eJournals lendemains 35/137

lendemains
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Narr Verlag Tübingen
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2010
35137

Gilbert Ziebura: Autobiographie 2009

2010
Roland Höhne
ldm351370056
12: 17: 38 56 Actuelles Roland Höhne Gilbert Ziebura: Autobiographie 2009 Anmerkungen eines langjährigen Schülers Gilbert Ziebura, der Begründer der sozialwissenschaftlichen Frankreichforschung in Deutschland nach 1945, kann auf ein reiches Lebenswerk zurückblicken. Er hat nicht nur zahlreiche Bücher und Aufsätze über Frankreich veröffentlicht, sondern sich auch intensiv mit den deutsch-französischen Beziehungen, der Europäischen Einigung und der Weltgesellschaft beschäftigt. Er hat überdies zeitweise eine wichtige Rolle in den deutsch-französischen zivilgesellschaftlichen Beziehungen gespielt und in zahllosen Artikeln und Vorträgen zu zeitgenössischen Themen Stellung genommen. Überblickt man sein Lebenswerk, dann läßt sich deutlich eine Entwicklung vom Institutionalismus zur Gesellschaftsanalyse feststellen. Den Weg dieser Entwicklung hat er nun in seiner Autobiographie nachgezeichnet. 1 In ihrem Mittelpunkt steht seine jahrzehntelange Auseinandersetzung mit der Politik in Theorie und Praxis. Dabei wandelte er allmählich seine wissenschaftstheoretischen Positionen und seine politischen Haltungen. Diesen Wandel versucht er durch die Verknüpfung seiner eigenen Lebenswelt mit den politischen und gesellschaftlichen Kontextfaktoren seiner Zeit zu erklären. Bei der Beschreibung seines Lebensweges konzentriert er sich daher auf „die Schnittstellen des Individuellen und Allgemeinen, dort, wo sich Mikro- und Makroebene berühren“. So fragt er sich, wie er mit politischen Konstellationen, von seiner Jugend unter Hitler, der Zeit scheinbarer Allmacht der Politik, bis zur Globalisierung aller Lebensverhältnisse seit dem ausgehenden 20. Jahrhundert, der Zeit scheinbarer Ohnmacht der Politik, umgegangen ist. Als Schlüssel zum Verständnis seiner Reaktionen auf die jeweiligen Kontextfaktoren betrachtet Ziebura seine „erste Sozialisation“ im NS-Regime und seine „zweite Sozialisation“ in der unmittelbaren Nachkriegszeit. Seine „erste Sozialisation“ wurde entscheidend vom Elternhaus, der katholischen Kirche, der Schule und den NS-Jugendorganisationen bestimmt. Obwohl 1924 in Hannover geboren und ab 1931 in Berlin aufgewachsen, liegen seine familiären Wurzeln in Schlesien. Sein Vater stammte aus einer oberschlesischen Kleinbauernfamilie, die noch Subsistenzwirtschaft trieb, seine Mutter aus der Familie eines Pächters aus der Umgebung von Liegnitz. Beide waren gut katholisch. Der Vater schlug 1913 die Unteroffizierslaufbau in der kaiserlichen Armee ein, statt als Ältester den väterlichen Bauernhof zu übernehmen.1919 wurde er in die Reichswehr übernommen. Durch die Teilung Oberschlesiens 1921 verlor er seine Heimat, da diese polnisch wurde. Vergeblich hatte er sich als Freiwilliger in den Grenzlandkämpfen der Teilung widersetzt. Dies bedeutete einen schweren Verlust für ihn, um so mehr, als nun ein Riß durch seine Familie ging. Einige seiner Geschwister optierten für Polen, andere hielten an ihrem Deutschtum fest. Nach seinem Ausschei- 57 Actuelles den aus der Reichswehr wurde er Verwaltungsbeamter, zunächst in der Zollverwaltung von Ratibor, ab 1931 in der Bezirksverwaltung von Berlin-Zehlendorf. Neben seiner schlesischen Herkunft und seinem Katholizismus haben ihn Militärdienst und Beamtenlaufbahn politisch und weltanschaulich entscheidend geprägt. Er war ein treuer Anhänger des Zentrums und las regelmäßig die Germania, verehrte jedoch gleichzeitig Hindenburg, in dessen Wachbataillon er zeitweise gedient hatte, und stand der Weimarer Republik mit einer gewissen Distanz gegenüber. Aus seinem Katholizismus und konservativen Patriotismus ergab sich aber auch eine anfängliche Ablehnung des Nationalsozialismus. Diese schmolz jedoch allmählich dahin, da er als Heimatvertriebener und Kriegsteilnehmer Hitlers Revisionspolitik billigte. 1936 trat er der NSDAP bei, um seine Beamtenstellung zu sichern. Mit der Zeit verinnerlichte er das NS-Regime. Der tiefere Grund für diesen Wandel bildete wohl seine obrigkeitsstaatlich Grundeinstellung. Er akzeptierte die jeweilige Obrigkeit quasi als von Gott gegeben, so lange diese ihm seinen Glauben ließ. Kritik an ihr lag außerhalb seiner politischen Vorstellungswelt. Er sprach daher in der Familie auch nie über Politik. Entsprechend seinen Grundüberzeugungen erzog er seine Söhne „mit harter Hand und zugleich liebevollem Herzen“ (18). Geistige oder politische Auseinandersetzungen spielten dabei keine Rolle. Sein Sohn übernahm daher zunächst das Weltbild des Vaters, das er später so vehement ablehnte. Stärker als Ziebura annimmt, scheint hier eine der wesentlichen Ursachen seines späteren Rebellentums zu liegen. Nächst dem Elternhaus war es die katholische Kirche, die ihn entscheidend prägte. Von den Eltern streng katholisch erzogen, besuchte er regelmäßig die Messe und wurde als Oberschüler Mitglied im katholischen „Bund Neudeutschland“. Dieser betrachtete sich als Teil der bündischen Jugend und vertrat politisch eine völkisch-nationale Grundposition. Es war jedoch weniger diese, die Ziebura formte, als vielmehr das Gemeinschaftserlebnis, das er hier erfuhr. Als er auf Entscheidung des Vaters 1936 in das Jungvolk, zwei Jahre später in die Hitler-Jugend eintrat, erleichterte dieses erheblich die Anpassung an die NS-Welt. 2 Er hielt jedoch am Katholizismus fest und besuchte weiterhin regelmäßig die Messe sowie die Heimabende seiner Pfarrei. Weit geringer Spuren als Elternhaus und Kirche hinterließ die Schule. Nach der vierjährigen Volksschule besuchte er ab 1935 die Schadow Oberrealschule in Zehlendorf, auf welche die sozialen Aufsteiger ihre Kinder schickten. In dieser herrschte „…ein merkwürdig diffuses, unsicheres, widersprüchliches Verständnis von den zu vermittelnden Lehrinhalten.“ (27) Trotz der staatlichen Bemühungen um weltanschauliche Gleichschaltung hielten viele Lehrer an ihren pädagogisch-didaktischen Gewohnheiten wie an ihren Lehrstoff so weit wie möglich fest. Da sich NS-Ideologie und bürgerlicher Bildungskanon nicht miteinander vertrugen, war das Ergebnis des Schulunterrichts desolat. 3 Er machte aus Ziebura keinen humanistischen Bildungsbürger. Wie viele Angehörige seiner Generation aus dem kleinbürgerlich-katholischen Milieu lebte Ziebura im NS-Regime in zwei Welten: einerseits Religion und Bürger- 58 Actuelles lichkeit, andererseits NS-Ideologie und staatliche Vergemeinschaftung. Er praktizierte unbewußt, fast wie selbstverständlich, „eine hybride Existenz, die auf der Trennung und zugleich Koexistenz von privater eigenwilliger und eigensinniger Lebensgestaltung und der passiven, ertragenen Einbindung in die gleichgeschaltete Öffentlichkeit beruhte, ein in Wahrheit prekäres Nebeneinander letzten Endes unvereinbarer Wert- und Lebensvorstellungen, das auf Dauer angesichts des wachsenden Terrors nicht hätte durchgehalten werden können“ (39). Die Einberufung zur Wehrmacht im Dezember 1942 erschien ihm daher als Erlösung. In seinen Kalender trug er unter dem Einberufungsdatum „endlich“ ein. Sie wurde aber auch gleichzeitig zum Wendepunkt seines Lebens, denn am dritten Tage seines Einsatzes an der Ostfront wurde er im November 1943 schwer verwundet. Nun begann ein allmählicher Umdenkungsprozeß, der zunächst zur Distanzierung vom NS-Regime, dann, nach dem Kriege, zu einer radikalen Abkehr von seinen bisherigen politischen und weltanschaulichen Vorstellungen und zur Hinwendung zu westlich-demokratischen Ideen führte. Übrig blieben von seiner „ersten Sozialisation“ nur sein katholischer Glaube sowie gewisse Charaktereigenschaften, die auch sein späteres politisches Verhalten prägten. Einen wichtigen Schritt auf dem Weg der inneren Abwendung vom NS-Regime bildete ein Abiturlehrgang für Schwerkriegsbeschädigte in Cottbus Ende 44, Anfang 45. Hier konnte er nicht nur Schulversäumnisse nachholen, sondern auch über die politischen Ursachen seiner schweren Verletzung nachdenken und mit Leidensgefährten darüber sprechen. Allerdings verliert er in seiner Autobiographie über seine