, der Leichnam wird zum „Gleichnam“ (Fichte 1974: 20). Dieser Text kommt hier ins Spiel, weil er in literarisch verdichteter (wenn man so will: allegorischer) Form gültige Auskunft über Elemente und Struktur der ‘anthropologischen Relation’ gibt. Der Text beantwortet die Frage nach dem Wesen des Menschen, indem er Leib, Körper und Erzählung in einer für die literarische Anthropologie paradigmatischen Konstellation zeigt. Der Leib begegnet uns hier in seiner konsequentesten Inkarnation als Leichnam: Solange er lebt, ist der Leib immer schon Körper und nur heuristisch von diesem zu unterscheiden; der Leichnam hingegen ist nur mehr ein eben unbelebter Gegenstand und mithin der biologische Rest der Person - der er indes ‘zum Verwechseln’ ähnlich sieht. Die Figur des Leichnams ist daher unheimlich, weil die Verschiebung vom lebenden Subjekt zum toten Ob- 27 Discussion jekt nicht oder nur minimal sichtbar und doch von gänzlich existentieller Bedeutung ist - ganz wie eine der Mimesis verpflichtete Abbildung, etwa das photographische Porträt einer Person, diese voraussetzt und zu ersetzen scheint und doch nicht mit ihr identisch ist. Aus theoretischer Perspektive, etwa bei Maurice Blanchot, ist daher bekanntlich der Leichnam zur Allegorie der Repräsentation erhoben worden. Der Körper entsteht durch eine am Leib vorgenommene symbolische Handlung, die ihn zum Bedeutenden innerhalb eines kulturellen Sinnzusammenhangs erhebt und auf diese Weise gewissermaßen zwischen Ontologie - dem Vorhandensein des Leibes - und Epistemologie - eben seiner Bedeutung als Körper - vermittelt. Dieser Vorgang ist geprägt von - wenn auch nur symbolischer - Gewalt: Die kulturellen Dispositive verfügen über die Macht, dem Leib gewaltsam ihr Gesetz einzuschreiben - wie Kafka in seiner Erzählung von der Strafkolonie zeigt. Der auf diese Weise diskursivierte Körper kann aber auch selbst und an sich selbst handeln. Der Mensch macht sich selbst zum Gegenstand seines Tuns und seiner Rede und vielleicht ließe gerade dies sich als der Minimalkonsens anthropologischer Reflexion begreifen: „Der Mensch ist ein Tier, das sich selbst definiert.“ (Assmann 2004: 90) Der Leib wird also zum Körper durch seine Einordnung in einen Sinnzusammenhang, das heißt in eine Sprache und ein System symbolischer Handlungen: eine Kultur. Diesen Sinnzusammenhang aber stiftet die Erzählung. Hubert Fichte legt die Erzählung in die Hände eines Ich-Erzählers: Der Erzähler ist Subjekt sowohl des Erzählens als auch des Erzählten, oder mit Genette: extradiegetisches und intradiegetisches Subjekt sind identisch. Die vom Subjekt des Erzählten beobachtete Gewalt - die anatomische Sektion - löst bei diesem eine existentielle Angst vor dem Verlust des eigenen Körperganzen und also vor der Zerstückelung aus, der das erzählende Subjekt eben mit seiner Erzählung begegnet. Die Erzählung kompensiert auf diese Weise die negative Ontologie der ‘anthropologischen Relation’ - ohne diese jedoch zu negieren. Vielmehr übersetzt sie den wahrgenommenen Zerfall und das Auseinanderfallen der Wahrnehmung in einen Text, der diese doppelte Fragmentierung abbildet, indem er auf die Mittel der literarischen Collage zurückgreift, auf ein Verfahren also der diskursiven De- und Rekonfiguration. Noch bevor es die vom Menschen am Menschen vollzogene Gewalt und die Furcht, selbst dieser Gewalt zum Opfer zu fallen, erzählerisch objektiviert, verschwindet das Subjekt der Erzählung mit einem Gehilfen des Gerichtsmediziners im Gebüsch, um sich dort seines lebendigen Leibs zu versichern, der paradoxerweise gerade im Moment der Hingabe an den Andern zu sich selbst findet und so die „Grenzsituation des Übermanntwerdens“ (Plessner [1966]: 142) zum Beweis seines Lebendigseins nimmt. Der Erzähler thematisiert so zugleich sein Begehren und mithin seinen eigenen Leib und begibt sich auf diese Weise an einen Ort der Kapitulation vor dem Tod und der Sprachlosigkeit, also dem Nicht-Erzählbaren. Bevor der Mensch zum Leichnam wird, ist also sein Leib immer schon Körper. Durch eine Erzählung wird er in einen kulturellen Sinnzusammenhang eingeordnet, der Leib und Körper miteinander verschränkt. Wenn diese doppelte Verschränkung - die des Leibes mit dem Körper und die des Leibkörpers mit der Erzählung - 28 Discussion misslingt, zerfällt die oben beschriebene ‘anthropologische Relation’ in ihre Einzelteile: Was dann bleibt sind Opfer, Täter und Zeuge und eine mit zunehmender Objektivierung des Menschen zunehmende Gewalt am Menschen. Der Genozid in Ruanda Die Atmosphäre der Gewalt, die einst die koloniale Phase geprägt hatte, beherrscht auch das Leben der neuen Staaten. Die Dritte Welt steht nicht abseits: Sie ist das Sturmzentrum. (Fanon [1961]: 64) Am 6. April 1994 wird um 20 Uhr das Flugzeug des ruandischen Präsidenten Juvénal Habyarimana beim Anflug auf den Flughafen von Ruandas Hauptstadt Kigali von unbekannten Tätern abgeschossen. Nachdem sie seit geraumer Zeit insbesondere vom Radiosender Mille Collines zum Mord an den Tutsi aufgerufen worden waren, nehmen die Hutu die Ermordung ihres Präsidenten zum Anlass, noch