eJournals lendemains 35/138-139

lendemains
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Narr Verlag Tübingen
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2010
35138-139

Dr. Ulrich Knoke (1935–2010)

2010
Manfred Engelbert
ldm35138-1390238
238 In memoriam Manfred Engelbert Dr. Ulrich Knoke (1935-2010) „compañero del alma, compañero“ Ulrich Knoke als einen wichtigen Göttinger Romanisten zu würdigen, wird nicht überall mit Beifall bedacht werden. Mehr als dreißig Jahre nach den durch die Reformdiskussionen in den 60ern ausgelösten Veränderungen sind die allseitigen Verletzungen, Kränkungen, Schläge und Rückschläge nicht vergessen. Gerade deshalb gilt es, sich an Knoke zu erinnern. Ohne Zweifel hat seine Persönlichkeit die Romanistik der vergangenen gut drei Dekaden an der Georgia-Augusta mit geprägt. Sein scharfer Verstand und seine noch schärfere Zunge, seine Beharrlichkeit wie seine leidenschaftliche Wissenschaftlichkeit gaben den Debatten um Begründung und Zweck der Geisteswissenschaften, ihre Eigenart und die Möglichkeit ihrer Überschreitung, um Inhalte und Formen der für die Philologien lebenswichtigen Lehrerausbildung entscheidende Impulse für eine langfristige Entwicklung. An seiner Kritik schieden sich die Geister. Knoke studierte Klassische und Romanische Philologie in Göttingen und war dort von Anfang der 60er bis Mitte der 70er Jahre, zuletzt als wissenschaftlicher Assistent tätig. Seine streng formalen Verfahrensweisen verschriebene Dissertation „Die spanische Maurenromanze“ (1966) wurde zu einem immer noch zitierten, international anerkannten Standardwerk. Aber wie nicht wenige seiner Generation rieb er sich schnell an den Grenzen einer ängstlich philologischen Disziplin. Sein philosophisch und methodologisch gehärteter 50seitiger Aufsatz „Calderóns La vida es sueño und seine Kritiker“ (1969) zeigt die Spuren einer Diskussion, die nicht zuletzt durch Hans Robert Jauss auf dem Bochumer Romanistentag von 1967 angeregt wurde. Ich lernte „Uli“ in diesem Ambiente kennen, und unsere Freundschaft, die sich im August 1968 in Italien im Rahmen allgemeinromanistischer Abrundung nicht nur mit Chianti rot zu färben begann, hielt seit diesen Tagen. Dass ich 1974 die Nachfolge Heinrich Bihlers antreten konnte, verdanke ich auch seinem Engagement. Seine erste Wahl war ich nicht. Denn so streng wie er mit anderen ins Gericht gehen konnte, so streng war „Knotzki“ auch gegen Freunde und gegen sich selbst. Nicht zufällig taufte er mich „Drengelbert“, weil ich zielstrebig auf eine Professur hinsteuerte. Er war sich selbst nicht geheuer. Er müsse noch an sich arbeiten, wisse noch nicht genug, hieß es immer wieder, wenn ich ihn dazu aufmuntern wollte, sich ohne Habilitation oder zweites Buch den damals eingeführten „Hearings“ zu stellen. Einmal fuhr es aus mir heraus, Weiterbildung könne man ja auch noch auf einer Stelle betreiben. Schließlich gab es ein „zu spät“: seine Assistentenzeit lief ab, und gleichzeitig ging die Konjunktur für Reformer zu Ende. Selbstzweifel einerseits, wieder einkehrende Duckmäusigkeit und offene Vergeltung andererseits 239 In memoriam machten einer viel versprechenden akademischen Karriere ein vorzeitiges Ende. Was Knoke zu leisten im Stande war, zeigen noch seine nach der Entlassung als Assistent publizierten Aufsätze zu Erich Auerbach (1975 und 1981), die Einforderung einer praktischen, auf Zeugnisse fundierten Rezeptionsanalyse am Beispiel der Nouvelle Héloïse (1976) und seine immer noch gültige Studie zu Voltaires ästhetischer Gestaltung der Polemik gegen die Jesuiten in Candide und dem Essai sur les mœurs (1979). Knoke hat sich über den weiteren Verlauf seines Lebens als Sprachlehrer und Direktor verschiedener privater Schulen nie beklagt. Er sah sich nicht als Opfer. Seine Leidenschaft galt weiter den romanischen Sprachen und Literaturen - dem Kanon wie den Erneuerungen. Nach seiner Pensionierung und in Kontexten, zu deren Entstehen er beigetragen hat, konnte er über einen Lehrauftrag am Seminar für Romanische Philologie noch vielen Studierenden den dringend benötigten Kontakt zur französischen Gegenwartsliteratur vermitteln - in gewohnter philologischer und methodischer Strenge und mit der Begeisterung des leidenschaftlichen Lesers. Zu seinen Lieblingen gehörten Autoren einer knappen Prosa, wie Annie Ernaux und Jean-Marie Le Clézio, dem er noch vor der Nobelpreisverleihung ein Seminar widmete. Am 1. März ist Ulrich Knoke einem langen, stoisch gelebten Krebsleiden erlegen.