Verwundung keine großen Worte. Dies erstaunt, denn hier trafen das Individuelle und das Allgemeine existentiell aufeinander. Psychologisch dürfte daher die Kriegsbeschädigung eine große Rolle in seiner politischen Entwicklung gespielt haben. Sein späterer Antimilitarismus und Antinationalismus waren sicherlich nicht nur intellektuelle Reaktionen auf Krieg und Nationalsozialismus, sondern auch Auswirkung eigener existentieller Erfahrung. Das Kriegsende erlebte Ziebura in Berlin-Zehlendorf. Vom Endkampf in der Innenstadt war er nicht direkt betroffen (90 000 Tote auf sowjetischer, 115 000 Tote auf deutscher Seite), wohl aber von den Plünderungen und Vergewaltigungen sowjetischer Soldaten der zweiten Welle. Mit dem Ende der alten Ordnung löste sich für ihn alles in Nichts auf. „Von dem Regime, das ich innerlich schon abgeschrieben hatte, bewegte ich mich in eine neue, mir unbekannte Zukunft, mit der ich weder Hoffnung noch konkrete Perspektiven verband. Ich empfand eine existentielle Leere - eine „Stunde Null“ im Vollsinn des Wortes. Vor allem fehlten mir zwei Voraussetzungen, um mich zu orientieren, um festen Boden unter die Füße zu bekommen: Das Aufarbeiten der Verbrechen des Nationalsozialismus als Akt politischer Katharsis und, daraus folgend, die Geburt einer neuen Weltsicht, in die ich den Neuanfang einbetten konnte“ (55). Beides vollzog sich erst allmählich im politisch-sozialen Kontext der Nachkriegszeit. 59 Actuelles Die Hinwendung zu den westlichen Werten und Ideen: Die „zweite Sozialisation“ Ziebura hatte keine Schwierigkeiten, sich in den neuen Verhältnissen zurecht zu finden. Diese wurden entscheidend von den USA bestimmt, die im Juli 1945 Zehlendorf und seine Nachbarbezirke besetzt hatten. Begierig verschlang er alle Informationen, die ihm die neuen Massenmedien boten. Am stärksten hat ihn die Information über den NS-Massenmord an den europäischen Juden getroffen. „Die damit verbundene Erschütterung stellte das Fundament meiner nun beginnenden zweiten Sozialisierung dar. Die Bilder von der Befreiung der Konzentrationslager, dann die immer genaueren Enthüllungen über die Ungeheuerlichkeiten der Judenvernichtung erfüllten mich mit einer fast schmerzhaften Scham, die so weit ging, mir mein Deutschtum als schwere Last erscheinen zu lassen.“ (60) Eine blinde Rückkehr zu irgendeiner Art „Normalität“ deutscher Verhältnisse war ihm nun unvorstellbar. Sogar die sich durchsetzende Unterscheidung zwischen individueller Schuld und kollektiver Verantwortung, wie sie von Karl Jaspers vertreten wurde, empfand er als Haarspalterei (60). Studium im geteilten Berlin Im WS 1946/ 47 begann Ziebura mit dem Studium der Geschichte, Philosophie und Germanistik an der Linden-Universität im sowjetischen Sektor von Berlin. Die Germanistik ersetzte er bald durch die Romanistik. Er hatte in der Realoberschule Französisch gelernt und besaß damit die Mindestvoraussetzung für das Romanistikstudium, aber Frankreich lag zu jener Zeit noch außerhalb seines Gesichtskreises und Interesses. Die Franzosen hatten zwar auch einen Sektor in Berlin, aber der lag im Norden der Stadt weit ab vom Zentrum. Den Ton im Westen gaben die Amerikaner an. Den größten Eindruck unter seinen Lehrern an der Linden-Universität hinterließ der Verfassungshistoriker Fritz Hartung. Dieser war noch vom wilhelminischen Kaiserreich geprägt und vertrat die Auffassung, daß eine Revision des tradierten Geschichtsbildes zwar notwendig sei, warnte aber unter Berufung auf J.G. Droysen vor einem vorschnellen Bruch mit der Vergangenheit. Ziebura war da anderer Meinung. Er hielt aufgrund des Zusammenbruchs einen raschen Bruch für notwendig (73). Rückblickend fällt er ein eher negatives Urteil über den damaligen Lehrbetrieb an der Linden-Universität. „Die Professoren waren sichtbar erfreut, endlich wieder an das vertraute bürgerliche Bildungsideal anzuknüpfen, als hätte es das Nazi- Regime nicht gegeben. Dieses (scheinbar) wertfreie Wissenschaftsverständnis, das Widersprüche und Brüche ausklammerte, half mir zwar, den vermittelten Wissensstoff zu verarbeiten, ließ aber meinen Hunger nach Orientierung unbefriedigt.“ (75) Zum Ende des Sommer-Semesters 1948 verließ Ziebura wie viele anderen Studenten die Linden-Universität. Entscheidend für seinen Entschluß war nicht die schleichende Sowjetisierung der Universität, von der er wenig wahrnahm, sondern die politische Großwetterlage: Ost-West-Konflikt, Währungsreform und Blockade 60 Actuelles (77). Sie beendete „die kurze, turbulente Zeit des politischen wie intellektuellen Interregnums, wo alle Fragen noch offen waren“ (78). Von nun an habe wieder ein Freund-Feindverhältnis zwischen den politischen Hauptakteuren geherrscht, von dem restaurative Kräfte im Westteil der Stadt profitiert hätten. Ziebura beteiligte sich an der Gründung der Freien Universität in Berlin-Dahlem und engagierte sich in der Studentenvertretung. Er wurde ins Konzil gewählt und als Vertreter in die Philosophische Fakultät entsandt. Damit kombinierte er sein wissenschaftliches Studium mit politischer Praxis, allerdings auf der universitären Spielwiese (78). Im Geschichtsstudium an der FU beeindruckte ihn vor allem Hans Rosenberg, der in die USA emigriert war und im SS 1949 als Gastprofessor am Historischen Seminar lehrte. Zum ersten Mal begegnete ich einem Lehrer, der Gelehrsamkeit mit klaren, linksliberal eingefärbten Werturteilen verband, die nicht nur Wissen, sondern Orientierung vermittelten, indem er bohrende und zugleich erhellende, weiterführende Fragen stellte, sich nicht aufdrängte, vielmehr darauf achtete, das in seinen Schülerinnen und Schülern angelegte Potential zu entwickeln - ein Analytiker und Antipositivist, der den Dingen auf den Grund gehen will, dem Erkenntnis mehr bedeutet als Kenntnis, der das Problem, warum es eigentlich so gekommen ist, für wichtiger hält als die Frage, wie es eigentlich gewesen ist.4 Ziebura betrachtete Rosenberg als einen Glücksfall, da er wissenschaftstheoretisch eine Gegenposition zum liberal-konservativen Neuhistoriker Hans Herzfeld vertrat. Dieser kritisierte zwar die Übersteigerung der deutschen Staatsidee und, als Folge, die Mißachtung der Freiheits- und Gleichheitsrechte des Individuums, hielt aber an seinem Konzept einer vom Primat der Außenpolitik gekennzeichneten Staatsgeschichte fest (86). Ziebura wurde so in seinem Berliner Studium mit drei sehr unterschiedlichen Persönlichkeiten konfrontiert. Erste Kontakte mit Frankreich Im Frühsommer 1947 erhielt Ziebura durch Vermittlung des katholischen Studentenpfarrers der Linden-Universität eine Einladung zu einem deutsch-französischen Studententreffen, das im September 1947 in Überlingen stattfinden sollte. Organisiert wurde dieses vom linkskatholischen Centre d’Etudes culturelles, économiques et sociales in der französischen Besatzungszone. Dessen Ziel war es, junge Deutsche und Franzosen miteinander ins Gespräch zu bringen und die Öffentlichkeit beider Länder gegenseitig aufzuklären. Zu diesem Zwecke veröffentlichte es seit August 1945 auch zwei Zeitschriften: Dokumente, die Deutsche über Frankreich, und Documents, die Franzosen über Deutschland informierten. Im Gegensatz zu den drei westlichen Besatzungsmächten strebte das Zentrum nicht die reeducation der Deutschen, sondern die deutsch-französische Aussöhnung an. Für Ziebura wurde daher das Treffen zu einem Damaskus-Erlebnis. Hauptthema des Treffens waren NS-System und Kriegserfahrung der Teilnehmer. Dabei prallten die gegenseitigen Meinungen so hart aufeinander, daß die deutschen 61 Actuelles Teilnehmer am dritten Tag beschlossen, nach Hause zu fahren Durch Vermittlung des französischen Studentenpfarrers aber ging die Tagung weiter. „An die Stelle gegenseitiger Anklage trat der Wille zu schlichter kühler Analyse. Immer stärker setzte sich die Erkenntnis von der Notwendigkeit durch, eine gemeinsame Zukunft zu bauen, ohne unterschiedliche Positionen und Erfahrungen zu vertuschen“ (93). Dieses Treffen stellte einen Wendepunkt in meinem Leben dar; es gab der zweiten Sozialisierung einen völlig neuen Inhalt, indem es meine aus der Berliner Perspektive bestimmte Weltsicht öffnete, die, unter dem Eindruck der beginnenden Supermacht-Konfrontation, den