in der selben Nacht mit der systematischen Tötung ihrer Mitbürger zu beginnen. In den folgenden hundert Tagen fallen den - teilweise von französischen Spezialisten ausgebildeten - Interahamwe-Milizen eine knappe Million Tutsi und oppositioneller Hutu zum Opfer, die Frauen unter ihnen zumeist nach mehrfacher Vergewaltigung; die vor Ort stationierten Soldaten der Friedensmission UNAMIR schauen tatenlos dabei zu, weil sie keinen Befehl zum Eingreifen erhalten. Gleichzeitig findet ein Bürgerkrieg zwischen den aus Uganda vorrückenden Truppen der Rwandian Patriotic Front (RPF) und der Ruandischen Armee statt, der mit dem Einmarsch der RPF in Kigali am 4. Juli endet; der Sieg der Tutsi-Rebellen setzt zugleich auch dem Völkermord ein Ende. Französische Truppen, die ursprünglich gekommen waren, um die Hutu zu unterstützen, richten nun mit dem Ziel, die Volksgruppen voneinander zu trennen, Korridore ein, durch die ein Großteil der Täter in den benachbarten Kongo fliehen kann. Am 3. Oktober 1994 einigt sich der UN-Sicherheitsrat auf ein Papier, in dem die in Ruanda begangenen Massaker als Genozid definiert werden - eine Definition, die die Weltgemeinschaft einige Monate zuvor zum Eingreifen verpflichtet hätte, zum jetzigen Zeitpunkt allerdings nur mehr juristisch relevant ist. Auch in der Genozidforschung werden die Ereignisse in Ruanda als Genozid anerkannt - mit einer Eindeutigkeit, die sonst nur im Fall des Völkermords an den Armeniern und des millionenfachen Mordes an den europäischen Juden zu verzeichnen ist. Mit den moralischen, juristischen und terminologischen Schwierigkeiten dieser Zuordnung und mit den Paradoxien der von Robert Stockhammer so genannten „Katastrophenkomparatistik“ will ich mich hier nicht auseinandersetzen. Ein Genozid ist ein Genozid und nur in dieser Tautologie bestimmbar - auch wenn zugleich der unbestimmte Artikel das Vorhandensein noch eines anderen Genozids nahelegt; jeder Genozid ist einzigartig und unvergleichbar und doch, weil eben inzwischen mehrfach vorhanden, auf den Vergleich angewiesen. Um wenigstens historisch nachvollziehen zu können, wie es zu diesen Ereignissen hat kommen können, muss die Kolonialgeschichte Ruandas in Betracht gezo- 29 Discussion gen werden. Natürlich hat Ruanda eine Geschichte vor seiner Kolonisierung - aufgrund mangelnder schriftlicher und archäologischer Überlieferung ist diese jedoch (zumindest anhand der herkömmlichen historiographischen Verfahren) nur schwer rekonstruierbar; sie ist aber für die Genese des genozidalen Konflikts auch gar nicht relevant, denn dieser lässt sich nicht, wie es indes oft geschieht, als ein Wiederaufleben ‘archaischer’ Stammesfehden begreifen, sondern ist ein Produkt eben der kolonialen Geschichte Ruandas - wenngleich auch diese ihn letztlich nicht erklären kann. Auf der so genannten Berliner Kongo-Konferenz wird das Königreich Ruanda im Jahre 1885 dem deutschen Kaiserreich zugeordnet, das 1908 den Ethnologen und Schriftsteller Richard Kandt mit dem Auftrag nach Ruanda entsendet, in Kigali eine Residentur einzurichten. 1916 endet die deutsche Kolonialherrschaft mit dem Einmarsch belgischer und britischer Truppen in Ruanda, 1923 erhält Belgien ein Völkerbundsmandat. Ende der 1950er Jahre kommt es in Ruanda zu Konflikten, die sich erstmals entlang der ethnisch markierten Unterscheidung zwischen Hutu und Tutsi manifestieren: 1957 helfen deutsche Missionare den Hutu bei der Abfassung und Veröffentlichung des so genannten Bahutu-Manifests, in dem die Emanzipation der von den Hutu gebildeten Bevölkerungsmehrheit von den regierenden Tutsi gefordert wird; zwei Jahre später erheben sich die Hutu und zwingen die Tutsi in blutigen Auseinandersetzungen zur Flucht. Die Verflechtung dieses Konflikts mit dem Kampf gegen die belgischen Kolonisatoren konnte, wie Robert Stockhammer schreibt, „die Bahutu-Herrschaft über den unabhängigen Staat als naturgegebene politische Ordnung erscheinen lassen: als eine Befreiung von den weißen Kolonisatoren ebenso wie von den internen ‘Kolonisatoren’, den Batutsi.“ (Stockhammer 2005: 22) Warum „interne Kolonisatoren“? Bis zum Beginn der europäischen Kolonisierung gab es auch in Ruanda unterschiedliche gesellschaftliche Distinktionsmechanismen - die Vorstellung eines biologisch verbürgten Wesensunterschieds allerdings gehörte nicht dazu. Alle Ruander haben die selbe Muttersprache und die selbe indigene Religion. ‘Hutu’ ist schlicht eine abwertende Bezeichnung für eine Person oder Personengruppe, die in den verschiedensten Zusammenhängen gebräuchlich ist, um eine soziale Unterscheidung zu markieren. Daher wurde etwa die Ackerbau betreibende Bevölkerungsmehrheit von der herrschenden Elite der Viehzüchter ‘Hutu’ genannt. Dieser gesellschaftliche Unterschied manifestiert sich nun tatsächlich auch in einer biologischen Unterscheidung, die indes aus der Gesellschaftsordnung resultiert: Der Afrika-Historiker Jan Vansina erklärt das mit der Endogamie unter der Eliteschicht, die später Tutsi genannt wurde, während die von dieser Endogamie Ausgeschlossenen als Hutu bezeichnet wurden. Joseph- Arthur