eJournals lendemains 35/138-139

lendemains
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Narr Verlag Tübingen
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2010
35138-139

Célines katastrophische Feerie. Zur Katastrophenkompetenz moderner Literatur

2010
Jörg Dünne
ldm35138-1390171
171 Arts & Lettres Jörg Dünne Célines katastrophische Feerie. Zur Katastrophenkompetenz moderner Literatur Paris, auf der Butte Montmartre, in der Nacht vom 21. auf den 22. April 1944. Wie bereits in den Wochen und Monaten zuvor fliegen die alliierten Luftstreitkräfte nächtliche Angriffe auf die Stadt, um die während der Okkupation in deutscher Kontrolle befindlichen wichtigsten Industriestützpunkte wie die Renault-Werke in Boulogne- Billancourt in der südwestlichen Banlieue oder die Güterbahnhöfe im Pariser Norden bei La Chapelle zu treffen. In dieser Nacht erfolgen die schwersten Angriffe, die in der banlieue zahlreiche Opfer fordern und das Pariser Stadtgebiet in seinen Außenbezirken betreffen, darunter auch am Montmartre. In den Bombennächten im April und Mai 1944 versammeln sich zahlreiche Pariser an ihren Fenstern oder auf ihren Balkonen, um die Luftangriffe zu beobachten, die sich am Stadtrand abspielen. Zu diesen Beobachtern gehört auch der Hauptmann der deutschen Wehrmacht Ernst Jünger. Aus der sicheren Distanz seines Hoteldachs im Zentrum der Stadt verklärt er die Ereignisse zum „Schauspiel“ des Untergangs, das eine „gewaltige Schönheit“ entbindet, wie er in seinem Tagebuch notiert: Alarme, Überfliegungen. Vom Dache des Raphael sah ich zweimal in Richtung von Saint-Germain gewaltige Sprengwolken aufsteigen, während Geschwader in großer Höhe davonflogen. Ihr Angriffsziel waren die Flußbrücken. Art und Aufeinanderfolge der gegen den Nachschub gerichteten Maßnahmen deuten auf einen feinen Kopf. Beim zweiten Mal, bei Sonnenuntergang, hielt ich ein Glas Burgunder, in dem Erdbeeren schwammen, in der Hand. Die Stadt mit ihren roten Türmen und Kuppeln lag in gewaltiger Schönheit, gleich einem Kelche, der zu tödlicher Befruchtung überflogen wird. Alles war Schauspiel, war reine, vom Schmerz bejahte und erhöhte Macht.1 Doch die distanzierte Ästhetisierung eines ‚kalt‘ erzählenden Beobachters ist bei weitem nicht die einzige literarische Beschreibung, die von den Pariser Bombennächten entsteht. Vom fünften Stock seiner Wohnung in der rue Girardon auf der Westseite des Montmartre aus beobachtet auch Ferdinand, literarisches alter ego von Louis-Ferdinand Destouches alias Céline, die Bombennächte seit ihrem Beginn im Frühjahr 1942. 2 Im Gegensatz zu Jünger ist Célines Erzähler Ferdinand nicht nur Beobachter, sondern sein Stadtviertel ist direkt von den Bombardements betroffen. Ferdinand flieht zusammen mit seiner Frau und seiner Katze Bébert nicht, wie viele andere Bewohner des Montmartre, in die nahe Métrostation Lamarck Caulaincourt: Er erlebt die Angriffe von seiner durch die Explosionen erschütterten Wohnung aus - so beschreibt das zumindest der Text, den er den Ereignissen widmet. Im Gegensatz zu dem aphoristischen Tagebucheintrag bei Jünger füllt Célines Beschreibung der Ereignisse mehrere hundert Seiten - die Bombennacht bildet den zweiten Teil des von Céline mit Féerie pour une autre fois betitelten Buchprojekts, das im Paratext zum ersten Teil als „roman“ bezeichnet wird. 3 172 Arts & Lettres Dabei entspinnt sich bei Céline auf den ersten Blick eine ähnliche Zuschauerperspektive wie bei Jünger, wenn der Erzähler behauptet: „De notre barre d’appui de la fenêtre nous sommes placés aux premières loges“ (Féerie II, 191). Ebenso werden die Bombardements als Schauspiel bezeichnet, dessen bunte Farbenpracht die Dominanz des Rot-Tons mit seinen erotischen und gewaltbesetzten Konnotationen bei Jünger sogar überbietet: Cette vue côté nord vaut la peine, franchement! C’est par là, l’éruption grandiose! … dix fois, vingt fois le cratère Renault! et les bombes tombent encore en grappes! en rejaillissent vert! bleu! des geysers à travers les nuages! … ah c’est du terrible fantastique! des féeries si outrées de couleur que même pas artiste comme je suis je me dis: saperlipopette! c’est de l’éblouissement qu’a pas de prix! (Féerie II, 194) Doch bereits der umgangssprachliche Ton, der das jüngersche Faszinosum auf die Ebene eines Jahrmarktsspektakels ‚herunterholt‘, bricht die sublime Ästhetisierung und deutet an, dass die ‚kalte‘ Distanz der berichtenden Instanz bei Jünger umschlägt in ein anderes, ‚heißes‘ Szenario, das an die Stelle der ästhetischen Distanz des Sublimen das Wunderbare der Feerie treten lässt. Im Zentrum der folgenden Überlegungen sollen die Funktion dieses Rückgriffs Célines auf die Gattung der Feerie sowie die Frage stehen, wie die Feerie einer Bombennacht, anders als die distanzierende Ästhetisierung Jüngers, einen ambivalenten Unmittelbarkeitseffekt hervorbringt, bei dem die spektakuläre Blendung („éblouissement“) nicht als ironische Geste der Distanzwahrung verstanden werden kann, sondern vielmehr als literarisches Verfahren, das eine unerträgliche Spannung zwischen der farbenprächtigen Jahrmarktsattraktion und der traumatischen Katastrophenwahrnehmung aufbaut. Diese Wahrnehmung ist für Céline sicherlich in seinen Erfahrungen im Ersten Weltkrieg begründet, sie reicht aber in ihrer Bedeutung weit über eine biographisch verortbare ‚Urszene‘ hinaus. 4 Die Frage, um die es in der Folge gehen soll, ist, wie Céline eine durchaus aporetische Verlaufsform für diese spezifische Art der traumatischen Erinnerung zu fixieren versucht. Was er dabei entwickelt, ist nichts weniger als eine Poetik der Katastrophe, die das Erzählte ebenso betrifft wie die Möglichkeit des Erzählens davon. Die Beschreibung dieser Poetik erfordert einen Durchgang durch Célines Katastrophen in mehrfacher Hinsicht - einen naturgeschichtlichen, einen politischen und schließlich einen ästhetischen. Was bei diesem dreifachen Kursus auf dem Spiel steht, ist letztlich die Frage nach der besonderen Art literarischer Beobachtung: Es geht um die ‚Katastrophenkompetenz‘ der modernen Literatur. I. Naturgeschichte: Katastrophe und Kataklysmus Mit der Féerie pour une autre fois schreibt Céline an seiner eigenen fiktionalisierten Biographie weiter, die er mit dem Erstling Voyage au bout de la nuit von 1932 mit Bezug auf die Erlebnisse im Ersten Weltkrieg beginnt und in Mort à crédit von 173 Arts & Lettres 1935 in die Kindheit zurück verlängert. 5 Die Vorarbeiten an den beiden Teilen der Féerie pour une autre fois beginnen in der Zeit, als sich Céline nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in Dänemark im Gefängnis befindet und in Frankreich zumindest vorübergehend aufgrund des Status der indignité nationale als Kollaborateur des Nazi-Regimes und der Vichy-Regierung Landesverweis erhält. Die Publikation des ersten Teils der Féerie bei Gallimard erfolgt 1952 nach der Aufhebung des Urteils gegen Céline, der zweite Teil folgt zwei Jahre später. Der Roman stellt damit die literarische Rehabilitation seines Autors dar. Céline jedoch nutzt diese Rehabilitation nicht einfach wie andere in die Kollaboration verstrickte französische Autoren, um weitgehend apolitisch zur schriftstellerischen Tagesordnung überzugehen, sondern die Féerie liefert ihm den Ausgangspunkt für eine bis zu seinem Lebensende andauernde literarische Konstruktion des Status einer persona im Ausnahmezustand, die auch die späteren Texte der so genannten Deutschland-Trilogie mit den Romanen Nord, D’un château l’autre und Rigodon umtreibt. Ein Teil dieser Deutschland-Trilogie sollte ursprünglich sogar als dritter Teil der Féerie erscheinen. Nicht zuletzt angesichts des Misserfolgs seiner beiden ersten Teile ändert Céline jedoch seinen ursprünglichen Plan und kehrt bei aller Sperrigkeit auch dieser Texte zu einem etwas zugänglicheren Stil zurück. Die beiden Teile der Féerie bleiben in Célines charakteristischer literarischer Form der écriture de soi die konsequent ‚katastrophischsten‘ und - zumindest der Meinung mancher Kritiker nach - unlesbarsten Teile seines Werks. 