Einzelnen (wieder einmal) zum ohnmächtigen Objekt weltpolitischer Prozesse zu degradieren schien. In Überlingen war ich plötzlich selbst Handelnder, konnte an einem Werk mitwirken, das mich immer mehr in seinen Bann zog. Hinzu kam die Erkenntnis, daß sich politische Konflikte nur überwinden lassen, wenn die Gegensätze, falls nötig mit aller Härte, durchgefochten werden. Erst dann wird der Blick frei für das, was zu tun ist, um mit ihnen fertig zu werden. Hier liegt der Grund, warum ich an die Entwicklung der deutsch-französischen Beziehungen immer hohe Maßstäbe angelegt habe. (94) Dem Treffen in Überlingen folgten weitere, zwei davon (1950 und 1951) in Berlin. So entstanden Freundschaften, die viele Jahre hielten und ein deutsch-französisches Netzwerk, das Ziebura half, seine Kontakte mit Franzosen zu vertiefen und zu erweitern. Als Mitarbeiter der Zeitschriften Documents und Dokumente wurde er auch institutionell in dieses Netzwerk eingebunden. Politisch vertrat Ziebura damals das Konzept „Europa als dritte Kraft“ zwischen den Supermächten. Später, als die europäische Integration Teil der offiziellen Staatspolitik von Frankreich und der Bundesrepublik geworden war, hielt er kritische Distanz zu ihr, um das „Denken in Alternativen“ offen zu halten (107). Dies führte zu Konflikten mit alten Weggefährten, u.a. mit Alfred Grosser. Studium in Paris Die sowjetische Blockade West-Berlins verhinderte Zieburas Teilnahme am deutsch-französischen Treffen von 1948. Dafür ermöglichte ihm die französische Militärregierung einen Besuch von Paris. 5 Hier lernte er Arbeiterpriester kennen, die ihm einen Einblick in die prekäre Lage des französischen Proletariats gewährten. Für ihn eine völlig neue Erfahrung. Dank eines Stipendiums der französischen Regierung konnte er dann zwei Jahre später (1950/ 51) in Paris studieren. Er lernte nun den französischen Alltag kennen, wenn auch aus studentischer Sicht. Er beschäftigte sich vor allem mit „französischer Zivilisation“, bestehend aus Geschichte, Sprache, Literatur und Kunst. Im folgenden Studienjahr 1951/ 52 sammelte er mit finanzieller Unterstützung der Studienstiftung des deutschen Volkes Material für eine Dissertation über das Deutschlandbild in der französischen Öffentlichen Meinung in den letzten Jahren vor dem I. Weltkrieges. Ihm ging es dabei um die Frage, ob die Revancheidee wirklich die große Rolle beim Ausbruch des Krieges gespielt hatte, die ihr von der deutschen Geschichtsschreibung damals noch zugeschrieben wurde (111). 62 Actuelles Die offizielle Betreuung der Arbeit übernahm Hans Herzfeld, sein Betreuer vor Ort aber war Pierre Renouvin, die zentrale Gestalt der französischen Zeitgeschichtsforschung. Dieser beschäftigte sich nicht nur mit den Internationalen Beziehungen als Staatengeschichte, die von großen Persönlichkeiten gemacht wurde, sondern ebenfalls mit innergesellschaftlichen Faktoren, zu denen die öffentliche Meinung gehörte. Ziebura entwickelte zu ihm ein gutes Verhältnis, das deutlich seine Forschungsarbeit beeinflußte. Diese widerlegte die bisherige Einschätzung der Revancheidee durch die deutsche Geschichtsschreibung und trug damit zur Revision des traditionellen Geschichtsbildes bei. 6 Zieburas Dissertation stieß deshalb auf erheblichen Widerspruch innerhalb des Faches, wie das distanzierende Vorwort von Herzfeld in der 1955 veröffentlichten Arbeit zeigt. Mit der Promotion beendete Ziebura sein Studium. Er hatte es völlig frei gestalten können und sich nie dem Zwang eine Curriculum oder einer Prüfung unterwerfen müssen. So beschäftigte er sich nur mit dem, was ihn interessierte. Das erhöhte die Lernmotivation und beschleunigte das Studium, hinterließ aber auch erhebliche Lücken. Mit theoretischen Gegenpositionen hat sich Ziebura nur polemisch auseinandergesetzt, um sie zu verwerfen, nicht um sie zu verstehen. Auch später war er dazu nicht bereit. So faszinierend seine Thesen und so spannend seine Ausführungen auch immer waren, offene Diskusionen waren mit ihm nur schwer zu führen. Der mentale Autoritarismus des Vaters hinterließ hier verhängnisvolle Spuren. Die Begegnung mit Frankreich hat einen großen Einfluß auf seine geistige Entwicklung ausgeübt. Sie „hat meine nationalen, mentalen und ideologischen Scheuklappen hinweg gefegt und mich darüber hinaus unmittelbar mit dem Drama der europäischen Geschichte konfrontiert. Praktisches Engagement und wissenschaftliche Arbeit brachten mich schließlich zur Überzeugung, daß die Gestaltung der Zukunft zu wichtig ist, um sie der Realpolitik zu überlassen. Für mich bleibt bis auf den heutigen Tag das Ringen um eine Vision entscheidend, die es erst ermöglicht, der Politik Orientierung und damit innere Legitimität zu verleihen.“ (116) Allerdings verlief seine Begegnung mit Frankreich sehr einseitig. Das deutschfranzösische Netzwerkes der Jahre 1947-1952 öffnete ihm den Zugang zum französischen Linkskatholizismus, aber nicht zur dominierenden Elite. Als Doktorand in Paris hat er den französischen Universitätsbetrieb von innen nicht kennengelernt. Er mußte sich daher auch nicht mit diesem auseinandersetzen. Ihm fehlte so eine wertvolle Erfahrung zum Verständnis der französischen Wissenschaftskultur. Es war daher sehr verdienstvoll, daß er dank seiner guten Beziehungen zu Alfred Grosser später seinen Doktoranden die Teilnahme am Cycle supéreure d’études politiques am Institut d’Etudes politiques (Sciences Po) in Paris ermöglichte. Katholizismus als geistiger Mittelpunkt Von den Überzeugungen und Gewißheiten der „ersten Sozialisation“ blieb nach dem Zusammenbruch des NS-Regimes nur sein katholischer Glaube. Aber auch 63 Actuelles dieser wurde durch das Kriegserlebnis und den politischen Umbruch verändert. Die jugendliche Romantik, die seine Religiosität geformt hatte, ging fast völlig verloren. Dafür erschien ihm sein Glaube nun als Rettungsring in den aufgewühlten Gewässern der Zeit, „ein unzerstörbarer Orientierungspunkt in all den Umbrüchen, mit denen ich fertigwerden mußte.“ (117) Durch einen jungen Kaplan geriet er in Kontakt mit der katholischen Soziallehre. „Er beeinflußte uns entscheidend, indem er den Zusammenhang von Kirche und Gesellschaft erklärte und damit meinen katholischen Glauben gewissermaßen rationalisierte, alle Schwärmerei wie Nebelschwaden vertrieb. Ihn interessierten nicht Gefühle, sondern unbestechliche Einsicht. Genau das brauchte ich zu dieser Zeit“ (118). Das Engagement für den Linkskatholizismus nahm zwar allmählich ab, dessen Intentionen aber bildeten einen festen Bestandteil seines neuen Weltbildes. Die Bindungen an die katholische Amtskirche lockerten sich dagegen, da diese in seinen Augen unfähig war, sich mit den politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen auseinanderzusetzen. (122) Politisches und publizistisches Engagement Nach seiner Promotion engagierte sich Ziebura in der „großen Politik“. Er widersetzte sich der Wiederbewaffnung der Bundesrepublik, weil er fürchtete, diese würde die Spaltung Deutschlands vertiefen und im europäischen Ausland antideutsche Ressentiments fördern (123). Er sympathisierte eine Weile mit der Gesamtdeutschen Volkspartei von Gustav Heinemann, der Adenauers Politik bekämpfte, trat ihr aber nicht bei (124). Er schrieb auch wieder für eine linkskatholische Wochenzeitung, „Michael“, in der er vor allem in den Jahren 1953-1955 über die DDR sowie über West-Berlin berichtete. Sein Herz schlug jedoch weiterhin für die Wissenschaft. Allerdings wollte er nicht bei den Historikern bleiben, weil diese ihm noch zu konservativ waren. Statt dessen wandte er sich den Politikwissenschaften zu und wurde ab 1. April 1955 Assistent am Lehrstuhl von Ernst Fraenkel an der Deutschen Hochschule für Politik. Hier beschäftige er sich mit französischer Geschichte und Politik, deutsch-französischen Beziehungen und dem europäischen Einigungsprozeß. Seine wissenschaftliche Entwicklung wurde in dieser Zeit stark von Fraenkels Pluralismustheorie beeinflußt. 