de Gobineau hingegen versucht diesen biologischen Unterschied ‘rassisch’ herzuleiten, indem er die Theorie von einer ursprünglich kaukasischen Rasse - den Hamiten - aufstellt, die über den Nil nach Ruanda gekommen sei. Diese so genannte Hamiten-Hypothese legt also nahe, die Tutsi seien erstens ‘degenerierte’ Weiße, und hätten zweitens ein ursprünglich ausschließlich von Hutu bewohntes 30 Discussion Territorium nachträglich besiedelt, also kolonisiert. Diese rassistische Spekulation indes lässt sich historisch nicht belegen. Vor allem aber gehört sie noch gegen Ende des 19. Jahrhunderts nicht zum Selbstverständnis der Ruander - wie ein von Richard Kandt aufgezeichneter Mythos über den gemeinsamen Ursprung aller Ruander beweist. Diese Vorbehalte allerdings machen die Rassentheorie nicht weniger effektiv: Im Gegenteil führt die Verzeichnung der nun rassisch kodierten Identität in den von den Belgiern 1934 eingeführten Pässen zu einer Umsetzung der Rassentheorien in eine bürokratische Realität - die dann wiederum 1994 bei der Durchführung des Genozids über Leben und Tod des Passbesitzers entscheidet. Die zu Beginn der 1960er Jahre sowie nach weiteren Pogromen in der Folgezeit (1963, 1967 und 1973) vor allem ins englischsprachige Uganda geflohenen Tutsi gründen 1988 die Rwandian Patriotic Front, die die von Belgien und Frankreich unterstützte ruandische Regierung zunehmend unter Druck setzt. Damit kommt eine weitere Unterscheidung ins Spiel, die nun entlang der Sprachgrenze verläuft: Die Hutu sind frankophon, die Tutsi anglophon. Seit 1994 aber heißt das: Die Täter sprechen Französisch, die Opfer Englisch. Nicht ganz zu Unrecht legt daher Boubacar Boris Diop dem Docteur Karekezi die folgenden bitteren Worte in den Mund: „Là-bas, à Paris et dans votre armée, trop de gens ont fini par éprouver autant de haine que nous pour le FPR. Des types venus d’ailleurs. Vous ne les contrôlez pas. Ils parlent anglais et ils vous méprisent. Le comble, n’est-ce pas? Des nègres qui ne font pas de courbettes devant vous. La haine, vous vous en arrangez bien, mais cette indifférence, non. Ça valait qu’on tue quelques centaines de Tutsi.“ (Diop 2000: 162) Immerhin darf der französische Offizier daraufhin einwenden, dass kein einziger französischer Soldat einen Ruander getötet habe. Diese Überlegungen geben Anlass zu einem kurzen Exkurs: Einer aktuellen und viel gelesenen Einführung in die Frankophonie ist bezüglich der gerade beschriebenen linguistischen Situation Folgendes - und nur Folgendes - zu entnehmen: Es „ist (...) nicht ausgeschlossen, dass sich einzelne Staaten aus der Organisation [der Frankophonie] zurückziehen. Anzeichen gab es 1999 in Ruanda, wo im Verlauf (...) der Re-Migration von im englischsprachigen Uganda ausgebildeten Milizen neben der allgemein verbreiteten afrikanischen Sprache Kyniarwanda und dem Französischen das Englische zur offiziellen Sprache erklärt wurde.“ (Erfurt 2005: 75) Die naheliegende, aber eben den statistischen Horizont seiner Studie übersteigende Frage nach den - historischen, politischen, gesellschaftlichen, kulturellen - Gründen für eine solche Entwicklung - die ideologische und finanzielle Unterstützung der Hutus durch die Franzosen - stellt der Verfasser nicht - und genau das ist bezeichnend für das von ihm vorgestellte Konzept der Frankophonie, das sich im Deskriptiven erschöpft und ernstzunehmende kulturtheoretische Fragestellungen weitgehend ausschließt - in dem mehr oder weniger deutlichen Bewusstsein, dass diese Fragestellungen die Legitimität der eigenen Perspektive in vitaler Hinsicht berühren würden. 2 Ende des Exkurses. Bis heute ist die juristische Aufarbeitung des Genozids in Ruanda nicht abgeschlossen - wenngleich immer wieder auch Erfolge zu verzeichnen sind, wie etwa 31 Discussion die Verhaftung Théoneste Bagosoras, eines der Drahtzieher des Völkermords, im Dezember 2008. 3 Besonders schwierig gestaltet sich auch aus diesem Grund die gesellschaftliche Verarbeitung des Völkermords in einem Land, in dem Opfer und Täter wieder miteinander leben müssen. Sowohl im juristischen wie im gesellschaftlichen Kontext kann jedoch auch hier die Erzählung dazu beitragen, Opfer und Täter wieder in einen wenn auch historisch nachhaltig belasteten und gestörten kulturellen Sinnzusammenhang einzubeziehen. Die Literatur sieht sich daher hier einer besonderen Herausforderung gegenüber - der sie sich früh schon gestellt hat: Im Rahmen des Projektes Rwanda - écrire par devoir de mémoire reisten im Jahr 1998 zehn afrikanische Schriftsteller nach Ruanda, um sich vor Ort mit den Ereignissen vertraut zu machen, über die sie dann schreiben wollten. Zehn Texte sind in den folgenden Jahren aus diesem Projekt hervorgegangen - neun davon auf französisch, vier wiederum davon französischsprachige Romane. 4 Damit war dann auch der ‘akademischen Kolonisierung’ eines neuen thematischen Feldes Tür und Tor geöffnet: Anlässlich des 10. Jahrestages der Ereignisse im Jahr 2004 etwa fanden zwei Kolloquien in Paris statt, deren Ergebnisse teilweise in der Ruanda gewidmeten Sonderausgabe der Zeitschrift Lendemains dokumentiert sind; auch der Romanistentag 2005 widmete dem Thema Bürgerkriege in der Romania eine Sektion, in der dann auch Ruanda kurzerhand der Romania zugerechnet wurde. 