6 Sondert man die Féerie aber allein aufgrund ihrer Nichtübereinstimmung mit den Erwartungen an eine fiktionalisierte Autobiographie aus dem Kanon seiner Texte aus, so verschenkt man die Chance, zu einem zentralen Moment von Célines Ästhetik vorzudringen und so ein exemplarisches Schlaglicht auf seinen ebenso problematischen wie faszinierenden literarischen Katastrophismus zu werfen. Céline widmet den zweiten Teil seiner Féerie, der zunächst unter dem Titel Normance erscheint, Plinius den Älteren (vgl. Féerie II, 177). Der Naturforscher Plinius kommt, so will es zumindest die Überlieferung durch seinen Neffen, bei der Beobachtung des Ausbruchs des Vesuv im Jahr 79 n. Chr. ums Leben. Wenn sich der célinesche Erzähler explizit mit Plinius identifiziert, so knüpft er damit an den Prototyp aller Naturforscher an, die Céline als „Kataklysten“ bezeichnet. Er bettet Plinius, wenn er ihn als Ahnherren aller Katastrophentheoretiker anruft, jedoch in ein wissenshistorisches Paradigma ein, das deutlich jüngeren Ursprungs ist und dessen Entstehung eng mit der epistemologischen Moderne im Sinn von Michel Foucault verknüpft ist. 7 Die bekannteste Ausprägung der modernen erdgeschichtlichen Katastophentheorie ist gleichsam ein ‚Nebenprodukt‘ der paläontologischen Untersuchungen von Georges Cuvier zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Der Katastrophismus fällt historisch mit der Entstehung der modernen Geologie zusammen, die sich nicht mehr als Teil einer Naturgeschichte 8 versteht, welche vorhersagbare Entwicklungen der Erde im Rahmen einer historisch konstanten Schöpfung beschreibt. Viel- 174 Arts & Lettres mehr versteht sie die Geschichte der Erde zunehmend als eine Abfolge kontingenter Ereignisse, die zwar beobachtet, aber nicht für die Zukunft vorhergesagt und ohne genaue Untersuchungen der Erdoberfläche selbst auch nicht für die Vergangenheit der Erde behauptet werden können. 9 Damit spitzt sich die bereits im Rahmen der traditionellen Naturgeschichte vorfindbare Annahme, die Erdgeschichte sei durch umfassende Veränderungen oder „Revolutionen“ geprägt, zu der Annahme zu, diese Revolutionen seien plötzlich und vor allem gewaltsam in dem Sinn gewesen, als sie die Flora und Fauna auf der Erdoberfläche ganz oder zumindest zu großen Teilen vernichtet hätten. 10 Der erdgeschichtliche Katastrophismus ist also als Frühform der modernen Verzeitlichung von Wissen zu betrachten - in exemplarischer Weise lässt sich dies erneut an Cuviers Katastrophentheorie zeigen: 11 Grundlage des Katastrophismus ist einerseits die Analyse der verschiedenen Gesteinsschichten der Erdkruste, wie Cuvier das mit seinem Kollegen Alexandre Brongniart in einer gemeinsamen Feldstudie zu den Schichten der Erdkruste im Pariser Becken unternommen hatte. 12 Dazu kommt andererseits die Untersuchung fossiler Skelette, mit denen Cuvier die Paläontologie begründet. Aus der Kombination beider Untersuchungsgebiete leitet Cuvier erdgeschichtliche Hypothesen her. Cuvier entwickelt seine Theorie vor allem in den Recherches sur les ossemens fossiles des quadrupedes 13 anhand von versteinerten Tierskeletten, bei denen er in unterschiedlichen Schichten eine Nichtübereinstimmung fossiler Skelette mit heute lebenden Spezies konstatiert. Einige der wichtigsten Funde macht er dabei in unmittelbarer Nähe seiner Arbeitsstätte im Muséum d’Histoire naturelle, nämlich in den Gipsschichten des Pariser Montmartre, wo er unter anderem die Skelette ausgestorbener Säugetiere findet, die er palaeotherium und anoplotherium nennt. Durch eigene Recherchen und den Vergleich mit anderswo in Europa und darüber hinaus gefundenen versteinerten Tierskeletten gelangt Cuvier zu der Annahme, dass unterschiedliche Erdschichten Spuren unterschiedlicher Organisationsstufen des Lebens aufweisen, von den „primären“ Gesteinsschichten ohne Fossilienfunde, in denen sich das Leben auf der Erde erst entfaltet haben muss, über die Reptilien in den als „sekundär“ bezeichneten Gesteinsformationen und die „tertiären“ Fossilien mit ausgestorbenen Säugetieren, z.B. in den Gipsschichten des Pariser Beckens, bis hin zu den großen Dickhäutern in den jüngsten Ablagerungsschichten, die in Cuviers Theorie der letzten Revolution der Erdoberfläche vorausgegangen sein müssen. 14 Um den Übergang zwischen den einzelnen Erdschichten mit ihren jeweils unterschiedlichen Fossilien zu erklären, nimmt Cuvier nach dem Modell der Sintflut eine Serie von Katastrophen an, die das Leben auf der Erde in regelmäßigen Intervallen vernichtet hätten, worauf sich eine neue Schicht pflanzlichen und tierischen Lebens herausgebildet habe. Die Sintflut - hier bezieht Cuvier die Bibel in seine wissenschaftliche Thesenbildung mit ein - sei als einzige dieser Katastrophen durch menschliche Augenzeugenschaft überliefert, dabei aber nur die letzte einer Serie von Revolutionen gewesen, die Cuvier in seinem bekannten und sehr ein- 175 Arts & Lettres flussreichen Discours sur les révolutions de la surface du globe von 1822 weiter ausführt. 15 Alle vorangegangenen Katastrophen seien nur durch geobzw. paläontologische Untersuchungen zu rekonstruieren. Der cuviersche Katastrophismus, der nicht zuletzt aufgrund der einflussreichen Stellung ihres Autors im Wissenschaftsbetrieb seit der napoleonischen Zeit von den meisten wissenschaftlichen Autoritäten zunächst geteilt wurde, beruht vor allem auf der Annahme, dass aktuell auf der Erde wirkende Kräfte (wie Überschwemmungen bzw. Vulkanausbrüche) unzureichend zur Erklärung der einschneidenden erdgeschichtlichen Umwälzungen in der Geschichte seien. 16 Allerdings wird genau diese Annahme durch Cuviers englischen Kritiker Charles Lyell nachdrücklich in Frage gestellt. Die Alternative, die Lyell propagiert und die bei Darwin schließlich mit der Annahme einer kontinuierlichen Evolution tierischen Lebens verknüpft werden wird, 17 ist das Überwiegen langfristig stabiler und gerichteter Prozesse der Erdoberfläche, wie z.B. deren allmähliche Abkühlung, über plötzliche und gewaltsame Katastrophen, die einer ‚äußeren‘ Einwirkung bedürfen. Trotz dieser baldigen Ablösung als herrschendes erdgeschichtliches Paradigma lebt der Katastrophismus in zahlreichen populärwissenschaftlichen und nicht zuletzt ästhetischen Anverwandlungen weiter. Eine wichtige Rolle für die fiktionalen Katastrophenszenarien der Literatur spielt hierbei der Wunsch nach möglichst unmittelbarer ‚Erlebbarkeit‘ von Katastrophen, die aus Cuviers Theorie nur über Indizien als längst vergangene Ereignisse der Erdgeschichte rekonstruiert werden können. Das ästhetische Potenzial der erdgeschichtliche Katastrophentheorie wird bereits durch Honoré de Balzac für den realistischen Roman entdeckt, wenn er seinen Protagonisten Raphaël de Valentin in seinem Roman La peau de chagrin (1831) in einem Antiquitätenkabinett in eine Meditation auf die Erfahrung von Geschichtlichkeit im Modus einer „Apocalypse rétrograde“ versinken lässt. 18 Unbetroffen von dieser Katastrophe der erzählten Welt bleibt bei Balzac allerdings die Erzählinstanz, die vielmehr gerade aus der Unordnung der historischen Welt die Legitimation für ihren Anspruch der auktorialen Ordnungsleistung zieht und sich dabei auf de cuvierschen Anspruch, ein „antiquaire d’une espèce nouvelle“ 19 zu sein, beruft. Im Gegensatz zu Balzacs Umgang mit der Katastrophentheorie Cuviers wird bei Gustave Flaubert deutlich, dass dieser den Katastrophendiskurs zwar auf Geschichtsebene als längst widerlegte „idée reçue“ abtut, der nur noch zwei wissenschaftliche Dilettanten wie Bouvard und Pécuchet im dritten Kapitel des gleichnamigen Romans von 1881 Glauben schenken, wenn sie an der normannischen Küste tatsächlich vermeinen, einen Kataklysmus zu erleben. 20 Doch auf Ebene der erzählerischen énonciation ist ungeachtet seiner wissenschaftlichen Obsoletheit das imaginative Potenzial des Katastrophendiskurses noch höchst lebendig - die Leser von Bouvard et Pécuchet erleben einen Kataklysmus als vergegenwärtigte ‚Szene‘, in der die ironische Rückzugsbewegung des Erzählers umschlägt in umso stärkere affektive Teilhabe. 