7 Allerdings interessierte er sich auch wie sein ehemaliger Lehrer am Friedrich-Meinecke-Institut Hans Rosenberg für die gesellschaftlichen Grundlagen politischen Handles. FRANKREICH-FORSCHUNG Im Mittelpunkt seiner 1956/ 57 und 1960 erschienen Quellenbücher zur IV. und V. französischen Republik stehen zwar die Institutionen einschließlich der Parteien und Interessenverbände. In Anlehnung an François Goguel, einen führenden französischen Politologen jener Zeit, erweiterte er aber seinen Untersuchungsgegenstand auf das ganze „régime politique“. Mit diesem Begriff waren nicht nur Institutionen gemeint, „sondern zugleich ihr Funktionieren unter dem Einfluß mannigfa- 64 Actuelles cher politischer, sozialer und wirtschaftlicher Kräfte des Landes in ihren historischen, geographischen und soziologischen Bedingtheiten“ (144). Besonders in seinen Ausführungen über den Niedergang des traditionellen Parlamentarismus im ersten Teil seiner beiden Publikationen bemühte er sich, Geschichte, Ökonomie, Ideologie und politisches System als Einheit zu begreifen. Damit legte er die Grundlagen für die in den 60er Jahren dann einsetzende sozialwissenschaftliche Frankreichforschung. In seiner Habilitationsschrift über den französischen Sozialistenführer und Ministerpräsidenten der Volksfrontregierung (1936/ 1937), Léon Blum (1872-1950), von 1963 beschränkte er sich nicht nur auf die Biographie Blums, sondern untersuchte auch die Entstehung und den Inhalt seiner Ideologie, den Zustand der Sozialistische Partei SFIO und deren Politik innerhalb des parlamentarischen Regierungssystems der III. Republik. Aus Zeitmangel mußte er jedoch die Arbeit 1934, dem Beginn einer schweren innerfranzösischen Krise, abbrechen und konnte so deren Auswirkung auf das parlamentarische System nicht mehr bearbeiten. Sie blieb so ein Torso. Er untersuchte auch nicht die sozio-ökonomischen Machtstrukturen der französischen Gesellschaft, „ um mit ihrer Hilfe die Politik der SFIO zu erklären und, darüber hinaus ihren konkreten Handlungsspielraum bei dem Versuch zu bestimmen, sie nicht nur zu verwalten, sondern zu verändern,“ wie er selbstkritisch in seiner Autobiographie anmerkt (155). Bei dieser Selbstkritik übersieht er jedoch, daß er trotz des Einflusses von Hans Rosenberg zu jener Zeit noch stark dem institutionellen Ansatz Fraenkels verhaftet war. Trotz der rückblickend von ihm beschriebenen Mängel brachte die Arbeit für ihn den wissenschaftlichen Durchbruch. Er war nun der allseits anerkannte führende Frankreichexperte in der bundesdeutschen Politikwissenschaft. Wie hoch sein wissenschaftliches Prestige damals war, zeigt seine Berufung auf einen politikwissenschaftlichen Lehrstuhl für Internationale Beziehungen an das Otto-Suhr-Institut 8 der FU Berlin schon zum WS 1964/ 65. Diese hatte jedoch zur Folge, daß er nun seine Beschäftigung mit Frankreich einschränken mußte. Trotzdem gingen weiterhin wichtige Impulse zur Frankreichforschung von ihm aus. Einen weiteren Einschnitt in seine Universitätskarriere bildeten die Studentenunruhen von 1968 und ihre Nachwehen, die er unmittelbar am Otto-Suhr-Institut der FU erlebte. Er teilte zwar nicht den dogmatischen Marxismus und die pseudorevolutionäre Zielsetzung des radikalen Flügels der rebellierenden Studenten, hatte aber Verständnis für ihre akademischen Motive. Auch er hielt eine Reform der Universität sowie ihre Öffnung für neue Fragestellungen und Methoden für dringend erforderlich. In den Auseinandersetzungen um die Hochschulreform versuchte er gemeinsam mit einigen gleichgesinnten Kollegen des Otto-Suhr-Instituts zwischen den Fronten zu vermitteln. Ihm ging es um eine grundlegende Demokratisierung und Dezentralisierung der Universität. An die Stelle der alten Ordinarienuniversität sollte die dezentralisierte Gruppenuniversität als Gemeinschaft aller am Wissenschaftsprozeß Beteiligten treten. 65 Actuelles Demokratisierung und Dezentralisierung waren für Ziebura kein Selbstzweck, sondern Mittel zur Verbesserung der wissenschaftlichen Leistungsfähigkeit. Er dachte nicht von den Institutionen sondern von den Inhalten her. Allerdings überschätzte er bei weitem die Kooperationsbereitschaft aller an den Debatten Beteiligten. Den radikalen Studentengruppen ging es nicht um eine demokratische Reform der Universität, sondern um ihre Umwandlung in eine revolutionäre Kaderschmiede. Daran scheiterte auch Zieburas Reformkonzept für das Otto-Suhr-Institut, für das er sich mit großem Zeit- und Kraftaufwand eingesetzt hatte. Eine weitere Enttäuschung erlebte Ziebura als wissenschaftlicher Sachverständiger für Frankreich im Planungsstab von Bundeskanzler Kiesinger in den Jahren 1967/ 1969. Er erarbeitete zwar kluge Analysen über de Gaulles Politik, die auch innerhalb des Planungsstabes intensiv diskutiert wurden, sein Einfluß auf die Frankreich- und Europapolitik Kiesingers war jedoch gering, wenn nicht gleich null. So erlebte er auch hier die Grenzen seiner Einflußmöglichkeiten. (195ff.) Zu neuen wissenschaftlichen Ufern Die negativen Erfahrungen im Planungsstab und am Otto-Suhr-Institut in den Jahren 1967-1969 gingen an Ziebura nicht spurlos vorüber. Er zog sich aus der Politik zurück und konzentrierte sich wieder ganz auf die Wissenschaft. Unter Rückgriff auf die Fragestellung von Hans Rosenberg und Eckart Kehr 9 rückte nun die Frage nach dem Zusammenhang von Gesellschaftssystem und Außenpolitik immer stärker in den Mittelpunkt von Lehre und Forschung. Erstes größeres Ergebnis der neuen Forschungsrichtung bildete der umfangreiche Aufsatz über die internen Faktoren des französischen Hochimperialismus 1871-1914. 10 „Es ging darum, den Imperialismus als Produkt einer spezifischen internen Konstellation von Politik, Ökonomie und Ideologie zu begreifen, also aus einem Verständnis von Gesellschaft als Totalität, noch nicht explizit, doch der Intention nach.“ (246) Ziebura kam zu dem Ergebnis „daß bei der Eroberung des enormen Kolonialreiches im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts weniger ökonomische Faktoren eine Rolle spielten als der Wille einer kleinen Gruppe, die Niederlage von 1870/ 71 und die Stagnation des französischen Kapitalismus vor dem Hintergrund einer malthusianischen Gesellschaft zu kompensieren als Mittel, innerhalb der sich verschärfenden internationalen Spannungen als Großmacht zu bestehen.“ (246) Im nächsten Schritt seiner theoretischen Entwicklung näherte sich Ziebura der französischen Annales-Schule an. Er vertrat nun die These, „daß eine Geschichte von Wirtschaft und Gesellschaft, die ihrem Anspruch gerecht werden soll, zwangsläufig Totalgeschichte sein muß, da Gesellschaft nur als integrale und integrierte Summe aller ihrer Segmente denkbar ist.“ 11 Damit wollte er der Interdependenz von Wirtschaft, Gesellschaft und Politik Rechnung tragen und so der „sachlich und theoretisch widersinnigen Fraktionierung von Realitäten“ entgegenwirken“ (249). Allerdings bemühte er sich um eine Modifizierung des Konzepts, um es für seine empirischen Arbeiten brauchbar zu machen. Bei seinen theoretischen Überlegun- 66 Actuelles gen ging es ihm um Antworten auf die Frage, „worauf es bei der historischen Darstellung einer nationalen bürgerlichen Gesellschaft ankommt“ (287). Dabei berücksichtigte er auch eine in den siebziger Jahren in Frankreich heftig geführte Debatte unter neomarxistischen Sozialwissenschaftlern über den Begriff „Gesellschaftsformation“. Mit diesem sollte die sterile Kontroverse zum Verhältnis „Basis-Überbau“ überwunden werden, ohne den gesamtgesellschaftlichen Ansatz aufzugeben. Ziebura übernahm den Begriff, erarbeitete aber seine eigene Definition. 