5 Der fruchtbarste Beitrag zu der literaturwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Genozid in Ruanda stammt von dem Komparatisten Robert Stockhammer, der 2005 eine umfassende diskursanalytische Arbeit vorgelegt hat, in der er die historischen Bedingungen des Sagbaren rekonstruiert und vor diesem Hintergrund offenlegt, wie die Konstruktion von Aussagen über den Genozid funktioniert. 6 Dass das Thema literarisch noch lange nicht ausgeschöpft ist, beweist der gerade erschienene Roman Hundert Tage des Schweizer Autors Lukas Bärfuss (Bärfuss 2008); dass es politisch von ungebrochener Aktualität ist, zeigen nicht nur die von der Weltöffentlichkeit weitgehend verdrängten Ereignisse in Darfur, sondern auch die aktuellen Auseinandersetzungen zwischen Hutu und Tutsi im Kongo. Literarische Anthropologie des Genozids in Ruanda Im zweiten Band ihrer Studie über Biopolitik im Zeitalter der Globalisierung schreiben Michael Hardt und Antonio Negri: „Die reale Möglichkeit zum Genozid (...) berührt unmittelbar das Leben (...). Die (...) Macht, die über solche Vernichtungsmittel gebietet, ist eine Form der Biomacht im rein negativen und furchtbarsten Sinn des Wortes, nämlich eine Macht, die direkt über den Tod gebietet - den Tod nicht nur eines Individuums oder einer Gruppe, sondern der Menschheit insgesamt und gegebenenfalls sogar jeglichen Seins.“ (Hardt/ Negri 2004: 34/ 35) Wenn ein Genozid möglich ist und wiederholt möglich ist, und zwar in unterschiedlich aber jeweils hoch zivilisierten Gesellschaften, dann stellt sich die Frage, wie der Genozid sich als Teil der Kultur und wie die individuelle Beteiligung an massenhaftem und per- 32 Discussion sönlich unmotiviertem Morden sich als Teil des Spektrums menschlicher Verhaltensweisen begreifen und beschreiben lässt. Dieser Frage soll im Folgenden nachgegangen werden, indem die zu Beginn extrapolierten Elemente der anthropologischen Relation (Leib, Körper, Erzählung) auf die literarischen Berichte von den genozidalen Ereignissen in Ruanda bezogen werden; dabei soll die Anthropologie des Täters im Mittelpunkt stehen, wie sie Boubacar Boris Diop in seinem Roman und Jean Hatzfeld in seinen Täterberichten beschreiben. Im Zentrum aller Texte über Ruanda steht die Begegnung mit den Toten. Dabei spielt in mehreren Texten die Gedenkstätte in Nyamata, einer Gemeinde südlich der Hauptstadt Kigali, eine wichtige Rolle - so auch in Diops Roman Murambi. Le livre des ossements aus dem Jahr 2000. Die Haupterzählung dieses Romans, unterbrochen von fiktiven Ich-Erzählungen einiger Überlebender und Täter, handelt von Cornelius Uvimana, der aus dem Exil in Djibouti nach Ruanda zurückkehrt und dort zur Kenntnis nehmen muss, dass sein Vater als Verantwortlicher für die Planung und Durchführung des Mordes an 45 000 Tutsi - darunter seine Frau und zwei seiner Kinder - in der Berufsschule von Murambi gesucht wird; bevor Cornelius den Tatort aufsucht, der ihn für immer von seinem Vater entfremdet, besucht er die Gemeinde von Nyamata und beobachtet dort Folgendes: „A l’intérieur de la paroisse, Cornelius vit pour la première fois les ossements des victimes du génocide. Sur deux longues tables, dans une hutte rectangulaire en paille, étaient exposés des restes humains: les crânes à droite et divers ossements à gauche. (...) Le gardien y donnait des explications à un groupe de visiteurs.“ (Diop 2000: 94) Das menschliche Körperschema ist hier aufgehoben zugunsten einer spektakulären, dem touristischen und wissenschaftlichen Blick Rechnung tragenden Ordnung des Wissens - rechts die Schädel, links diverse Knochen. Anders verhält es sich im zweiten Gebäude und dann in der Kirche von Nyamata: Dans ce second bâtiment, les corps se trouvaient en l’état où les avaient laissés les tueurs quatre années auparavent. Des lambeaux de vêtements étaient encore collés aux corps et un peigne traînait près d’un banc en bois. (...) Ils se rendirent à l’église de Nyamata. Entre vingt-cinq mille et trente mille cadavres étaient exposés dans le majestueux bâtiment de briques rouges. Un autre gardien les conduisit d’abord dans la crypte no. 1, une pièce jaune située au sous-sol, éclairée par une dizaine d’ampoules électriques. Là aussi des ossements étaient entassés sur une longue table recouverte de sable fin. À une extrémité, se dressait un corps conservé presque intact. (...) La jeune femme avait la tête repoussée en arrière et le hurlement que lui avait arraché la douleur s’était figé sur son visage encore grimaçant. Ses magnifiques tresses étaient en désordre et ses jambes largement écartées. (ebda: 94-96) Hier sind die Leiber so belassen, wie die Täter sie zugerichtet haben. Spuren persönlicher Geschichte - Kleiderreste, ein Kamm, die Frisur - zeugen von der vormaligen Zugehörigkeit dieser Leiber zur „espèce humaine“ (Antelme), von ihrer Vergangenheit als lebendige Körper. Was Körper war ist allerdings unverkennbar nur mehr toter Leib: Der Mensch begegnet dem Protagonisten als Leichnam. Das „Paradox des Zeugen“ - so wie Giorgio Agamben es beschreibt, auf den viele Au- 33 Discussion toren sich bei der Analyse der literarischen Texte beziehen - besteht auch hier darin, dass nur der Tote vom Verlust des Menschseins, von der Reduktion auf das nackte Leben, vom Sterben Zeugnis ablegen könnte - aber natürlich nicht kann. Die Unmöglichkeit der Zeugenschaft wird hier indes trotzig in Frage gestellt: Denn die toten Leiber sind ja durchaus auch Zeugen, „insofern ihnen mehr oder minder gut abgelesen werden kann, wo, wann und wie sie gestorben sind.