21 176 Arts & Lettres Ebenfalls im vollen Bewusstsein seines Anachronismus kommt über ein halbes Jahrhundert später Céline nochmals auf das ästhetische Modell der erdgeschichtlichen Kataklysmen zurück - er greift dabei auf sehr spezifische Weise die wissenschaftliche Autorität des balzacschen Erzählers auf, der sich als wissenschaftlicher Beobachter über die Katastrophe erhebt. Daneben arbeitet er sich aber auch an der prekären ironischen Distanz Gustave Flauberts ab, der den Katastrophendiskurs gleichzeitig lächerlich macht und dennoch als ein Faszinosum behandelt. Céline reklamiert für sich die Position eines „Kataklysten“, 22 der die Katastrophe in actu erleben und gleichzeitig wissenschaftlich beobachten will - der zweite Teil der Féerie pour une autre fois ist das Protokoll der auf dreihundert Seiten zerdehnten Beobachtung eines paradoxen katastrophischen Moments, die ihren Ort obendrein auf dem Erinnerungsort der cuvierschen Kataklysmen schlechthin hat, nämlich auf der Butte Montmartre. Man könnte diese Situation unter Rücksichtnahme auf Célines eigenen Gewährsmann als ‚Plinius-Paradox‘ beschreiben: Der célinesche Erzähler will ein moderner, in eine cuviersche Katastrophenlandschaft versetzter Plinius sein, der den Weltuntergang wissenschaftlich protokolliert (wobei Céline geflissentlich unterschlägt, dass das faktische Wissen über den Vulkanausbruch und den Tod des Naturforschers Plinius von seinem Neffen Plinius dem Jüngeren stammt). Gleichzeitig will er aber auch als der Plinius wahrgenommen werden, der seiner eigenen wissenschaftlichen Neugier zum Opfer fällt. Dieses Paradox von gleichzeitiger Zeugen- und Opferschaft 23 lässt sich narratologisch als Spannung zwischen erzählerischer Distanzierung und narrativ simulierter Unmittelbarkeit beschreiben - sie findet sich von den ersten Sätzen an in der Erzählsituation des Romans, 24 die einerseits auf eine klassische zeitliche Distanz zwischen Erleben und Erzählen setzt, wie dies z.B. das Modell des Erinnerungsromans von Marcel Proust tut. Andererseits kassiert sie diese konstitutive Erzähldistanz sofort wieder durch die Behauptung, Vergangenheit und Gegenwart seien aufgrund der traumatisierenden Wirkung des sich ins Erzählen drängenden (Wieder-)Erlebens nicht sauber voneinander zu trennen: Raconter tout ça après… c’est vite dit! … On a tout de même l’écho encore… broum! … la tronche vous oscille… même sept ans passés… le trognon! … le temps n’est rien, mais les souvenirs! … et les déflagrations du monde! … (Féerie II, 179) Die Erzählerrede setzt ohne Ich-Deixis mit unpersönlichen Verben („on a“) bzw. Infinitivformen („raconter tout ça“) ein; die Perioden werden durch Célines berühmte drei Auslassungspunkte skandiert, die hier von der ersten Zeile an, insbesondere durch die kursiv gesetzten lautmalerischen Ausdrücke, als sprachliche Modellierung des Anschwellens und Abebbens der Druckbzw. Schallwellen von Explosionen lesbar werden. An die Stelle der Erzählerrede mit ihrer kohärenzstiftenden Deixis tritt der Eindruck, einem Ereignis beizuwohnen, bei dem die narrative Distanz bewusst nivelliert wird und der Erzähler den unauflösbar widersprüchlichen Wunsch manifestiert, zugleich distanzierter Beobachter zu sein und sich in 177 Arts & Lettres die Perspektive eines traumatisierten Opfers zu spielen. So kippt auch auf der Ebene der erzählten Welt die räumlich erhöhte Zuschauerperspektive wiederholt in das Phantasma eines Einbzw. Absturzes. In einer stark markierten raumsemantischen Opposition von Höhe und Tiefe entfaltet Céline seitenlang die Vorstellung eines Falls aus der Höhe der Theaterloge in den kraterartigen Schacht der von Steinbrüchen, Metroschächten und der Kanalisation unterminierten Butte Montmartre. Unmittelbar in Anschluss an die bereits zitierte Bemerkung zur Theaterloge heißt es: mais tout de même les fonds de la Butte… […] elle est creuse, elle est bulle la Butte! ils vont la raplatir c’est tout! … elle effondrera! … ils laisseront rien en surface… tout ira s’engloutir aux gypses, sous les égouts! … pas un pan de mur, on retrouvera! … rien! … (Féerie II, 191) Die hier anklingende Vorstellung vom Plinius-artigen Sturz in einen Vulkankrater, mit dem die Butte an anderen Stellen der Féerie verglichen wird, durchzieht den Text als eine Art Leitmotiv. Bezeichnenderweise stellt der Hinweis auf die „gypses“, die sich unter den von Menschen geschaffenen „égouts“ befinden, den Anschluss an die paläontologischen und erdgeschichtlichen Forschungen Cuviers her: In diesen Gipsschichten hat Cuvier die Skelette gefunden, die wesentlichen Anteil an der Entwicklung seiner Katastrophentheorie gehabt haben. Auch wenn sich die erdgeschichtliche Makro-Katastrophe nicht realisiert, wird deren Struktur doch - als persönliche Mikro-Katastrophe und „mise en abyme“ in des Ausdrucks konkretester Bedeutung - in einer wiederholt berichteten Szene des Romans wieder aufgenommen, die vom Sturz des Erzählers in den Aufzugschacht seines Hauses handelt. 25 Im Zentrum der Ereignisse der Féerie steht somit nicht die auratische Restitution einer verloren geglaubten Erinnerung, wie etwa im Erinnerungsprojekt Marcels Prousts, sondern die traumatische ewige Wiederkehr einer unbewältigten Katastrophe. 26 Die traumatische Qualität der Katastrophe für den célineschen Erzähler macht es nötig, über die Naturgeschichte in der Tradition Cuviers hinauszugehen. Im Gegensatz zu den Ereignissen, die Plinius beobachtet, handelt es sich bei dem, wovon Célines Erzähler berichtet, im eigentlichen Sinn nicht um eine Naturkatastrophe, selbst wenn die Pariser Ereignisse des Frühjahrs 1944 zu einer solchen stilisiert werden, sondern um ein von Menschenhand hervorgebrachtes Ereignis. Damit ist die zweite Ebene erreicht, auf der es Célines Katastrophismus zu untersuchen gilt. II. Politik: Katastrophe und Ausnahmezustand Walter Benjamin diagnostiziert in einem Fragment seines Passagen-Werks die Tendenz seiner Zeitgenossen zu Vergleichen zwischen dem Untergang der Zivilisation und der Naturgeschichte folgendermaßen: 178 Arts & Lettres Die Phantasien vom Untergang von Paris sind ein Symptom davon, daß die Technik nicht rezipiert wurde. Aus ihnen spricht das dumpfe Bewußtsein, daß mit den großen Städten die Mittel heranwuchsen, sie dem Erdboden gleichzumachen.27 Diese Aussage findet sich im Konvolut C des Passagen-Werks, wo Benjamin eine Reihe der vor allem in den Dreißigerjahren des 20. Jahrhunderts florierenden Phantasien vom Untergang der Stadt Paris gesammelt hat. 28 Benjamin behauptet dabei sicherlich zu Recht, dass die Einkleidung von Untergangsphantasien in eine naturgeschichtliche Metaphorik letztlich auf ein Defizit im Umgang mit moderner Technologie und somit auf eine Geste der Verweigerung gegenüber den unmittelbaren Gründen dessen, was als ‚Untergang‘ vorgestellt wird, verweist. Das, was er ein „dumpfes Bewusstsein“ nennt, gibt darüber hinaus jedoch einen interessanten Hinweis auf die Funktion naturalisierender Metaphorik zur Beschreibung kultur- und technikgeschichtlicher Ereignisse. Traditionell darf man dem Natur-Vergleich zur Beschreibung politischer Prozesse wohl eher ein ent-zeitlichendes Moment für das Verständnis politischer Ereignisse unterstellen. Diese Funktion der Naturmetaphorik kommt jedoch genau in dem Moment ins Wanken, in dem die natürliche Dynamik im Rahmen der Katastrophentheorie nur noch von kontingenter, keinen vorhersagbaren Regeln mehr gehorchender Ereignishaftigkeit zeugt. Vor dem Hintergrund einer katastrophischen Naturgeschichte im modernen Sinn ist die Funktion der ‚Naturalisierung‘ der Vision des Untergangs von Städten möglicherweise nicht mehr eine, die auf ein Defizit in der Wahrnehmung historischer Kontingenz hindeutet, sondern eine, die diese Kontingenz auf indirekte oder, wie Benjamin schreibt, „dumpfe“ Art noch verstärkt. Bezeichnenderweise ist es in der französischen Literatur seit dem 19. Jahrhundert häufig die Butte Montmartre, die zum Ausgangspunkt solcher Phantasien vom Untergang Paris’ wird, in denen sich Verkennung und Krisenbewusstsein in spezifischer Weise