12 Auf ihrer Grundlage wollte er eine Geschichte Frankreich seit 1789 in drei Bänden schreiben. Erschienen ist jedoch nur der erste Band. 13 Er wurde in der Fachwelt heftig kritisiert, in diskreter Form auch von Hans Rosenberg. Besonders dessen kritische Anmerkungen haben Ziebura hart getroffen (289). Trotzdem wollte er an dem Projekt festhalten. Da er die erforderliche Arbeit aufgrund seiner zahlreichen akademischen Verpflichtungen alleine nicht bewältigen konnte, suchte er einen kompetenten Mitarbeiter, fand aber keinen. So begnügte er sich mit mehreren Aufsätzen über den Themenbereich. Sie bildeten für ihn keinen Ersatz für die geplanten Folgebände, zeigten aber, was diese an Erkenntnissen über die französische Geschichte hätten bringen können. Das Scheitern seines Projekts brachte Ziebura zu der Einsicht, daß er mit seinem hohen theoretischen Anspruch in eine Sackgasse geraten war. Um aus dieser herauszukommen, vermied er in Zukunft schillernde Großbegriffe, hielt aber weiterhin an seinem gesamtgesellschaftlichen Anspruch fest (290). Ziebura übertrug seine neue theoretische Sichtweise auch auf die internationalen Beziehungen. Angesichts der wachsenden weltweiten Verflechtung der nationalen Gesellschaften sprach er allerding nun von Weltgesellschaft. Damit war er seiner Zeit abermals ein Stück voraus. Die gegenwärtige Finanz- und Wirtschaftskrise zeigt, daß er recht hatte. Die Interaktionen der nationalen Gesellschaften lassen sich nur noch in ihrem weltweiten Zusammenhang verstehen. Ihm ging es dabei um eine doppelte Fragestellung: Was blieb angesichts der im Westen fortschreitenden „Globalisierung, Universalisierung und Internationalisierung “ noch von klassischer Außenpolitik übrig? Und andererseits: Welche neuen Machtstrukturen bilden sich in dieser zunehmenden Interdependenz der Nationalstaaten heraus und wie wirken sie auf die nationalen Gesellschaften zurück? Als sich die Möglichkeit bot, einen Sonderforschungsbereich (SFB) über „Bestimmungsfaktoren der Außenpolitik in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts “am Otto-Suhr-Institut aufzubauen, griff er beherzt zu. Er wollte damit „einen Beitrag zur Erarbeitung einer Theorie der Weltgesellschaft (…) leisten, wozu folgerichtig der Funktionswandel des Staates und damit der traditionellen Außenpolitik gehörten. Als entscheidende Determinanten außenpolitischen Verhaltens rückten die weltgesellschaftlichen Machtverhältnisse, etwa in Gestalt der ungleichen, ‚gestuften’ internationalen Arbeitsteilung und der sich daraus ergebenden Interdependenz- und Dependenzverhältnisse, in den Vordergrund.“ (253) Sein Vorhaben wurde sowohl innerhalb des OSIs als auch in der Universität unterstützt, stieß aber auf den Widerstand des Kuratoriums, in dem Vertreter der Senatsverwaltung wie der Parteien und Verbände saßen. Sie kritisierten die Höhe 67 Actuelles der geplanten Gesamtkosten von knapp 11 Mio. DM in fünf Jahren. Der Projektantrag mußte deshalb noch einmal grundlegend überarbeitet werden. Dadurch ging wertvolle Zeit verloren. Trotzdem wurde der Antragstext mit letzter Kraftanstrengung bis Mitte Juni 1974 fertigstellt. Das Kuratorium lehnte ihn aber abermals ab. Politische Motive haben dabei sicherlich eine zentrale Rolle gespielt. Damit war ein großartiges Projekt an der Engstirnigkeit von Politikern und Senatsvertretern gescheitert. Trotzdem haben sich die konzeptionellen Vorarbeiten befruchtend auf die Theoriedebatte der internationalen Beziehungen ausgewirkt. Der in Berlin am OSI entstandene Diskussionszusammenhang zwischen Forschern unterschiedlicher theoretischer Ansätze aber zerfiel, die Mitarbeiter des Projekts verliefen sich in alle Winde. Wissenschaftliche und politische Entfremdung Die neue wissenschaftliche Orientierung Zieburas führte zunächst zur Entfremdung von vielen Kollegen, mit denen er bisher am OSI zusammengearbeitet hatte, dann zum Streit mit alten Freunden und zur Auflösung alter Arbeitsbeziehungen. Wohl der persönlich bitterste Streit war der mit Alfred Grosser, einem alten Freund aus der Frühzeit der deutsch-französischen Verständigungsbemühungen. Anlaß war die unterschiedliche Einschätzung der deutsch-französischen Beziehungen. Ziebura hatte in einem 1970 erschienen Essay 14 ein eher pessimistisches Bild von ihnen gezeichnet, das von Grosser scharf kritisiert wurde. (259) Ziebura beklagte die geringe Substanz der offiziellen Beziehungen beider Länder und schätzte den Wert des „Freundschaftsvertrages“ von 1963 gering ein, Grosser lobte dagegen die seit 1945 gemachten Fortschritte in den bilateralen Beziehungen. Der inhaltliche Gegensatz zwischen beiden war so stark, daß darunter nicht nur ihre persönlichen Beziehungen litten, sondern daß auch eine geplante französische Ausgabe bei den Editions du Seuil nicht zustande kam. Dem Bruch mit Grosser folgte der mit der „Gesellschaft für Übernationale Zusammenarbeit“, mit der Ziebura seit ihren Anfängen zusammenarbeitet hatte und deren Vorstand er angehörte (263) sowie zu einem tiefgreifenden Dissens mit dem Forschungsinstitut der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP). So geriet Ziebura mit seinem gesellschaftstheoretischen Ansatz innerhalb des Faches mehr und mehr in die Isolierung. Aber auch politisch wurde es um ihn einsamer. Die Mehrheit seiner Kollegen am Otto-Suhr-Institut unterstützte das Konzept der „wehrhaften Demokratie“, welche Staat und Gesellschaft vor dem Terrorismus der „Roten Armee-Fraktion“ (RAF) schützen sollte. Auch Ziebura lehnte den Terrorismus entschieden ab, fürchtete aber, daß die „wehrhafte Demokratie“ zu einer Einschränkung der Bandbreite der öffentlichen Debatte führen würde, weil sie alle Gesellschaftskritik unter den Generalverdacht der Demokratiefeindlichkeit stellte (266f.). Der „Extremisten-Beschluß“ vom Januar 1972 bestätigte ihn in seinen Befürchtungen. In diesem sah er ein Zeichen des Mißtrauens des Staates gegenüber seinen Bürgern, weil sich alle Beamtenanwärter nun einer politischen Gesinnungsprüfung unterziehen mußten. Er begann daher sich von der 68 Actuelles sozialliberalen Koalition Brandt/ Scheel, die er zunächst unterstützt hatte, zu distanzieren. Statt dessen vertraute er der Integrationskraft demokratischer Institutionen. Die Zukunft sollte ihm weitgehend recht geben. 15 Seine zunehmende wissenschaftliche und politische Isolierung veranlaßte Ziebura 1974, Berlin zu verlassen. Er ging nach Konstanz, wo er hoffte, ungestört lehren und forschen zu können. Die Konstanzer Universität war als Reformuniversität mit neuen Formen von Forschung und Lehre konzipiert worden, eine Art „Klein- Harvard am Bodensee“. Sie sollte in moderner Form das Humboldtsche Prinzip der Einheit von Forschung und Lehre verwirklichen. Sie entsprach damit ganz den Vorstellungen Zieburas. Er wehrte sich deshalb mit seinen neuen Kollegen gegen Bestrebungen des Stuttgarter Wissenschaftsministeriums, die Konstanzer Universitätsverfassung denen der übrigen Landesuniversitäten anzupassen. Wie in Berlin konnte sich der Staat letztlich durchsetzen, aber die Universität Konstanz behielt einige ihrer Reformstrukturen. In der Lehre konnte Ziebura so neue Wege gehen, in der Forschung setzte er die in Berlin eingeschlagene Richtung fort (278ff.). Allerdings bemühte er sich nun um ihre stärkere theoretische Fundierung. So verfaßte er in Zusammenarbeit mit ehemaligen Studenten des Otto-Suhr-Instituts, die ihm nach Konstanz gefolgt waren, 16 einen Reader über neue Theorien der Internationalisierung des Kapitals. 17 Er orientierte sich dabei an den Auseinandersetzungen französischer, vornehmlich neomarxistischen Sozialwissenschaftler über die Folgen der neuen Formen der Internationalisierung des Kapitals und deren Auswirkungen auf die Handlungsfähigkeit der Nationalstaaten. In seiner Schlußbemerkung forderte er die „paradigmatische Integration der bisher separat entwickelten Weltmarkt- und Imperialismustheorien mit Monopol- und Staatstheorien, die die Internationalisierung der Akkumulation mit der Inter- und Denationalisierung von Klassenfraktionen und Staatsfunktionen analytisch vermitteln müßte.“ Kommentierend schreibt er dazu in seiner Autobiographie: „Vom marxisierenden Jargon entkleidet, ging es darum, den kausalen Zusammenhang von Internationalisierung des Kapitals, Krise, innergesellschaftlichen Veränderungen und den sich daraus ergebenden Handlungsspielräumen des Staates zu bestimmen“ (282). Trotz der Aktualität des Themas fand der Reader nicht die Beachtung, die er verdient hätte, da er den vorherrschenden politischen und wissenschaftlichen Meinungen in der Bundesrepublik widersprach (281). Ziebura und seine Mitarbeiter planten deshalb, ihr reiches Material in einer Monographie zu veröffentlichen. Der Plan scheiterte jedoch an Meinungsverschiedenheiten der Autoren. So wurde abermals eine große Chance vertan (284). Während seiner Konstanzer Jahre beschäftigte sich Ziebura aber auch, wie bereits in Berlin, mit der politischen Aktualität, diesmal jedoch nicht als Hochschulreformer, sondern als engagierter Intellektueller. Anlaß bildete der Terror der RAF. Gemeinsam mit linken Kollegen bemühte er sich, die Dialektik von terroristischer Herausforderung und der Reaktion von Staat und Gesellschaft zu durchleuchten. Sie fürchteten, daß die Unerbittlichkeit der Konfrontation die Machtverhältnisse in der Bundesrepublik zugunsten der Rechten verändern werde (291). Gemeinsam 69 Actuelles verfaßten sie eine Streitschrift unter dem Titel „Demokratie im Ernstfall. Deutsche Antworten auf den Terror“ (1979) 18 In dieser beschäftigten sie sich mit der Frage, „warum der deutsche Weg, den Terror zu bewältigen, als willkommener Anlaß genutzt wurde, über die Diffamierung kritischer Intellektueller als RAF-‚Sympathisanten’ das gesamte linke Spektrum zu treffen.