“ (Stockhammer 2005: 87) Ihr vergangenes Menschsein ist ihnen ebenso eingeschrieben wie das Handeln der Täter, die Tat. Anders als das Holocaust-Mahnmal in Berlin, das - wie Agamben in einem Vortrag erläuterte - gerade das Nicht-Diskursivierbare ausstellt und so das kollektive Gedenken zur immer wieder neu zu bewältigenden Aufgabe jedes einzelnen Besuchers macht, erhebt diese Gedenkstätte den Anspruch, das, was gewesen ist, so wie es gewesen ist aufzuheben; in diesem Sinne wurde auch die Fotografie in ihren Anfängen als eine realistische Repräsentationsform begriffen, die gewissermaßen mit jedem Bild beweist: „Ça a été.“ Die Literatur indes kann noch einen Schritt weiter gehen und die Ausschließlichkeit von Tot-Sein und Zeugen-Können unterlaufen. Robert Stockhammer formuliert das Agamben’sche Paradoxon wie folgt: „Tote, die ‘ich’ sagen, die von ihrem eigenen Tod erzählen oder sich über ihn beklagen, gibt es nicht. (...) Verstöße gegen diese Regel werden an die Psychiatrie, Literaturwissenschaft, Ethnologie oder Rhetorik delegiert.“ (ebda: 85) Was im Rahmen mündlicher Sprechakte ausgeschlossen ist, lässt sich jedoch schriftlich fingieren: „Die schriftliche Konstruktion von Stimmen, die Toten zugeordnet werden“, so Stockhammer weiter, „ist ein Verstoß gegen die Grammatik, der nur mit rhetorischen oder poetologischen Lizenzen gerechtfertigt werden kann. Das Schreiben über den Genozid jedoch ist von diesem unmöglichen, ‘phantastischen’ Aussageakt aus zu denken.“ (ebda: 86) Dieser phantastische Aussageakt - ein literarisches Verfahren, das bekanntlich Juan Rulfo der modernen Literatur erschloss - dominiert denn auch die Erzählstruktur der literarischen Texte über den Genozid in Ruanda. Diop hingegen macht aus Gründen, die noch zu sehen sein werden, von dieser Möglichkeit keinen Gebrauch. Wenn es um die Zeugenschaft geht, dann geht es in der Regel um das Zeugnis vom Schwinden des Lebens und also um die schwindende Sicht der Opfer. Was bislang hingegen kaum in den Blick geraten ist, ist das Zeugnis von der Tat, vom Töten, die Perspektive mithin des Täters, die indes beunruhigende Auskunft über die anthropologische Verfasstheit des homo necans zu geben vermag - beunruhigend insofern, als sie jegliche Vorstellung einer besonderen - ‘monströsen’ - psychologischen Disposition widerlegt. Schon nach dem Holocaust wurde die künstlerische Verarbeitung der Täterperspektive weitgehend versäumt - mit wenigen Ausnahmen, etwa einer in Konrad Wolffs Spielfilm Ich war 19 eingefügten Dokumentarfilmsequenz, in der ein KZ-Bediensteter die Funktionsweise einer Gaskammer erläutert. Was hier schockiert, ist weniger - wie heute bei Littell - die perverse Lust am Töten, als vielmehr die viel skandalösere Banalität des Bösen, die im völlig teilnahmslosen und zugleich gewissenhaft detaillierten Bericht dieses kleinbürgerlichen Angestellten des Todes zum Ausdruck kommt - der seine Tätig- 34 Discussion keit als eine Arbeit wie jede andere beschreibt, die allerdings irgendwie den Tod in Kauf nimmt. Der moralische Skandal besteht hier gerade in der gänzlichen Abwesenheit eines moralischen Bewusstseins. Im zweiten Band seiner Dokumentation von Zeugenaussagen lässt nun auch Jean Hatzfeld die Täter von ihren Erfahrungen bei der Durchführung des Genozids berichten - und dabei kommt unter anderem zur Sprache, was sie in eben der oben genannten Gemeinde von Nyamata getan haben. Da es um die restlose Tötung aller Tutsi - eine Endlösung, „un programme définitif“ - geht, sind die Täter hier damit beschäftigt, noch Lebende und Verletzte zu töten sowie sicherzustellen, dass wirklich keiner das Massaker überlebt. Alphonse berichtet: Quand on est entrés dans l’église (...), les gens se tenaient couchés dans la pénombre. Les blessés visibles entre les bancs; les morts dans les travées jusqu’au bas de l’autel. (...) Ils attendaient la mort dans le calme de l’église. Pour nous, ça n’avait plus d’importance de nous trouver dans une maison de Dieu. On a vociféré, on a blagué, on a ordonné, on a insulté. On a vérifié personne par personne, en inspectant les visages, pour achever tout le monde consciencieusement. Si on avait un doute sur l’agonie d’un participant, on traînait son corps dehors pour l’inspecter à la lumière du ciel. (Hatzfeld 2003: 160) Aus dem, was die Täter im Verlauf der von Hatzfeld aufgezeichneten Gespräche berichten, lässt sich auf die anthropologischen Voraussetzungen für das hier beschriebene Verhalten schließen - natürlich unter Vorbehalt, denn Motivation und Aufrichtigkeit dieser Aussagen bleiben undurchsichtig. Der Körper des Täters gerät beim ersten Mord in eine Art physiologischen Ausnahmezustand, der in Worten aus der Semantik der Verausgabung als Rausch, Lustgefühl oder auch Wahn beschrieben wird. Während diese einmalige Initiation in das Töten also gewissermaßen als eine ‘heiße’ Phase erlebt wird - und so auch beschreiben wird; etwa von Jean-Baptiste, der sagt: „Ils étaient chauds parce qu’ils avaient tué des personnes.