artikulieren. Der angedeutete Bezug zu Cuviers erdgeschichtlichen Katastrophismus bleibt auch angesichts der Bedrohungsszenarien einer technisierten Moderne im 20. Jahrhundert noch lebendig. So wählt beispielsweise der Schriftsteller und Journalist Léon Daudet in einer Paris-Beschreibung von 1930 die Butte als den privilegierten Beobachterstandpunkt, von dem aus ein Kataklysmus wahrnehmbar wird: On regarde d’en haut ce peuple de palais, de monuments, de maisons, de masures qui a l’air rassemblé en vue d’un cataclysme, ou de plusieurs cataclysmes, soit météorologiques, soit sociaux… […] Aussi ce qui étonne quand on visite Paris […] du haut du Sacré-Cœur […], c’est que Paris […] ai[t] duré.29 Auch Célines katastrophischer Schau-Platz während der Bombennächte von 1944 ist die Butte Montmartre, wobei im Fall der von ihm beschriebenen Katastrophe, wie bereits dargestellt, der Montmartre nicht nur der privilegierte Aussichtspunkt ist, von dem aus sich Katastrophen beobachten lassen, sondern auch der Ort, an dem die Katastrophe selbst stattfindet. Ebenso wie Daudet blendet Céline dabei in seinen Beschreibungen der Katastrophe als naturgeschichtliches Ereignis vorder- 179 Arts & Lettres gründig aus, dass die Bombardements einen sehr konkreten politischen Anlass haben, der zudem den Auftakt für Célines Flucht mit den Machthabern des Vichy- Régimes nach Sigmaringen und die daran anschließenden weiteren Reisen liefert. Gleichzeitig wird in der Stilisierung der Bombardements zum erdgeschichtlichen Kataklysmus bei Céline aber ein besonderes Sensorium für die Kontingenz von Katastrophenerfahrungen deutlich, das gerade auf der diskursiven Verschiebung von der politischen Erklärbarkeit zur naturgeschichtlichen Ereignishaftigkeit beruht. Es wäre jedoch in höchstem Maße irreführend zu behaupten, dass Célines Katastrophismus ‚unpolitisch‘ sei - ganz im Gegenteil ist er politisch auf eine höchst prekäre Art und Weise. Auch in dieser Hinsicht ist die Verbindung Célines zu dem bereits erwähnten Léon Daudet nicht ohne Bedeutung. Daudet ist nicht nur ein literarischer Förderer Célines, der dessen Voyage au bout de la nuit, wenn auch letztlich ohne Erfolg, für die Verleihung des Prix Goncourt vorschlägt. Es handelt sich bei ihm auch um eine der führenden Figuren der nationalistischen und antisemitischen Action française. 30 Céline ist in seinen Pamphleten der Dreißigerjahre, die es hier mit einzubeziehen gilt, erschreckend konsequent in seiner Nutzung des Modells erdgeschichtlicher Kataklysmen zur Darstellung des katastrophischen Geschicks Frankreichs und der Franzosen gegenüber denjenigen, die in seinen Augen die Katastrophe verursachen, nämlich den Juden. Dabei benutzt er nicht nur gängige rassenhygienische oder antisemitische Versatzstücke, wie sie von diversen Vertretern der Action française propagiert werden, sondern amalgamiert sie mit den Grundlagen seiner katastrophischen Ästhetik. Bagatelles pour un massacre wie auch die späteren politischen Pamphlete bis 1941 sind eine abstoßende Sammlung gängiger antisemitischer Stereotypen zur Weltgeschichte, etwa wenn Céline versucht, unter Aufbietung aller ihm bekannten antisemitischen Verschwörungstheorien 31 seinen Katastrophismus mit der Furcht vor der jüdischen Weltrevolution kompatibel zu machen und wiederholt einen „déluge juif“ 32 imaginiert. Die Frage ist, inwieweit sich diese politischen Hasstiraden der Dreißigerjahre auf die Féerie zu Anfang der Fünfzigerjahre beziehen lassen. Weit davon entfernt, sich von seinen Positionen der Vorkriegszeit zu distanzieren, spitzt Céline nunmehr den Katastrophismus noch weiter zu, und zwar unter Einbeziehung all der antisemitischen Implikationen der Pamphlete. Man könnte vor diesem Hintergrund Célines Ausweitung seiner katastrophischen Phantasie als eine trotzige revisionistische Strategie verstehen, die dem universellen ‚Judentum‘ die Vernichtung von Paris zuweist. Eine solche Sichtweise ist keineswegs ausgeschlossen, sie greift jedoch insofern zu kurz, als sie Célines Darstellung der Pariser Bombennächte als eine kalkulierte politischen Aussage behandelt, die die Darstellung der Katastrophe zur Funktion eines bestimmten politischen Ziels werden lässt. 33 Bis zu welchem Punkt dies zutrifft, gilt es in der Folge zu untersuchen. Dabei muss auch die eigene Betroffenheit des Erzählers durch seine Katastrophenszenarien im Aussageakt mit einbezogen werden. 180 Arts & Lettres Von verschiedener Seite wurde bereits auf die spezifische (Selbst-)Opferlogik hingewiesen, die Céline in zahlreichen seiner Texte, d.h. in den Romanen wie auch in den Pamphleten, entwickelt. 34 Arnold Mandel behauptet, dass es sich bei Célines Antisemitismus um eine paranoid verschobene Opferkonstellation handele, bei der er den Status der jüdischen Verfolgten auf sich selbst bezieht. 35 Martin von Koppenfels geht, um den Zusammenhang von Antisemitismus und Selbstopferung zu erklären, aus diskursgeschichtlicher Perspektive einen anderen Weg: Wie er am Beispiel des Umgangs Célines mit dem medizinischen Diskurs zeigt, stilisiert dieser sich zum Opfer, das sich willentlich mit den Krankheiten des Jahrhunderts infiziert, um die Welt zu retten - als paradigmatisch sieht Koppenfels hier die Dissertation Célines über den ungarischen Arzt Ignaz Semmelweis an, der angeblich durch Selbstinfektion zu einem der Wegbereiter der Immunologie wird. 36 Der sich selbst infizierende Arzt ist bei Céline nicht nur Beobachter und Opfer der Infektion zugleich, sondern als Schriftsteller auch noch selbst Produzent einer bedrohlichen Ansteckungs-Phantasie. Diese imaginative Form der Selbstinfektion lässt sich im Hinblick auf den Katastrophismus nunmehr auf das beziehen, was hier das Plinius-Paradox der Féerie pour une autre fois genannt wurde. Céline ist der Kataklyst, der sich in die Rolle des Opfers seiner eigenen Katastrophenphantasien spielt - die Erzählerposition des wissenschaftlichen Beobachters kippt dabei wiederholt und unkontrolliert in die Position des Erlebenden. Im Rahmen dieses wiederholten Kippens wird allerdings die angekündigte Opferung nie wirklich vollzogen. Der sich selbst infizierende Arzt bzw. der Kataklyst ist also kein Sündenbock im klassischen Sinn, dessen Tod eine Ordnung wieder herstellen würde, 37 sondern er versetzt sich selbst in einen nicht enden wollenden imaginierten Ausnahmezustand und somit in die Position einen „nackten“, d.h. nach Giorgio Agamben jederzeit tötbaren, aber nicht opferbaren Lebens - eine Konstellation, in der die faktische Tötung immer weiter aufgeschoben wird, um den Moment der Katastrophe auf Dauer zu stellen. 38 Das nackte Leben erscheint dabei zusammen mit der hässlichsten Seite von Célines katastrophischer Imagination, die den ‚kalten‘ Untergang in einer neptunischen Sintflut durch die wiederholt evozierte Möglichkeit des Verbrennens in der Hitze eines Ofens, also durch die ‚heiße‘, vulkanische Variante des Katastrophismus überbietet. Hier ist vor allem die Figur des Jules von Bedeutung, die sich auf den Maler und Bildhauer Gen Paul bezieht, einer von Célines Künstlerfreunden auf der Butte Montmartre. Jules als beinamputierter cul-de-jatte, der sich in einem kleinen Wagen fortbewegt, wird vom Erzähler der Féerie in den Stand eines trotz seiner Behinderung hoch potenten Lüstlings erhoben, der die Frau des Erzählers, die ihm Modell steht, behelligt. Aus dieser persönlichen sexuellen Rivalität heraus generiert der célinesche Erzähler ein Szenario der Vernichtung von ganz Paris, bei dem ein volltrunkener Jules in tollkühnen Bewegungen mit seinem Wagen auf dem Dach des Moulin de la Galette ganz in der Nähe von Célines Haus herumfährt. Der Erzähler unterstellt ihm, er würde von dort aus als „navigateur cataclyste“ (Féerie II, 244) die Angriffe der alliierten Bomber koordinieren und deren Bomben gerade- 181 Arts & Lettres wegs auf Ferdinand als Ziel hinlenken, während er gleichzeitig die Vernichtung der Stadt in ihrer Gesamtheit herbeiführt: Mais plus encore, il [sc. Jules] voudrait! Toute la catastrophe! Que les aravions crèvent la Butte… défoncent, engouffrent le Sacré-Coeur… plus maléfique qu’il est vraiment qu’on pourrait penser! ça là maintenant, je vois! je vois! je discerne! Ah, deux, qui lui obéissent! … deux avions qui se détachent des autres… (Féerie II, 216) Die Szene endet in der neuerlichen Beschreibung eines Bombardements, das das Wohnhaus der Erzählers zur Erschütterung bringt. Jules wird - mit Giorgio Agamben gesprochen - zu der dem homo sacer Ferdinand korrespondierenden Figur des Souveräns, der zumindest in dessen Vorstellung die Bombenangriffe koordiniert und kontrolliert. An Jules als „artiste“ (Féerie II, 216) orientiert der Erzähler in diesem Moment auch seine narrative Souveränität als katastrophischer Berichterstatter. In Zusammenhang damit spielt er wiederholt auf Jules’ Tätigkeit als „céramiste“ an, der Keramikgefäße und Plastiken herstellt. 