“ (292) Dadurch werde der durch den Terror gerechtfertigte Ausnahmezustand in einen Normalzustand verwandelt, technokratischer Wohlfahrtsstaat und autoritärer Sicherheitsstaat verschmolzen. An die Stelle kritischer Auseinandersetzung mit dem gesellschaftlichen Status quo trete der Wille, ihn unter dem Stichwort „wehrhafte Demokratie“ zu verfestigen. (292) Die Mitherausgeber Esser und Fach betrachteten in ihrem Beitrag den Terrorismus als Produkt der bundesrepublikanischen Gesellschaft und machten so diese mitverantwortlich für ihn. Dieser sei eine Reaktion auf die bundesrepublikanischen Herrschaftsverhältnisse (292). Erst später hat sich Ziebura gefragt, wie die Gesellschaft denn hätte aussehen müssen, um den Terror der RAF gar nicht erst aufkommen zu lassen? Warum hätten ihn mit Ausnahme Italiens ähnlich verfaßte Gesellschaften nicht gekannt? Die Antwort auf diese Frage ist er im Grunde genommen bis heute schuldig geblieben. Ein Vergleich der politischen Kultur Frankreichs und Deutschlands hätte zumindest eine Teilantwort geben können. Aber für kulturwissenschaftliche Fragestellungen interessierte er sich nicht. Aus privaten Gründen wechselte Ziebura zum WS 1978/ 79 an die Technische Universität Braunschweig. Diese wurde im Gegensatz zu Konstanz von einer konservativen Professorenoligarchie beherrscht. Da diese die wichtigsten Gremien und Ausschüsse (Senat und Haushaltsausschuß) kontrollierte, hatte Ziebura keine Lust, sich in der akademischen Selbstverwaltung zu engagieren. Zur Strafe mußte er in die „Raumzuweisungskommission“, die sich mit unpolitischem Kleinkram beschäftigte. Seine Arbeitsbedingungen waren bei weitem nicht so gut wie in Konstanz. Sein Versuch, nach Konstanzer Vorbild das Lehrangebot des Seminars für Politikwissenschaft und Soziologie in gemeinsamer Diskussion aller Lehrenden nach inhaltlichen Kriterien zu erarbeiten, scheiterte. Jeder bot an, was ihm paßte. Es gab daher unter den Lehrenden keine wissenschaftliche Kommunikation. Gemeinsam mit seinen beiden Mitarbeitern ging Ziebura deshalb seine eigenen Wege. Entsprechend der Denomination seines Lehrstuhls befaßte er sich in Forschung und Lehre wie in Konstanz vor allem mit der internationalen Politik. Der Ertrag dieser Ausrichtung bestand neben zahlreichen Aufsätzen in je einer größeren Publikationen über Weltwirtschaft und Weltpolitik 1922/ 24-1931 19 sowie über die internationalen Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland 1962-1974/ 75. 20 In seiner Arbeit über Weltwirtschaft und Weltpolitik 1922/ 24-1931 beschäftigte sich Ziebura mit Natur und Entwicklung des „Versailler“sowie des „Washingtoner Systems“, d.h. der Nachkriegsordnungen in Europa und in Südostasien. Er stützte sich dabei auf Vorarbeiten, die innerhalb der Forschungsgruppe über die Rheinlandbesetzung am Institut für Politische Wissenschaft zwischen 1963 und 1974 entstanden waren. Ihn interessierte die Frage, warum die Stabilisierungsperiode zwischen 1924 und 1928 in die Weltwirtschaftskrise und den nachfolgenden Zusammen- 70 Actuelles bruch der Nachkriegsordnung münden konnte, welche den Weg frei machte für die anschließenden Hegemonialkriege um politisch-militärisch abgesicherte wirtschaftliche Einflußzonen. Er kam zu dem Ergebnis, „daß die USA bei der Stabilisierung beider Systeme über privilegierte wirtschaftliche Beziehungen zu Deutschland und Japan die Rolle einer ‚Scharniermacht’ spielten.“ (318) Diese Rolle verloren sie durch die Weltwirtschaftskrise, die ihrer Strategie die wirtschaftliche Grundalge entzog und so den Aufstieg revisionistischer Kräften in Deutschland und Japan begünstigte. Das Buch wurde zwar ins Englische und Japanische übersetzt, fand jedoch in Deutschland keine große Resonanz. Hier dominierte inzwischen wieder eine immer stärker personalisierende Politikgeschichtsschreibung. Auch sein Mentor Hans Rosenberg kritisierte das Buch heftig und unterstellte Ziebura Antiamerikanismus, da er die große Bedeutung der wirtschaftlichen Rolle der USA für die Weltpolitik der zwanziger Jahre herausgearbeitet hatte, ohne auf die der Sowjetunion einzugehen. Daß diese in jener Zeit weltwirtschaftlich kaum eine Rolle spielte, übersah der Kritiker. Die für die dreißiger Jahre geplante Fortsetzung der Arbeit hätte aufgrund des radikalen Strukturwandels in Weltpolitik und Weltwirtschaft ein ganz anderes Bild entstehen lassen und so den Vorwurf des Antiamerikanismus widerlegt. Leider kam Ziebura aus Zeitmangel nicht dazu. So blieb auch diese Arbeit ein Torso (320). In seiner Braunschweiger Zeit nahm Ziebura auch wieder publizistisch verstärkt Stellung zu aktuellen Fragen in liberalen sowie linken Zeitschriften, u.a. im Spiegel und im Vorwärts. In ihnen kritisierte er vor allem die „Realpolitik“ der Supermächte, die bei der Verfolgung ihrer „Supermachtlogik“ keine Rücksicht auf die Interessen anderer Ländern nähmen. Europa müsse auf Distanz zu den beiden Führungsmächten gehen und von der Entspannung retten was zu retten sei. Diese Haltung beruhte implizit auf einer „Äquidistanz“ gegenüber beiden Mächten, nicht gegenüber ihren Gesellschaftssystemen, wohl aber gegenüber den von ihnen praktizierten Methoden geostrategischer Machtpolitik (310). Seine Kritik der Supermächte richtete sich jedoch in zunehmendem Maße gegen die Vereinigten Staaten, besonders gegen Reagens Rüstungspolitik und sein Projekt einer weltraumgestützen Raketenabwehr (SDI). Dies trug ihm seitens der Atlantiker den Vorwurf des „Antiamerikanismus“ ein, einem tödlichen Argument während des Ost-West-Konflikts. Während der Nachrüstungsdebatte der frühen achtziger Jahre engagierte sich Ziebura für ein „Europäisches Europa“ als autonomer Faktor der Weltpolitik sowie in der Friedensbewegung. Er kritisierte allerdings streitbar wie immer utopische Konstruktionen, welche die machtpolitischen Realitäten außer acht ließen. Innenpolitisch bekämpfte er die Wirtschafts- und Sozialpolitik der Regierung Kohl sowie ihre Unterstützung des amerikanischen SDI-Projekts. In zahlreichen Artikeln und Vorträgen analysierte er viele Krisenphänomene der internationalen Ordnung, aber auch er ahnte nicht das nahende Ende des Ostblocks. Vielmehr befürchtete er eine Einbeziehung der Dritten Welt in den Ost-West-Konflikt über Stellvertreterkriege. Um dies zu verhindern, forderte er eine „Entpolarisierung“ der Antagonismen zwischen den Supermächten, „also eine gewisse ‚Machtdiffusion’ als Voraussetzung für die Erweiterung von Handlungsspielräumen“. (343) 71 Actuelles Der Fall der Berliner Mauer überraschte auch ihn und ließ ihn am Ende seiner aktiven Zeit als Hochschullehrer an der Prognosefähigkeit der Politikwissenschaft zweifeln. Rückblickend meint er, der Fehler habe nicht in der Wissenschaft gelegen, sondern in der von ihm konstruierten Theorie der Vergleichbarkeit von „Supermachtlogik“ als einem Phänomen jenseits gesellschaftlicher Realität (345). Damit traf er den Nagel auf den Kopf. Sein „Paradigmawechsel“ Ende der sechziger Jahre hatte in die Sackgasse geführt. Die Erweiterung der Institutionengeschichte durch die Gesellschaftsanalyse, wie er sie für die Folgebände seiner Blum-Biographie plante, hätte ihn davor bewahren können. Der Fall der Berliner Mauer und in ihrem Gefolge die Wiedervereinigung Deutschlands widerlegte auch seine Überzeugung vom historischen Ende des deutschen Nationalstaates. Diese These vertrat er in zahlreichen Artikeln und Vorträgen noch wenige Jahre vor