“ (25) -, beginnt jenseits der Grenze und schon mit dem zweiten Mord die ‘kalte’ Routine des wiederholten Tötens. Diese Tätigkeit wird nun nicht nur euphemistisch als ‘Arbeit’ beschrieben, sondern als solche offenbar auch wahrgenommen. Die Aussagen der Täter indes belegen, dass sie das Töten auch rein technisch - sie selbst sprechen von den „techniques de coups“ (40) - keinesfalls vorher schon beherrscht haben, sondern es wie ein Handwerk erst erlernen mussten. Adalbert äußert hierzu: „Nombre de cultivateurs n’étaient pas lestes en tueries, mais ils se montraient consciencieux. De toute façon, la manière se façonnait avec l’imitation. Le rabâchage et la répétition contraient la maladresse. C’est, je crois, une vérité pour n’importe quelle activité de main.“ (40) Alphonse berichtet, dass er das Töten kleinerer Nutztiere anderen überlassen habe, weil er diese Tätigkeit als außerordentlich „schmutzig“ empfunden habe, und dass er daher, was das Töten angeht, vor dem Genozid über keinerlei Erfahrung verfügt habe. Vollzogen haben die Täter ihr Handwerk mit einem Werkzeug, das, anders, als es auf den ersten Blick erscheinen mag, nur die Globalisierung ihnen in die Hände spielen konnte: Wie Stockhammer zu entnehmen ist, wurden die Macheten mit enormem logisti- 35 Discussion schem Aufwand in großen Mengen aus China importiert, vor den internationalen Beobachtern verborgen und unter der Bevölkerung verteilt. Es handelt sich hier also eindeutig nicht um die Perpetuierung eines archaischen und mit ‘primitiven’ Waffen ins Werk gesetzten Konfliktverhaltens. Die im Fall des Genozids in Ruanda besonders frappierende Tatsache, dass die Opfer den Tätern nicht nur gattungsmäßig (als Menschen), sondern in vielen Fällen gesellschaftlich ganz konkret nahe standen (die Opfer sind Nachbarn, Freunde, engste Familienmitglieder), erklären die Täter mit einer mentalen Operation der Entmenschlichung und Depersonalisierung, die gewissermaßen die dann real vollzogene Zerstückelung des menschlichen Körpers vorwegnimmt: Der Andere, der getötet werden darf, wird als Tier bezeichnet und gehört damit - wie Stockhammer zeigt - im Kinyarwanda sprachlich in eine Nominalklasse, in der zwischen Individuum und Gruppe nicht anhand von Singular und Plural unterschieden wird. Diese sprachliche Operation markiert die Opfer zugleich als Nicht-Mensch und als Nicht-Einzelmensch; Entmenschlichung, Entindividualisierung und Depersonalisierung gehend hier also Hand in Hand und lassen den Anderen als nicht-distinktes Element in einer nicht-menschlichen Masse verschwinden. Das wird ganz deutlich in der folgenden Äußerung von Pancrace, der sagt: „Je ne me souviens pas de la personne, parce que je ne l’ai pas identifiée dans la cohue. Je cognais, ça hurlait, mais c’était de tous côtés; c’était donc un entremêlement de coups et de cris qui se partageaient par tous.“ (25/ 26) Schließlich hat auch hier die Vernichtung des Anderen für die kollektive Identität der Täter einen stabilisierenden Nebeneffekt: Sie nivelliert Binnenunterschiede und produziert auf diese Weise eine imaginierte ethnische Gemeinschaft. Ignace etwa gibt zu Protokoll: „Après la chute de l’avion, on ne se posait plus la question de qui avait écouté les enseignements du parti présidentiel ou les enseignements d’un parti rival. On ne se souvenait plus de chamailleries, de qui s’était malentendu avec qui par le passé. On n’avait gardé qu’une seule idée dans le pot.“ (20) Was die Täter hier über ihr Tun berichten, zwingt uns einmal mehr zur Kenntnis zu nehmen, dass das massenhafte Morden auch ohne affektive Beteiligung oder persönliche Motivation offenbar zum Spektrum möglicher menschlicher Verhaltensweisen gehört. Robert Stockhammer erinnert denn auch zu Recht daran, dass die Rede vom unmenschlichen Verhalten „an der Logik eines ‘Gegensinns der Urworte’ partizipiert - nur Menschen können unmenschlich sein“. (Stockhammer 2005: 159) In einem Text mit dem Titel „Unmenschlichkeit“ macht sich auch Helmut Plessner Gedanken über die Logik der Rede vom Unmenschlichen, und auch er bezieht sich dabei auf einen - für ihn noch: den - Genozid; er schreibt: „Mit den Worten Unmensch und unmenschlich sollte man sparsam sein. Ihnen haftet ein Pathos an, das jedenfalls zu den Außergewöhnlichkeiten des Alltags nicht passt. (...) Immerhin werden wir (...) die Maßnahmen des Dritten Reiches mit Nachdruck unmenschlich nennen dürfen. Nur, nach welchen Kriterien? Wo liegen die Grenzen? Welche Möglichkeit des Menschen, sich und seinesgleichen zu verleugnen, ist mit dem Attribut unmenschlich angesprochen? “ (Plessner [1966]: 198) Plessner geht es also um die liminale „Möglichkeit des Menschen“, die dieser Begriff be- 36 Discussion zeichnet, und kommt zu einem Ergebnis, das über die Besonderheit des homo necans Aufschluss gibt. Er schreibt: „Zur Unmenschlichkeit bedarf es einer überdurchschnittlichen Kälte, die selten auf angeborener oder milieubedingter Verkümmerung des Gefühlslebens beruht (...), sondern auf dem Willen zur Zerstörung jeder Art von Schwäche.