39 Sein Attribut ist insbesondere der Brennofen, der ihm mythologische Züge des Hephaistos bzw. Vulcanus verleiht. Doch Céline schreckt auch vor einer weiter reichenden Assoziation in Bezug auf den Ofen nicht zurück. Wenn Jules in der Bombennacht auf dem Dach des Moulin de la Galette atemlos schwitzend die Bombenangriffe überwacht und kontrolliert, dann wird dabei die ganze Stadt Paris zum „four“ in einem sehr viel grausameren Sinn - sie wird zumindest potenziell zum Krematorium eines gigantischen Lagers, in dem nacktes Leben biopolitisch vernichtet wird, ohne dass eine klare Unterscheidung zwischen Tätern und Opfern möglich wäre. 40 Zwar wird der Moment der endgültigen Vernichtung in der Féerie immer auf „une autre fois“ aufgeschoben und provoziert dadurch die Wiederholung des drohenden Katastrophenszenarios, doch es bleibt festzuhalten, dass alle Menschen einschließlich des dirigierenden Souveräns Jules, der von dem von ihm selbst angefachten Feuer bedroht wird, als potenziell tötbar erscheinen. 41 Wie bereits gezeigt, lässt die Entgrenzung der Katastrophenvision der Féerie in letzter Konsequenz auch die Kontrolle der Erzählinstanz über das Erzählte in einer Art und Weise kollabieren, die die Souveränität des Erzählers als Beobachter unentwegt in die Fratze seiner nackten, jederzeit tötbaren Existenz kippen lässt - die Féerie pour une autre fois II inszeniert somit auch und vor allem bezüglich ihrer eigenen Sprechsituation einen zugespitzten narrativen Ausnahmezustand, in dem erzählerische Souveränität und sakrifizielle Hingabe an das Erzählte entdifferenziert werden: Damit ist die katastrophische Imagination Célines nicht nur die zynische Revanche eines ewigen Revisionisten, sondern gleichzeitig auch die zunehmend unkontrollierte Selbstinfektion eines Kataklysten von seinen eigenen Theorien des Untergangs. 182 Arts & Lettres III. Ästhetik: Katastrophe und Feerie Es hat sich bislang gezeigt, dass Céline in der Féerie die Tradition des erdgeschichtlichen Katastrophendiskurses dazu benutzt, um sich als Erzähler in eine Kommunikationssituation zu manövrieren, die einen Ausnahmezustand der völligen Entdifferenzierung von Ordnung inszeniert, sowohl im Hinblick auf das erzählte Geschehen (indem das Bombardement von Paris mit Vernichtungslagern gleichgesetzt wird) als auch auf der Erzählebene (indem die narrative Distanz des fiktionalen Erzählers als auch des Pamphletisten zugunsten einer Simulation unmittelbarer Affektmodellierung überschritten wird, die den Erzähler zum rein reaktiven Seismographen von Kataklysmen machen will). Selbst diese Entdifferenzierung ist jedoch noch an eine Form gebunden - eine ästhetische Form, die deutlich macht, dass das, was hier inszeniert wird, weder ausschließlich mit einem natürlichen noch mit einem politischen Geschehen zu verrechnen ist, sondern dass es sich dabei in all ihrer Ambivalenz um eine ästhetische Inszenierung handelt, die sich einer ganz bestimmten medialen Konstellation bedient. Einen ersten Hinweis auf diese Konstellation liefert wiederum Jules, der imaginierte Dirigent des Kataklysmus, wenn der Erzähler Ferdinand ihn unter anderem als Zauberer mit seinem Stab bezeichnet. 42 Dies lässt erkennen, dass es sich bei dem, was vor den Augen der Beobachter abläuft, für Céline um nichts weniger als ein spektakuläres Katastrophen-Schauspiel handelt. Es verbietet sich also, bei einer rein wissensgeschichtlichen oder auch bei einer ausschließlich politischen Lektüre stehenzubleiben. Die naturgeschichtlichen Kataklysmen wie auch der erzählerische Ausnahmezustand geben sich bei Céline letztlich als Konstellationen zu erkennen, die der theatralen Inszenierung bedürfen. 43 Es bleibt allerdings die spezifische (inter-)mediale Form dieser Inszenierung zu untersuchen, auf die Céline hier zurückgreift, nämlich die Feerie. Die Féerie pour une autre fois ist für Céline nur der Kulminationspunkt einer langen Beschäftigung mit dieser Gattung des Boulevardtheaters bzw. des frühen Films, mit der er seit seiner Kindheit vertraut ist. Als Kind pflegt Louis-Ferdinand Destouches ein ausgeprägtes Faible für das spektakuläre Melodrama im Theater sowie im frühen Film. Daran anknüpfend schreibt er in den Dreißigerjahren eine Reihe von - übrigens trotz verschiedenster Anstrengungen ihres Autors nie aufgeführten - Balletten, die er als „féeries“ bezeichnet. Man hat diese Stücke häufig als bedeutungslose Gelegenheitstexte abgetan, die Céline für seine Geliebten bzw. Frauen schrieb, die stets Tänzerinnen waren. Es wäre dennoch vorschnell, die Bedeutung der Feerie für Céline einzig als Rest von Kindheitsträumen oder als Träger von erotischen Phantasien abzutun. Vielmehr stellt die Form der Feerie in ihrer spezifischen narrativen Aneignung den Textgenerator dar, der die fundamentale politische Ambivalenz seiner Texte zwischen politischem Pamphlet, wissenschaftlichem Bobachtergestus und romanhafter Fiktion deutlich hervortreten lässt. 44 Dabei gilt es auch zu berücksichtigen, dass drei der von Céline verfassten und später unter dem Titel Ballets sans musi- 183 Arts & Lettres que, sans personne, sans rien veröffentlichten Feerien ursprünglich Teil seines massiv antisemitischen Pamphlets von 1937 mit dem Titel Bagatelles pour un massacre waren. Weit davon entfernt, auf eine harmlose Welt des Wunderbaren zu verweisen, ist die Feerie für Céline also gerade im Stande, die katastrophischen Aspekte seiner imaginierten Ausnahmezustände zu integrieren. Dazu gilt es allerdings genauer zu untersuchen, worin die Gattungstradition der Feerie besteht und was sie für Célines Pariser Kindheit um 1900 bedeutet. Feerien sind um die Jahrhundertwende nicht mehr, wie in der Frühen Neuzeit, Teil einer höfischen Theaterpraxis, in der Tanz, Gesang und Sprache zusammenkommen, sondern eine zeitgenössische Form populären Theaters, die sich allerdings ebenso wie die frühneuzeitliche Feerie durch eine besondere Aufmerksamkeit auf den Gebrauch bühnentechnischer Möglichkeiten auszeichnet. Die moderne Feerie des 19. Jahrhunderts, die in den französischen Boulevardtheatern bei einem breiten Publikum immer beliebter wird, verknüpft sich vor allem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit einer zunehmenden Faszination am Wunderbaren moderner Technik. Der Gebrauch von magischen Figuren wie Elfen und Feen wird dabei zum Vorwand für die spektakuläre Entfaltung der technischen Imagination der Moderne, wenn verschiedenste Maschinen die Bühne beherrschen und die Wunder der Elektrizität gefeiert werden. Die Spektakularität, d.h. die Überbietungsdynamik einzelner inszenierter Tableaus, die meist nur durch eine lockere Rahmenhandlung zusammengehalten werden, verhilft der Feerie zu einer besonderen Beliebtheit beim Dramenpublikum. 45 Wie kommt aber eine so scheinbar marginale und harmlose Gattung wie die Feerie dazu, zur Folie für die Inszenierung erdgeschichtlicher wie auch politischer Katastrophen zu werden? Eine mögliche Antwort dafür liegt in der Gattungsgeschichte selbst und in der Tatsache, dass die Feerie, die ihre Hochkonjunktur in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erlebt, nach einem letzten Aufschwung, der sich der jungen Gattung Film verdankt, ab spätestens 1910 weitgehend von der Bühnen verschwindet. Dadurch wird die Gattung aber gerade frei für funktionale Umbesetzungen jenseits der Theaterbühne - eine alles andere als harmlose Variante der Feerie, die nach Hélène Laplace-Claverie besonders im 20. Jahrhundert sehr verbreitet ist, ist die so genannte „féerie noire“. 