dem Ende der Teilung. Er begründete sie sowohl moralisch als auch politisch. Die Rechnung für die Verbrechen des NS-Regimes sei noch nicht bezahlt und ein erneuerter deutscher Nationalstaat bilde eine Belastung für ein „Europäisches Europa“, wie er es sich vorstellte. Die Koexistenz zweier deutscher Staaten liege daher im Interesse des Friedens (345f.). Als jedoch die alte Ordnung in ganz Ostmittel- und Osteuropa zusammengebrach, machte er sich auf die Suche nach einem theoretisch fundierten Konzept für die Neuordnung Europas und der Welt. In zahlreichen Artikeln, Aufsätzen und Vorträgen kritisierte er die herrschenden Vorstellungen. Eine einfache Übertragung westlicher Normen, Institutionen und Praktiken aus der Zeit des Kalten Krieges auf den ehemaligen sowjetischen Herrschaftsbereich wäre mit hohen sozialen Kosten für die Bevölkerung verbunden, eine Ausweitung der „Pax Americana“ würde zu einer starken „imperialen Überdehnung“ der Vereinigten Staaten führen und die Weltgesellschaft destabilisieren. Er lehnte daher beides ab. Statt dessen propagierte er erneut ein „Europäisches Europa“, das auch den Osteuropäern genügend Mitspracherechte und Entfaltungsmöglichkeiten bieten würde. Seine Verwirklichung erfordere jedoch eine grundlegende Veränderung der bisher in Westeuropa praktizierten Integrationsmethode und ein gemeinsames Nachdenken in Ost und West über ein gesamteuropäisches Wachstumsmodell. Den ersten Irakkrieg nahm er zum Anlaß, um hart mit der amerikanischen Außenpolitik ins Gericht zu gehen. Er zeigte erneut exemplarisch, daß die Kategorien Recht und Moral, auf die sich die USA beriefen, nur so lange für sie gälten, wie sie der Durchsetzung ihrer nationalen Interessen dienten (358). An die Stelle einer unilateralen Weltordnung müsse deshalb eine multipolare treten. Auch das wiedervereinte Deutschland müsse an deren Aufbau mitwirken. Gemeinsam mit zwei seiner Mitarbeiter faßte er seine neuen deutschland- und weltpolitischen Ideen und Überlegungen in einem Buch zusammen. 21 Aus der Analyse der neuen internationalen Situation nach dem Ende des Ost-West-Konflikts leitete er die Forderung ab, „die deutsche Politik (müsse) an der Erarbeitung eines gesamteuropäischen Projekts mitwirken, das , auf der Basis eines spezifischen Wachstumsmodells, zu dem die unterschiedlichen nationalen Wirtschaftssy- 72 Actuelles steme langfristig konvergieren würden, die Chance eröffnet, einen Kristallisationspunkt in einer neuen multipolaren Weltordnung zu bilden“ (361). Allerdings hatte er erhebliche Zweifel an der deutschen Fähigkeit, sich an der Gestaltung einer neuen Weltordnung aktiv zu beteiligen, da das wiedervereinte Deutschland vor allem mit der Bewältigung seiner eigenen Probleme beschäftigt sei (361). Auch nach seiner Emeritierung zum 1. April 1992 befaßte sich Ziebura, teilweise gemeinsam mit seinen früheren Mitarbeitern Bonder und Röttger, in zahlreichen Aufsätzen und Vorträgen mit der internationalen Entwicklung. Dabei ging es vor allem um das Wesen der Globalisierung, die Identität der Europäischen Union zwischen Vertiefung und Erweiterung sowie die wachsenden Schwierigkeiten des Nationalstaates zwischen externen Zwängen und internen Problemen. Aus diesen drei Bereichen entstehe eine neue Form der Weltgesellschaft, die sich theoretisch nur schwer fassen lasse und eine kohärente Politik in der Praxis fast unmöglich mache. Ausgehend von der weltweitern Entwicklung des Kapitalismus bemühte sich Ziebura, alle drei Bereiche als eine Einheit zu erfassen. Im Gegensatz zum „ideologischen Positivismus“ der Apologeten des „liberalen Projekts“ der „OECD- Welt“ vertraten er und seine Mitstreiter eine „historisch-dialektisch fundierte Analyse globaler Totalität“ (364). In seinen Artikeln und Vorträgen kritisierte er vor allem den politisch-strategischen Unilateralismus der USA (370) sowie den Institutionalismus, Pragmatismus und Neoliberalismus der EU. Statt dessen plädierte er für ein mulipolares Weltsystem mit Europa als eigenständigen Akteur. Die EU müsse bei dessen Entwicklung eine Vorreiterrolle spielen. Sie könne dies allerdings nur, wenn sie ein eigenes Wachstumsmodell und eine eigene Identität entwickle. Sie müsse „zu einem Experimentierfeld lebendiger, offener Lebensformen werden, auf dem die Angst vor ‚Überfremdung‘ oder unerbittlicher Konkurrenz keinen Platz habe. Dazu wäre es allerdings nötig, an einem neuen, originellen, weltweit exemplarisch wirkenden Verhältnis von Staat, Markt und transnationaler Kooperation in einem System flexibler und zugleich effizienter Institutionen zu arbeiten“ (378). Die neue Notwendigkeit des gewandelten Nationalstaates Am Ende seiner Überlegungen über die Globalisierung und die Europäische Einigung gelangt Ziebura zu der Einsicht, daß der Nationalstaat nach wie vor notwendig ist. Unerläßliche Voraussetzung sei allerdings, daß er eine der Globalisierung und Europäisierung angepaßte Identität finde (378). Der klassische Nationalstaat gehöre zwar der Vergangenheit an, aber als Reaktion auf die Tendenzen der Globalisierung und Transnationalsierung gewinne der Staat als Ort der Demokratie, des sozialen Ausgleichs, der Regulierung des Verhältnisses von Kapital und Arbeit neue Bedeutung (379). Allerdings stehe nun der Transnationalisierung der Kapitalbewegungen die Nationalisierung der Arbeitsverhältnisse gegenüber. Dadurch gerate der Nationalstaat in ein fundamentales Dilemma. Einerseits müsse er die eigene Gesellschaft vor den negativen Auswirkungen der Globalisierung schüt- 73 Actuelles zen, andererseits müsse er diese für den weltweiten Wettbewerb fit machen. Daraus ergäben sich seine gegenwärtigen Schwierigkeiten (380). Wie schwierig es sei, mit diesem Dilemma fertig zu werden, lehre paradigmatisch Frankreich, der Nationalstaat par excellence. Hier spielte der Staat in der Vergangenheit eine zentrale Rolle bei der sozialen Integration und der ökonomischen Reproduktion. Die Tendenzen der Globalisierung zwinge aber auch Frankreich zu einer Neudefinition des Verhältnisses von Markt und Staat, von Ökonomie und sozialer Gerechtigkeit, von Integration und Exklusion, von Unabhängigkeit und Einbettung. Dabei drohe sich die „fracture sociale“ zwischen Gewinnern und Verlierern der Globalisierungstendenzen zu verschärfen (380). In mehreren Aufsätzen ist Ziebura seit den achtziger bis Mitte der neunziger Jahre diesem Problem nachgegangen. 22 Die, wenn auch zögerliche, Anpassung Frankreichs an die Globalisierung blieb nicht ohne Folgen für das deutsch-französische Verhältnis. Um diese aufzuzeigen, verfaßte Ziebura 1993 auf Aufforderung des Klett-Cotta-Verlages eine bis in die Gegenwart fortgeführte Neuauflage seines 1970 erschienen Essays über die „Deutsch-französischen Beziehungen seit 1945“. Der kritische Grundton der ersten Auflage verstärkte sich noch. Die Meßlatte, die der deutsch-französische Vertrag von 1963 darstellte, so schrieb er, werde selten erreicht (384). Entsprechend negativ war die Reaktion des deutsch-französischen Establishments. Die erhoffte kontroverse Debatte blieb aus. Der Klett-Cotta-Verlag ließ sogar unter einem fadenscheinigen Vorwand die Restauflage des Buches vernichten (386). Trotz dieser enttäuschenden Reaktion auf sein Buch widmete er sich nun wieder verstärkt Frankreich. Er beteiligte sich im Deutsch-Französischen Institut Ludwigsburg an der Herausgabe des „Frankreich-Jahrbuchs“ und veröffentlichte in diesem mehrere gehaltvolle Artikel über die französische Politik in der Ära Mitterrand. Dann konzentrierte er sich auf die Abfassung seiner Autobiographie, die Ende 2008 abgeschlossen wurde. Ist es Ziebura gelungen, bei der Beschreibung seines Lebensweges die Schnittstellen des Individuellen und Allgemeinen herauszuarbeiten, wie er im Vorwort seiner Autobiographie schreibt? In der Darstellung seiner Jugendzeit unter dem Nationalsozialismus und seiner Studienzeit in Berlin und Paris in hervorragender Weise, ebenso in der Schilderung seiner Auseinandersetzungen an der FU Berlin, insbesondere während der Reformdebatte des Jahres 1968. Auch während seiner Zeit in Konstanz und Braunschweig reagierte er publizistisch und wissenschaftlich unmittelbar auf die Herausforderungen seiner Zeit, sei es