“ (ebda: 207) Erst „der gegen jede Gefühlsbindung durchgehaltene Rigorismus des Prinzips macht die Tat unmenschlich.“ (ebda: 205) Genau diese Kälte und dieser Rigorismus aber kennzeichnen das Verhalten des KZ-Bediensteten ebenso wie das der Täter von Nyamata. 7 Fazit: Text - Literaturwissenschaft - Kulturtheorie Es sollte hier versucht werden, ausgehend von literarischen Texten und von den in diesen Texten exponierten Kulturzusammenhängen, diese Texte literaturwissenschaftlich zu beschreiben und schließlich aus kulturtheoretischer Perspektive zu problematisieren. Das hieß konkret, danach zu fragen, welche Auskünfte die Literatur über die Verfasstheit des homo necans, des tötenden Menschen gibt, wie diese Darstellung narratologisch strukturiert und rhetorisch gestaltet ist, und wie sie sich historisch und theoretisch der Frage nach den anthropologischen Bedingungen des Genozids in Ruanda und den Bedingungen seiner literarischen Repräsentation zuordnen lässt. Da der literaturwissenschaftliche Zwischenschritt hier vielleicht etwas kurz ausgefallen ist, soll zum Schluss noch einmal ein flüchtiger Blick auf Diops Roman Murambi geworfen und wenigstens kurz auf die Frage geantwortet werden, die dieser Roman selbst explizit stellt - die Frage, wie sich vom Völkermord in Ruanda erzählen lässt. Dass sich erzählen lässt, steht hier außer Frage - es wird schlicht als eine moralische Verpflichtung begriffen. Wie wir gesehen haben, steht im Zentrum der Erzählung ein Protagonist, der gewissermaßen erblich sowohl für die Täterwie für die Opferrolle disponiert ist - der „typische Ruander“ also, wie er von sich selbst sagt. Cornelius ist Geschichtslehrer und kehrt in seine Heimat zurück, um sich über die Geschichte des Genozids zu informieren und sie anschließend literarisch zu verarbeiten. Bei seiner Ankunft hat er vor, ein Theaterstück zu schreiben - und zwar eines in der Tradition des absurden Theaters. Nachdem er zigtausende aufgehäufte Leichname gesehen und mit den Überlebenden gesprochen hat, sieht er sich mit der Frage konfrontiert, welche Geschichte er denn erzählen, und wie er diese Erzählung gestalten wolle. Er verwirft nunmehr das geplante Theaterstück, denn das, was er sieht - und hört, und riecht, und also am eigenen Leib erfährt -, ist an Absurdität, an absoluter Sinnlosigkeit, nicht zu überbieten. Er sucht nun nach einer Form, die diese Erfahrung möglichst ungefiltert wiedergibt. Im Gespräch mit seinem Onkel Siméon begreift er schließlich, dass nur eine strikt antimetaphysische und antisymbolistische Poetik, eine gewissermaßen antiästhetische Ästhetik, dieser Aufgabe gerecht werden kann. 37 Discussion Cornelius selbst allerdings setzt dieses poetologische Programm im Roman mehr nicht um. An seiner statt tut dies jedoch der Autor des Romans: Diop reproduziert bewusst die realistische Illusion der Transparenz, denn er will etwas zeigen, was diesseits des Textes stattgefunden hat - so wie die in den Gedenkstätten ausgestellten Leiber der Getöteten, die zu sagen scheinen: „Ça a été.“ Die Verwendung des passé simple garantiert den für die Entwicklung des Protagonisten so wichtigen zeitlichen und psychologischen Zusammenhang. Kurz: Der Text steht ganz im Dienste der Geschichte. Das heisst nun aber keinesfalls, dass er darauf verzichten würde darauf hinzuweisen, dass hier erzählt wird: Die poetologischen Reflexionen verweisen ja gerade hierauf, und die aus anderer Perspektive erzählten Einschübe integrieren andere Stimmen und die Stimmen Anderer in den Roman. Dennoch, gewissermaßen wider besseres Wissen, will Diop, wie sein Protagonist, erzählen, wie es gewesen ist. Und gerade deshalb kommt die oben erwähnte Fiktion des toten Erzählers für ihn nicht in Frage - die Toten sprechen nicht und sie sind auch nicht ansprechbar und dies zu akzeptieren ist mehr als eine poetologische Entscheidung, es ist eine moralische Entscheidung, eine Entscheidung für den Respekt vor der Geschichte. Literatur Agamben, Giorgio (2003): Was von Auschwitz bleibt. Das Archiv und der Zeuge. FfM Assmann, Aleida (2004): „Neuerfindung des Menschen. Literarische Anthropologien im 20. Jahrhundert.“ In: Dies./ Ulrich Gaier/ Gisela Trommsdorff (eds.), Positionen der Kulturanthroplogie. FfM 2004: 90-117 Bärfuss, Lukas (2008): Hundert Tage. Göttingen Bandau, Anja (2003): „ ‘Ruanda: Schreiben aus der Pflicht zu erinnern.’ Literatur zwischen Imagination und Zeugenschaft.