46 Dies allein erklärt aber noch nicht die besondere Attraktivität der Feerie für den célineschen Katastrophismus. Für die Inszenierung erdgeschichtlicher Katastrophen ist in struktureller Hinsicht insbesondere der tableauartige Aufbau der Feerie von Interesse. In einer Gattung, die vorwiegend Wert auf spektakuläre Momente der Inszenierung lenkt, ist die Syntagmatik der erzählten Geschichte nachrangig gegenüber der theatralen Ereignishaftigkeit, die sich in jedem einzelnen der Tableaus entfaltet. Auch die populärwissenschaftlichen Anverwandlungen von Cuviers Katastrophismus im 19. Jahrhundert ziehen gerne spektakuläre Tableaus als Illustrationen von wissenschaftlichen Schriften heran, um den Lesern Szenen des von Cuvier rekonstruierten prähistorischen Lebens vor der Katastrophe vor Augen zu führen. 47 Diese Doppelbedeutung des „Tableaus“ als Illustration und Theater- 184 Arts & Lettres szene macht einen Zusammenhang von Wissensorganisation und spektakulärer Inszenierung erkennbar, der bereits im 19. Jahrhundert von Gustave Flaubert zur Verknüpfung von Feerie und Katastrophe genutzt wird. Flaubert begeistert sich schnell für das spezifische Wunderbare und auch die Komik der Feerie und ist, wie Céline, selbst Autor von Feerien. Darüber hinaus verknüpft er in seinen narrativen Texten den tableauartigen Aufbau der Feerie dezidiert mit der Frage nach der Darstellbarkeit katastrophischer Ereignisse. 48 So verfällt er in Bouvard et Pécuchet auf die Idee, dieses Strukturmodell zur Inszenierung einer cuvierschen Schöpfungsgeschichte in Tableaus zu verwenden, wobei jedem Tableau eine Epoche der Erdgeschichte entspricht. Nach der Beschreibung der einzelnen Tableaus heißt es: „Toutes ces époques avaient été séparées les unes des autres par des cataclysmes, dont le dernier est notre déluge. C’était comme une féerie en plusieurs actes, ayant l’homme pour apothéose.“ 49 Flaubert respektiert dabei die Gattungskonvention der Feerie sogar bis hin zum terminus technicus der „apothéose“ im letzten Tableau: Die „Apotheose“ stellt den in Feerien besonders häufigen Moment dar, in dem die Serie der Tableaus durch den bühnentechnisch ermöglichten Aufstieg der Hauptperson (meist einer Fee) in die Höhe an ihr Ende kommt: 50 Die Apotheose soll im Rahmen der Feerie die vorangegangenen Tableaus in ihrer Spektakularität nochmals überbieten und einen markierten Schlusspunkt setzen. Bei Flaubert tritt nun aber an die Stelle der Apotheose in Bouvard et Pécuchet der imaginierte Kataklysmus. 51 Damit wird die Apotheose zu einem höchst ambivalenten Moment, wenn die beiden Protagonisten die Feier des Menschen als letzten Akt der Feerie in einen von ihnen imaginierten cuvierschen Kataklysmus kippen lassen. Diese Ambivalenz von Apotheose und Katastrophe macht sich auch Céline in seiner Féerie pour une autre fois zu eigen. Deren zweiter Teil suggeriert in Bezug auf das Strukturmodell der Feerie mit ihrer Abfolge von Tableaus ebenfalls den möglichen Abschluss der Tableau-Folge mit einer Apotheose, die gleichzeitig der Untergang der Welt wäre. Die Besonderheit des Projekts der Féerie pour une autre fois besteht allerdings darin, dass sie den finalen Moment der katastrophischen Apotheose auf über dreihundert Seiten ausdehnt. Dabei wird, wie schon als narrative Lösung des Plinius-Paradoxes angedeutet, das tatsächliche Eintreten der Katastrophe immer wieder aufgeschoben, was überhaupt die Möglichkeit eröffnet, von einem im Prinzip momenthaften Ereignis in Romanlänge zu erzählen. Dieser erzählkonstitutive Aufschub prägt mit seiner Spannung von Serialisierung und Zuspitzung die Makrostruktur des Textes im Sinn einer Feerie, die nicht zu Ende kommen kann, weil sie auf andauernde Steigerung und Verschiebung ihrer abschließenden Apotheose bedacht ist. Ein letzter Punkt, den es im Rahmen der vorliegenden Überlegungen zu untersuchen gilt, ist die Funktion des eigentümlichen Medienwechsels, dem Céline die Gattung der Feerie unterzieht - eine Gattung, die ohnehin bereits in unterschiedlichen Mediendispositiven wie dem populären Theater und dem frühen Film angesiedelt ist. Céline definiert über den Umgang mit der Feerie sein Verhältnis zu an- 185 Arts & Lettres deren Medien im Sinn einer Konkurrenz, ja sogar eines Verdrängungswettbewerbs. Die (als theatrale oder filmische Gattung längst obsolete) Feerie soll ihm als Mittel dienen, die Grenze dessen zu testen, was romanhaftes Erzählen im Zeitalter des Films noch leisten kann. Über Flaubert und Céline wird die Feerie somit unversehens zu einem Motor experimentellen Erzählens. 52 Wie aus der nachgelieferten „Poetik“ zur Féerie, den Entretiens avec le professeur Y hervorgeht, sieht sich Céline in einer Situation der scharfen Konkurrenz mit den zeitgenössischen technischen Medien, allen voran mit dem Kino. Als Kind hat Céline selbst die Anfänge des Mediums miterlebt und davon nicht unwesentliche Inspirationen für sein Verständnis der Feerie bezogen: Gerade die Spektakularität der Inszenierung macht die Feerie attraktiv für das frühe Kino vor 1910: Die Feerie, wie sie beispielsweise in den Filmen von Georges Méliès auftaucht, hat in besonders ausgeprägtem Maße teil an einem allgemeinen Charakteristikum des frühen Kinos, das sich in Anschluss an den Filmwissenschaftler Tom Gunning als „Kino der Attraktionen“ bezeichnen lässt. 53 Mit den Attraktionen des kinematographischen Dispositivs läuft die filmische Feerie der Bühnen-Feerie, mit der sie um das gleiche Publikum konkurriert, bald den Rang ab, wird jedoch selbst ab dem zweiten Jahrzehnt des 20. Jahrhundert mit der Entwicklung des Erzählkinos weitgehend obsolet. Das (Erzähl-)Kino hat der Literatur, so zumindest Céline, Anfang der Fünfzigerjahre längst den Rang abgelaufen - er denkt dabei vor allem an den populären Hollywood-Film und weniger an die aufkommenden ‚neuen‘ Kinematographien der Nachkriegszeit. Bereits in den Dreißigerjahren polemisiert Céline, u.a. nach einer gescheiterten Verfilmung seines Voyage au bout de la nuit, im Rahmen seiner antisemitischen Pamphlete zunehmend gegen die - so der Tenor von Bagatelles pour un massacre - ‚jüdisch‘ unterwanderte kinematographische Unterhaltungsindustrie. 54 Célines Projekt (um dessen relative Aussichtslosigkeit er wohl selbst weiß) besteht nunmehr, nachdem seine eigenen Theaterstücke gescheitert sind, in der Rettung der (Erzähl-)Literatur durch die Überführung der Feerie von der Bühne bzw. von der Leinwand ins Buch. Hier soll die Spektakularität des Katastrophischen eine Zuflucht bekommen, die aber keineswegs einen ‚rein‘ ästhetischen Rückzugsraum darstellt, sondern die ganz im Gegenteil im Licht der Medienkonkurrenz eine mögliche Selbstaufgabe der Gattung Roman in ihren klassischen erzählerischen Kompetenzen beinhaltet. Die Form der Katastrophe, die als solche, wie dargestellt, immer unabgeschlossen bleibt und auf Serialität gestellt wird, macht den Roman durchlässig für die umfassende „Feindschaft der Welt“: J’ai pas de cinéma personnel pour vous faire voir le tout assis… confortable… ou comme dans un rêve… ni de „bruitage“ non plus… ni de critiques rémunérés aptes à me vous tartiner mille louanges du tonnerre de Dieu de mes génies! … j’ai que l’hostilité du monde et la catastrophe! … (Féerie II, 272) Damit arbeitet Céline letztlich auch auf einer dritten und letzten Ebene an der katastrophischen Infragestellung der Ordnung der modernen Erzählliteratur: Wie im 186 Arts & Lettres ersten Teil dieser Ausführungen beschrieben, bringt er sich in seiner Rolle als „Kataklyst“ durch das, was hier als „Plinius-Paradox“ bezeichnet wurde, selbst in eine Kipp-Position von distanzierter Beobachter- und implizierter Opferrolle. Diese Position bedeutet im Hinblick auf ihre politischen Implikationen weiterhin die Entdifferenzierung von fiktionalem Erzählen und