in der deutschen Innenpolitik oder in den internationalen Entwicklungen. Er reagiert jetzt aber vor allem als Wissenschaftler, weniger als engagierter Intellektueller und Citoyen. In seinen wissenschaftlichen Publikationen beschritt er methodologisch neue Wege, die jedoch teilweise in eine Sackgasse führen. Er hätte dies vielleicht vermeiden können, wenn er seine großen Werke - die Blum-Biographie, die französische Geschichte seit 1789, die Untersuchung des Zusammenhangs von Weltwirtschaft und Weltpolitik 1922/ 24- 1931, aber auch seine Beiträge zur Erforschung der Weltgesellschaft kontinuierlich fortgeführt hätte. So bleiben seine Arbeiten oft ein Torso. Besonders bedauerlich ist das Scheitern seiner Bemühungen um die Gründung eines Sonderforschungsberei- 74 Actuelles ches über die Bestimmungsfaktoren der Außenpolitik in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Gerade dieser hätte ihm die Möglichkeit gegeben, seine theoretischen Ansätze in der Auseinandersetzung mit seinen Mitarbeiter zu präzisieren. So wurde er mehr und mehr zum Einzelkämpfer, der besonders der sozialwissenschaftlichen Frankreichforschung wichtige Impulse gab, aber keine Schule begründete. Seine Ideen sind jedoch von seinen zahlreichen Schülern aufgegriffen und weitergetragen worden. So sind sie heute weiterhin in Forschung und Lehre lebendig. 1 Gilbert Ziebura, Kritik der „Realpolitik“. Genese einer linksliberalen Vision der Weltgesellschaft. Autobiographie. Berlin: LIT Verlag, 2009, 396 S. 2 „[…] die Lieder, die Fahrten, die Sentimentalitäten des Lagerfeuers, der Mythos der Fahne, das Erleben der Gemeinschaft, die Verbundenheit mit der Natur, der Glaube an die Ankunft einer neuen Zeit - alles (war) unverändert.“ Ziebura, 34 3 „Der Versuch, aus den vielfältigen tradierten, nationalen wie universalen Bildungsgütern nur diejenigen als relevant anzusehen, die sich mit der NS-Ideologie vereinbaren ließen, führte dazu, sie zu unterhöhlen und zu zersetzen, ohne an ihre Stelle neue, gleichwertige Inhalte zu setzen.“ „Es entstand so etwas wie ein geistiges Schattenreich zwischen entleerten traditionellen humanistisch-bürgerlichen Bildungsinhalten und einer nur oberflächlichen Durchdringung mit den Zielen der NS-Erziehungsideologie, in dem sich Lehrer wie Schüler mehr schlecht als recht bewegten.“ Ziebura, 28. 4 H.A. Winkler, in: Historische Zeitschrift, 248/ 1989 5 Er wurde im Flugzeug des Generals König nach Baden-Baden ausgeflogen. Es war das einzige Flugzeug, das den Franzosen damals in Berlin zur Verfügung stand. 6 Die deutsche Frage in der öffentlichen Meinung Frankreichs von 1911-1914, Berlin 1955. 7 Diese postulierte die prinzipielle Gleichwertigkeit der autonomen Gruppen innerhalb der Gesellschaft. Sie wurde in den fünfziger und sechziger Jahren zur vorherrschenden Demokratietheorie in Deutschland. „Da (sie) die Analyse von Willensbildungs- und Entscheidungsprozesses privilegierte, erwies sie sich als unfähig, die Dynamik gesellschaftlicher Machtverhältnisse zu erfassen, weil sie von einer grundsätzlich affirmativen, sich mit den Herrschaftsverhältnissen identifizierenden Position ausging.“ Ziebura,140. 8 Das Otto-Suhr-Institut, abgekürzt OSI, ist aus der 1958 in die FU Berlin integrierten Deutschen Hochschule für Politik hervorgegangen. 9 Eckard Kehr arbeitete in der Weimarer Republik über die innenpolitischen und sozialen Grundlagen des deutschen Imperialismus mit einem gesellschaftstheoretischen Ansatz. Damit stand er im vollen Widerspruch zur herrschenden Meinung. In der deutschen Historikerzunft war er daher isoliert. Er ging daher bereits vor 1933 in die USA, wo er bald darauf, gerade einmal 30 Jahre alt, starb. In den sechziger Jahren erlebte er in Deutschland eine Renaissance. Für Ziebura bot seine Analyse gesellschaftlicher Machtverhältnisse eine fruchtbare Alternative zu affirmativen Ideologien wie dem dogmatischen Marxismus/ Leninismus. Cf. Ziebura, 244. 10 „Interne Faktoren des französischen Hochimperialismus 1871-1914. Versuch einer gesamtgesellschaftlichen Analyse“, in: Der moderne Imperialismus, hrsg. Von W.J: Mommsen, Stuttgart 1971, 85-139. Mehrere Nachdrucke. 11 Cf. sein Vorwort zum Sammelband: Wirtschaft und Gesellschaft in Frankreich seit 1789. NWB 76, Kiepenheuer & Witsch, Gütersloh 1975. Das Konzept der „histoire totale“ hatte Fernand Braudel entwickelt. Es beruhte auf der Überzeugung, daß langfristig wirkende, in 75 Actuelles den materiellen Lebensbedingungen gründende kollektive Kräfte die Geschichte einer Gesellschaft bestimmen. Cf. Ziebura, Autobiographie, 248. 12 „Der im Begriff der Gesellschaftsformation zusammengefaßte gesamtgesellschaftliche Ansatz zielt darauf ab, sowohl eine den Blick verengende strukturalistisch-deterministische wie eine an der Oberfläche der Phänomene verharrende positivistische Betrachtungsweise zu überwinden. Die in einer Gesellschaftsformation vorherrschenden Widersprüche als treibende Kraft ihrer Entwicklung werden in dem durchaus variierenden Zusammenspiel der verschiedenen ‚Instanzen‘, vornehmlich auf der Ebene der sozialen Verhältnisse als der entscheidenden Vermittlungsebene zwischen Ökonomie und Politik gesucht. Beide Wirklichkeitsbereiche haben eigenständige Funktionen zu erfüllen, finden ihre gemeinsame Basis aber darin, daß sie aufeinander angewiesen sind. Der Unterschied liegt freilich darin, daß sich ökonomische Bedingungen langsamer entwickeln und damit langsamer verändern als soziale Verhältnisse oder gar staatliche Institutionen. Andererseits sind es letztere, die die Geschichte einer Gesellschaftsformation skandieren, periodisieren, was keineswegs als ‚künstlich‘ oder ‚zufällig‘ abqualifiziert werden darf. Damit aber stellt sich das Verhältnis von Struktur und Ereignis, von Kontinuität und Wandel nicht als fatale Dichotomie dar, sondern eher als Problem der zeitlichen Multidimensionalität, wie sie in einer Gesellschaftsformation zum Ausdruck kommt. Strukturen sind ebenso wenig die düsteren ‚Zwingherren der Geschichte‘, wie eine nationale Gesellschaftsformation jemals die Stunde ‚Null‘ kennt. Gerade die Geschichte der französischen Gesellschaftsformation lehrt die Schwerkraft einmal etablierter ökonomischer, sozialer und ideologischer Verhältnisse trotz aller Revolutionen und Regimewechsel.“ Vorwort zu Frankreich 1789-1870. Entstehung einer bürgerlichen Gesellschaftsformation. Frankfurt/ New York, Campus Verlag, 1979. Zitiert nach G. Ziebura, Autobiografie, 287ff. 13 Ursprünglich verfaßt als Beitrag für: Theodor Schieder (ed.): Handbuch der europäischen Geschichte, Bd. 5, Stuttgart 1981. 14 Gilbert Ziebura, Die deutsch-französischen Beziehungen seit 1945. Mythen und Realitäten, Pfullingen 1970. Eine gründlich überarbeitete, bis in die 90er Jahre fortgeschriebene Neuauflage erschien 1997. 15 Man denke nur an die Entwicklung der Grünen von der Fundamentalopposition zur Regierungspartei sowie an die wundersame Wandlung des Joseph Martin Fischer vom Straßenkämpfer zum Staatsmann. 16 Christian Deubner, Udo Rehfeldt, Gerd June und Frieder Schlupp. 17 Gilbert Ziebura u.a., Die Internationalisierung des Kapitals. Neue Theorien in der internationalen Diskussion, Frankfurt/ M., New York, Campus Verlag, 1979, 277 S. 18 Das Manuskript wurde niemals veröffentlicht, da die Autoren keinen Verlag fanden, der bereit war, es zu publizieren. Der entscheidende Grund war nach Ziebura wohl die Frage nach der Mitverantwortung der Gesellschaft für Entstehung und Bekämpfung des Terrorismus. Siehe S. 294. 19 Weltwirtschaft und Weltpolitik 1922/ 24-1931. Zwischen Rekonstruktion und Zusammenbruch, Frankfurt/ M., Suhrkamp Verlag, 1984 20 Zwischen Entspannung und weltwirtschaftlicher Rezession. Die internationalen Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland 1962-1974/ 75. Bearbeitung: Friedrich Diestelmeier. (Deutsches Institut für Fernstudien an der Universität Tübingen/ Hrsg.), Deutsche Geschichte nach 1945, Teil 1, Studienbrief 7, 1988. 21 Gilbert Ziebura, Michael Bonder und Bernd Röttger: Deutschland in einer neuen Weltära. Unbewältigte Herausforderungen, 1992. 22 Gilbert Ziebura, Frankreich, Geschichte, Gesellschaft, Politik. Ausgewählte Aufsätze, hrsg. Von A. Kimmel, Opladen, Leske + Budrich, 2003.