“ In: Christa Ebert/ Brigitte Sändig (eds.), Literatur und soziale Erfahrung am Ausgang des 20. Jahrhunderts. Berlin 2003: 13-32 ⎯ (2005): „Vergewaltigung als Trope? Texte über den Genozid in Ruanda“ In: Isabella von Treskow/ Albrecht Buschmann/ Anja Bandau (eds.), Bürgerkrieg. Erfahrung und Repräsentation. Berlin 2005: 225-257 Caton-Johnes, Michael (2005): Shooting Dogs. DVD Courtemanche, Gil (2003): Un dimanche à la piscine à Kigali. Paris (Gallimard: folio) Diop, Boubacar Boris (2000): Murambi. Le livre des ossements. Paris (Stock) Erfurt, Jürgen (2005): Frankophonie. Sprache - Diskurs - Politik. Tübingen Fanon, Frantz [1961]: Die Verdammten dieser Erde. FfM 1981 Fichte, Hubert [1974]: Versuch über die Pubertät. FfM 1982 Fonkoua, Romuald (2003): „A propos de l’initiative de Fest’Africa - ‘témoignage du dedans’, ‘témoignage du dehors’.“ In: Lendemains (112), Rwanda - 2004. Témoignages et littérature. Tübingen (2003/ 2004): 67-72 George, Terry (2004): Hotel Ruanda. DVD Hardt, Michael/ Antonio Negri (2004a): „Krieg.“ In: Dies, Multitude. Krieg und Demokratie im Empire. FfM 2004: 17-120 Hatzfeld, Jean (2003): Une saison de machettes. Récits. Paris (Seuil: points) Malagardis, Maria (2008): „Rwanda. Sur la piste des tueurs.“ In: Vingt-et-un (2) 2008: 109-121 Peck, Raoul (2005): Sometimes in April. DVD Plessner, Helmut [1966]: „Unmenschlichkeit“ In: Ders., Mit anderen Augen. Aspekte einer philosophischen Anthropologie. Stuttgart 1982: 198-208 Stockhammer, Robert (2005): Ruanda. Über einen anderen Genozid schreiben. FfM 38 Discussion 1 Den ersten Teil des Titels verdanke ich Norbert Gstreins Roman über den Bürgerkrieg in Ex-Jugoslawien (Norbert Gstrein: Das Handwerk des Tötens. FfM 2003). 2 So auch das Fazit einer TV-Diskussion unter französischsprachigen Intellektuellen, die auf dem Gipfel der Frankophonie in Montréal im Oktober 2008 feststellten, in künstlerischer, zumal literarischer Hinsicht sei die Frankophonie durchaus erfolgreich, als politisches und das heißt ja vor allem auch sprachpolitisches Projekt hingegen aufgrund ihrer neokolonialistischen Implikationen äußerst fragwürdig. 3 Über die nach wie vor schwierigen und teilweise - etwa von Frankreich - nur halbherzig unternommenen Versuche, die Täter juristisch zur Verantwortung zu ziehen, vgl. den in dem neuen französischen Literaturmagazin Vingt-et-un erschienenen Artikel von Maria Malagardis (Malagardis 2008). 4 In Frankreich hat sich besonders der Journalist Jean Hatzfeld um die literarische Aufarbeitung des Genozids verdient gemacht, der aus Zeugenaussagen je ein Buch über die Opfer und eines über die Täter montiert hat, für die er mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet wurde. Auf differenzierte Weise haben sich auch die beiden Filmemacher Michael Caton-Johnes und Raoul Peck in ihren Filmen mit dem Thema auseinandergesetzt (ersterer mit Shooting Dogs und letzterer mit Sometimes in April, beide von 2005). Der wesentlich bekanntere Film Hotel Ruanda von Terry George aus dem Jahr 2004 hingegen ist an Geschmacklosigkeit höchstens noch vom dem lüsternen Roman Un dimanche à la piscine à Kigali des Kanadiers Gil Courtemanche (Courtemanche 2003) zu übertreffen. Zum Projekt Rwanda - écrire par devoir de mémoire vgl. Fonkoua 2003, www.festafrica.org/ fr/ projets/ projetrwanda.html. 5 Die Romanistin Anja Bandau hat sich in zwei Artikeln von überraschend unterschiedlicher Qualität mit der Darstellung des Völkermords auseinandergesetzt: Im ersten stellt sie die auf problematischen Vorannahmen beruhende Frage nach der Adäquanz literarischer Repräsentation (Bandau 2003), im zweiten begreift sie den literarischen Text eher als eine Art interdiskursiver Schnittstelle und untersucht, wie hier die Sexualisierung der Gewalt vor und während des Genozids zur Sprache kommt (Bandau 2005). 6 Besonders bei der Darstellung der geschichtlichen Zusammenhänge hat dieser Text Stockhammer viel zu verdanken. 7 Die Lösung, die Plessner für das moralische Dilemma vorschlägt, ist übrigens ganz ähnlich wie Lévinas’ Forderung nach einer Ethik des (Ver-)Antwortens das „Hören auf den einzelnen“. Resümee: Urs Urban, L’artisanat du meurtre. Post-scriptum à l’anthropologie littéraire du génocide au Rwanda. En partant d’une allégorie théorique décrivant la ‚relation anthropologique‘ le présent essai vise à analyser cette relation dans des textes littéraires portant sur le génocide au Rwanda en 1994. Le discours universitaire à ce sujet s’intéresse surtout au pouvoir paradoxal qu’a la littérature de déjouer le défi auquel la mettent les paradigmes de Adorno et de Agamben - à savoir l’impossibilité de la représentation et du témoignage ; il a tendance à en oublier la perspective des bourreaux qui, eux, peuvent très bien témoigner de ce qu’ils ont fait. Notre essai s’approche de cette perspective afin d’éclaircir la constitution anthropologique de ceux dont le métier est de tuer ainsi que les conditions discursives de sa représentation ; il s’appuie sur la lecture du Livre des ossements de Boubacar Boris Diop (2000) et du livre-collage de Jean Hatzfeld (2003: Une saison des machettes) qui tous les deux réussissent à transposer le respect des événements en une écriture respectant, elle aussi, l’histoire tout en proposant une poétologie à la hauteur de son temps.