politischem Pamphletismus zugunsten einer Logik der imaginierten Selbst-Infektion mit den eigenen antisemitischen Weltuntergangsvorstellungen - so weit der zweite Teil der vorangegangenen Überlegungen. Der dritte Teil sollte schließlich zeigen, dass die populäre Gattung der Feerie bei Céline als ästhetische Form dieser katastrophischen Entdifferenzierung fungiert. Allerdings wird die pointierte Prägnanz spektakulärer Überraschungseffekte auf der Bühne oder im Film in Célines literarischer aemulatio aufgelöst zu einem katastrophischen Überbietungsszenario, das nie zum glorreich-katastrophischen Schlusstableau gelangen kann und dessen Höhepunkt so immer wieder weiter aufgeschoben werden muss. Die spezifische Katastrophenkompetenz der modernen Literatur scheint demnach in der rückhaltlosen Bereitschaft zur Aufgabe all der Errungenschaften der literarischen Distanznahme zu finden zu sein, welche sich in der flaubertschen Ironie oder auch in der ‚kalten‘ Faszination eines Ernst Jünger am Schauspiel der Gewalt noch zeigt. Der literarische Kataklyst Céline setzt die distanzierte Position des Literaten, dank derer er zum Romancier geworden ist und wieder in den französischen Literaturbetrieb der Nachkriegszeit zurückfindet, bewusst aufs Spiel: Sein ‚heißes‘ Katastrophenszenario durchschlägt immer wieder in entdifferenzierender Absicht den Freiraum distanzierter literarischer Beobachtung, aus dem heraus es überhaupt möglich geworden ist. Bezeichnenderweise bleibt er jedoch auch in dieser Zerschlagung etablierter Schemata autobiographischer wie auch fiktionaler Kommunikation noch an eine andere, mit den Mitteln spektakulärer Theatralität operierende ästhetische Form gebunden: die katastrophische Feerie. 55 1 Ernst Jünger: Strahlungen II (1949), in: id.: Sämtliche Werke, vol. 3, Stuttgart, Klett-Cotta, 1979, 271 (Eintrag vom 27. Mai 1944). Die vor einiger Zeit mit feuilletonistischer Orchestrierung lancierte neu-rechte Vermutung, der jüngersche Tagebucheintrag vom 27. Mai 1944 sei bloß erfunden, tut der Vergleichbarkeit zwischen Jünger und Céline keinen Abbruch, ganz im Gegenteil, insofern beide die Bombenangriffe auf Paris literarisch stilisieren und möglicherweise fiktionalisieren. Die Frage, um die es hier gehen soll, ist diejenige, welche textuelle Funktion Katastrophenbeschreibungen haben und nicht, was sie (so die Debatte um Jüngers „Burgunderszene“) evt. an biographischen Ereignissen aufgreifen bzw. camouflieren. Cf. Martin Thoemmes: „Liebe statt Bomben. Ernst Jüngers ‚Burgunderszene‘ muß neu gelesen werden“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 85, 10.04.2004, 37. 2 Céline überblendet und konzentriert dabei die verschiedenen Bombardements von Paris und der banlieue während der Kriegsjahre, die tatsächlich bereits im März 1942 beginnen, zur dramatischen Zeiteinheit einer einzigen Nacht. 3 Ich zitiere nach der Pléiade-Ausgabe der Romans, ed. Henri Godard, Paris, Gallimard, 1993, vol. 4 (in der Folge zitiert im laufenden Text mit der Sigle Féerie I/ II), hier: Féerie I, 3. 187 Arts & Lettres 4 Célines Kriegstrauma erscheint in seinen Romanen von Anfang an im Zeichen ästhetisch inszenierter Spektakularität. Seit dem Voyage au bout de la nuit ist der Jahrmarkt bei ihm unauflöslich mit dem Krieg verbunden, wenn dort die verschiedenen Schießstandszenen ein Paradigma bilden, das auf die gleich zu Beginn des Romans von Bardamu erlebte Bombenexplosion im Ersten Weltkrieg zurückverweist: Cf. Voyage au bout de la nuit (1932), Paris, Gallimard, 1952, 28. 5 Cf. zu Célines Biographie das umfassende dreibändige Referenzwerk von François Gibault: Céline, Paris, Mercure de France, 1985. 6 Cf. beispielsweise das Urteil von Merlin Thomas: Louis-Ferdinand Céline, London/ Boston, Faber & Faber, 1979, 208: „a pretentious bore“. 7 Cf. Michel Foucault: Les mots et les choses, Paris, Seuil, 1966, 229-398. 8 Zum Ende der Naturgeschichte cf. in Anschluss an Foucaults Diskursarchäologie Wolf Lepenies: Das Ende der Naturgeschichte. Wandel kultureller Selbstverständlichkeiten in den Wissenschaften des 18. und 19. Jahrhunderts, Frankfurt a.M., Suhrkamp, 1976. 9 Cf. die grundlegenden Studien von Martin J.S. Rudwick: Bursting the Limits of Time: The Reconstruction of Geohistory in the Age of Revolution, Chicago, University of Chicago Press, 2005; sowie Worlds before Adam: The Reconstruction of Geohistory in the Age of Reform, Chicago, University of Chicago Press, 2008. Rudwick untersucht in diesen Studien die Entstehung der modernen Geologie als Übergang von der spekulativen „geotheory“ zur auf Feldforschung gestützten und kontingenten „geohistory“ (cf. exemplarisch Bursting the Limits of Time, 289-291). 10 Cf. zur Annahme der Plötzlichkeit und Gewaltsamkeit der Revolutionen Georges Cuvier: „Discours préliminaire“, in: id.: Recherches sur les ossemens fossiles des quadrupedes, Paris, Deterville 1812, vol. 1, 1-116, vor allem 11. 11 In diesem Sinn versteht auch Foucault Cuvier als paradigmatisch für die Verzeitlichung des Wissens in der modernen Episteme. Es würde eine eingehendere Untersuchung erfordern, um zu zeigen, wie Foucaults Vorstellung einer „Archäologie“ der Humanwissenschaften, wie er sie in Les mots et les choses, op. cit., entwickelt, auch methodisch Cuviers Vorstellung von einander ablösenden archäologischen Schichten verbunden ist. 12 Georges Cuvier/ Alexandre Brongniart: Essai sur la géographie minéralogique des environs de Paris, Paris, Baudouin, 1811. 13 Recherches sur les ossemens fossiles, op.cit. 14 Cf. Rudwick: Worlds before Adam, op. cit., 11-24. 15 Georges Cuvier: Discours sur les révolutions de la surface du globe: et sur les changemens qu’elles ont produits dans le règne animal, Bruxelles, Culture et Civilisation, 1969 [Faksimile der Ausgabe Paris, Dufour/ d’Ocagne, 1825]. 16 Cf. die berühmte Aussage im „Discours préliminaire“ der Recherches sur les ossemens fossiles, op cit., 17: „le fil des opérations est rompu“, d.h. die Erdgeschichte sei nicht allein aus den aktuell waltenden Naturgewalten herzuleiten. 17 Bei Cuvier und den an ihn anschließenden Katastrophisten wird die Frage, wie nach der Vernichtung des Lebens auf der Erde eine darauf folgende Neuschöpfung genau aussieht, nur ansatzweise gestellt; aus diesem Grunde wäre es auch irreführend, Cuvier mit dem ‚Kreationismus‘ im aktuell diskutierten biblischen Sinn zu assoziieren (selbst wenn Cuvier von den heutigen Anhängern des Kreationismus immer wieder als Gewährsmann in Anspruch genommen wird). 18 Honoré de Balzac: La peau de chagrin, ed. Sylvestre de Sacy, Paris, Gallimard, 1974, 48. 19 Cf. Cuvier: „Discours préliminaire“, in: id.: Recherches sur les ossemens fossiles, op. cit, 1. 188 Arts & Lettres 20 Gustave Flaubert: Bouvard et Pécuchet, ed. Claudine Gothot-Mersch, Paris, Gallimard, 1979, 150-153. 21 Cf. zu Flauberts ironischem Katastrophismus, in den auch die Fontainebleau-Episode in der Education sentimentale mit einzubeziehen wäre, Vf.: „Kataklysmen von Welt und Wissen: Gustave Flauberts katastrophische Feerie“, in: Katastrophen. Medien und Geschichte, ed. Graduiertenkolleg Mediale Historiographien, in Vorbereitung. 22 „Vous allez dire que je me régale, que je suis un cataclyste aussi“ (Féerie II, 261). 23 Cf. hierzu bereits Helmut Pfeiffer: „Bomben über Paris. Célines Luftkrieg: Féerie pour une autre fois II“, in: Brunhilde Wehinger (ed.): Plurale Lektüren. Studien zu Sprache, Literatur und Kunst. Festschrift für Winfried Engler, Berlin, Tranvia 2007, 74-109, vor allem 93-102. Dem Aufsatz von Pfeiffer, der sich als einer der wenigen deutschen Céline-Forscher überhaupt ausführlicher mit der Féerie auseinandergesetzt hat, verdanken diese Überlegungen wichtige Anregungen. 24 Cf. dazu die paratextuelle Bemerkung am Anfang der Féerie I, die auch die Gattungsbezeichnung als „roman“ in den Vordergrund stellt, es aber offen lässt, ob nicht genau die in Zusammenhang damit evozierte Distanzierung von realen Ereignissen eher in Frage gestellt werden soll: „L’horreur des réalités! Tous les lieux, noms, personnages, situations, présentés dans ce roman, sont imaginaires! Absolument imaginaires! Aucun rapport avec aucune réalité! Ce n’est là qu’une ‚Féerie‘… et encore! … pour une autre fois! ! “ (Féerie I, 3) 25 Cf. insbesondere Féerie II, 241sq. Henri Godard, der Herausgeber der Pléiade-Ausgabe, weist in seinem Kommentar (1303) auf die zeitlichen Inkohärenzen in der Einfügung dieses Ereignisses in den Gang der Erzählung hin, was deutlich macht, dass der Sturz vor allem als Teil eines seriell wiederkehrenden Fall-Paradigmas bedeutsam ist, selbst wenn oder gerade weil er im narrativen Syntagma keinen eindeutigen Platz findet. 26 Dass sich Célines dysphorische Erinnerungsarbeit als direkter Gegenentwurf zu Proust versteht, tritt vielleicht am hellsichtigsten in Patrick Modianos Pastiche von Céline als „Anti-Proust“ in La Place de l’Etoile, Paris, Gallimard, 1968, 16f, hervor. 27 Walter Benjamin: Das Passagen-Werk, in: id.: Gesammelte Schriften, ed. Rolf Tiedemann/ Hermann Schweppenheuser, Frankfurt a.M., Suhrkamp, 1991, vol. V/ 1, 152 (Fragment C 7a, 4). 28 Walter Benjamins eigener Katastrophismus ist zu komplex, um hier im Einzelnen untersucht werden zu können. Cf. aber die bezeichnende Formulierung zur Verbindung von Imagination und Katastrophismus in seinem Passagen-Projekt: „Urgeschichte des 19. Jahrhunderts“ (Traum - Erde), in: id.: Passagen-Werk, op. cit., vol. V/ 1, 140 (Fragment C 2a, 11). 29 Léon Daudet: Paris vécu I, zitiert in: Benjamin: Passagen-Werk, op. cit., vol. V/ 1, 155 (C 9a, 1). Bei Daudet werden an dieser Stelle noch zwei weitere Aussichtspunkte erwähnt, die auch die Imagination der katastrophischen Vernichtung der anderen beiden großen französischen Städte, d.h. von Lyon und Marseille, im Blick von oben ermöglichen. 30 Cf. zur antisemitischen Tradition von Célines Denken allgemein Philippe Alméras: Je suis le bouc. Céline et l’antisémitisme, Paris, Denoël, 2000. 31 Cf. Alice Kaplan, Relevé des sources et citations dans „Bagatelles pour un massacre“, Tusson, Du Lérot, 1987. 32 Bagatelles pour un massacre, Paris, Denoël, 1937, 137. 33 Die Céline-Forschung lässt sich grob in zwei Lager aufteilen: Sie liest Céline in der Regel entweder im Hinblick auf den politischen Gehalt seiner Äußerungen (so paradigmatisch Philippe Alméras in: Je suis le bouc, op. cit.) oder aber im Hinblick auf seine Poetik (so etwa der Herausgeber der Pléiade-Ausgabe Henri Godard in: Poétique de Céline, Paris, Gallimard, 1985). Was dabei meist zu kurz kommt, ist die Frage nach der besonderen 189 Arts & Lettres Sprecherposition von Céline als Pamphletist und als Romancier, die hier über das Merkmal der katastrophischen Entdifferenzierung näher gefasst werden soll. 34 Zum sakrifiziellen Antisemitismus bei Céline und seinen Hintergründen cf. Alméras: Je suis le bouc, op. cit. 35 Arnold Mandel: „D’un Céline juif“, in: Dominique Le Roux et al. (eds.): Cahier de l’Herne. Céline. Paris, L’Herne, 1972, 183-193. 36 Cf. Martin von Koppenfels: „Céline oder der infizierte Arzt“, in: id.: Immune Erzähler. Flaubert und die Affektpolitik des modernen Romans, München, Fink, 2007, 255-269. 37 Cf. René Girard: Le bouc émissaire, Paris, Grasset, 1982. 38 Cf. Giorgio Agamben: Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben (1995), trad. Hubert Thüring, Frankfurt a.M., Suhrkamp, 2002, 81-124. 39 Eingeführt wird Jules als mit Ton arbeitender Bildhauer in der Féerie I, 126 - zur Abweichung dieses Porträts von der malenden Tätigkeit von Gen Paul als biographisches Vorbild für Jules cf. den Kommentar von Henri Godard in Féerie I, 1289 (zu 126). 40 Anspielungen auf Konzentrations- und Vernichtungslager finden sich vor allem im ersten Teil der Féerie, wo etwa der Name „Augsbourg“ in durchsichtiger Weise auf Auschwitz verweist (cf. 31, passim; der textkritische Apparat der Pléiade-Ausgabe führt hier zusätzlich die sog. „version D“ der avant-textes auf, in denen die KZ-Orte direkt genannt werden, cf. 1232). 41 Allenfalls Tiere wie der Nachbarshund Piram werden als Lebewesen dargestellt, die ein Entrinnen aus der Katastrophe verdient hätten. Cf. die Widmung der Féerie I, die, so könnte man mit Agamben sagen, dem „nackten Leben“ gilt: „Aux animaux / Aux malades / Aux prisonniers“ (Féerie I, 1). 42 Cf. Féerie II, 223, passim: „il incante! Il incante, voilà! il incante sans cannes à présent! ... par la force des gestes! “ 43 Es bedürfte einer eigenen Untersuchung, um zu zeigen, dass Agambens Konzeption von Souveränität letztlich auf einem theatralen Modell der körperlichen Präsenz des Souveräns bzw. des homo sacer beruht. 44 Zu Célines theatralen Feerien cf. Vf.: „Céline und die Katastrophe“, in: Stephan Leopold/ Dietrich Scholler (eds.): Von der Dekadenz zu den neuen Lebensdiskursen, in Vorbereitung. 45 Cf. zur Feerie im 19. Jahrhundert Roxane Martin: La féerie romantique sur les scènes parisiennes, 1791-1864, Paris, Champion, 2007. 46 Cf. Hélène Laplace-Claverie: Modernes féeries. Le théâtre français du XX e siècle entre réenchantement et désenchantement, Paris, Champion, 2007. 47 Cf. zur tableauhaften Illustration der Erdgeschichte, vor allem im Rahmen des geologischen Katastrophismus, Martin J.S. Rudwick: Scenes from Deep Time. Early Pictorial Representations of the Prehistoric World, Chicago/ London, University of Chicago Press, 1992. 48 Cf. bei Flaubert vor allem Le château des cœurs, in: id.: Œuvres, édition nouvelle, vol. 7, Paris, Club de l’Honnête Homme, 1972. In ihrer gemeinsamen Begeisterung für die Feerie liegt eine bislang von der Forschung nicht beachtete Gemeinsamkeit, die Gustave Flaubert und Céline miteinander verbindet: Wie Flaubert, ist auch Céline Autor von notorisch erfolglosen Theaterstücken, die er ebenfalls als Feerien bezeichnet. 49 Cf. Flaubert: Bouvard et Pécuchet, op. cit., 143. 50 Cf. Paul Ginisty: La féerie, Paris, Louis-Michaud, 1910, e.g. 11, 218. 51 Cf. Bouvard et Pécuchet, op. cit., 150-153. 52 Es ist vielleicht etwas zu gewagt zu behaupten, dass die Feerie für narrative Experimente in Frankreich eine ähnlich wichtige Funktion wie die Montage im deutschbzw. englischsprachigen Roman der Dreißigerjahre übernimmt. Dennoch gilt es das produktive Poten- 190 Arts & Lettres zial der Form der Feerie nicht zu unterschätzen - in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wird die Feerie als Denkfigur mit ihren Diskontinuitäten zwischen den einzelnen Tableaus sogar kulturtheoretisch relevant, wenn Walter Benjamin in einem frühen Arbeitsstadium sein Passagen-Projekt als eine „dialektische Feerie“ bezeichnet; cf. den editorischen Bericht der Herausgeber des Passagen-Werks, op. cit., vol. V/ 2, 1074. 53 Tom Gunning: „The Cinema of Attractions. Early Film, its Spectator, and the Avant- Garde“ (1986), in: Thomas Elsaesser (ed.): Early Cinema: Space, Frame, Narrative, London, BFI, 1990, 56-62. 54 Cf. Bagatelles pour un massacre, op. cit., 40sq. 55 Ich möchte an dieser Stelle allen meinen Erfurter Kolleginnen und Kollegen für die Diskussionen danken, die wesentlich zum Zustandekommen der vorliegenden Überlegungen beigetragen haben. Résumé: Jörg Dünne, La féerie catastrophique de Céline. Au sujet de la compétence catastrophique de la littérature moderne étudie le ‚catastrophisme‘ célinien dans Féerie pour une autre fois II. Dans son (anti-)roman de 1954 Céline se sert de la théorie des cataclysmes géologiques pour décrire les bombardements alliés sur Paris entre 1942 et 1944. En tant que catastrophiste, le narrateur célinien adopte une attitude paradoxale qui tient de l’observation scientifique et de l’auto-victimisation à la fois. Sur le plan politique, le catastrophisme de Céline, qui culmine dans la vision d’une ville de Paris étouffant au „four“ des bombes alliées, pousse à l’extrême la logique délirante des pamphlets d’avant-guerre. Ce catastrophisme sans réserve qui brouille de manière délibérée la distinction entre la fiction et l’intervention politique a tout de même besoin d’une forme esthétique: C’est la féerie qui remplace le modèle narratif par le modèle théâtral et qui permet à Céline la mise en scène spectaculaire d’un état d’exception prolongé à l’infini.