eJournals lendemains 39/156

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0170-3803
2941-0843
Narr Verlag Tübingen
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2014
39156

Interview mit M. Rainer Lepsius

2014
Hans-Peter Müller
Steffen Sigmund
ldm391560101
101 DDossier Hans-Peter Müller / Steffen Sigmund Interview mit M. Rainer Lepsius* Hans-Peter Müller: Herr Lepsius, anlässlich des 150. Geburtstags von Max Weber sagen jetzt alle, Max Weber ist der Größte, es gibt das Max-Weber-Paradigma, er gilt als der ‚Klassiker der Klassiker‘, gleichsam als der ‚geometrische Ort aller Perspektiven‘. Was Kant für die Philosophie ist, das soll jetzt Weber für die Soziologie sein? Ist das wirklich so? Was heißt das: diese ‚Größe‘ von Max Weber? Mario Rainer Lepsius: Also, wir haben eigentlich nur wenige Personen, die eine so lang anhaltende, doch mit einer gewissen Breitenwirkung ausgestattete Bedeutung besitzen. Ich meine, gut, Hegel, Kant. Und wieso hat Weber diese Wirkung? Das ist eine Frage, die man sich stellen kann. Seine Texte sind zum überwiegenden Teil schlecht geschrieben, weil zu konfus und assoziativ. Also er ist, mit Ausnahme von den bekannten einzelnen Texten, eigentlich kein großer Schriftsteller. Es ist ja jetzt der erste Teil von Wirtschaft und Gesellschaft rausgekommen. Das halte ich für eine wichtige Veröffentlichung, weil sie zwar altbekannte Texte beinhaltet, diese aber mithilfe der Anmerkungen doch in einer bedeutenden Weise zugänglich macht. Also vor allen Dingen dieses ja völlig missglückte Kapitel 2 ist mithilfe der Anmerkungen von Knut Borchardt nicht gerade zu einem starken Stück geworden, aber wenigstens zu einem zugänglichen Stück. Denn das war ja eigentlich völlig unzugänglich. A, B, C, Gamma, Alpha, Delta, das war ja alles unlesbar. Das hat immerhin eine gewisse Zugänglichkeit erfahren. Edith Hanke hat die Herrschaft doch in eine ordentliche Form gebracht, die Herrschaft in einer doppelten Weise, als getrennte Texte wahrzunehmen. Die Vorstellung, das sei ein Text, der zweimal abgedruckt ist, das ist ja ganz abwegig. Die zweite Version ist nicht unerheblich verändert und straffer. Nicht nur im Umfang, sondern auch inhaltlich ist das jetzt straffer organisiert. Und dann, woran mir immer besonders gelegen war, diese drei Seiten zu Klassen und Ständen. Also man könnte das noch viel besser machen, aber das ist ein zentraler Text, trotz seiner abgebrochenen Form, und der Witz ist der, dass gegenüber der alten Auflage Herrschaft und Klassen und Stände, also Ungleichheit nach vorne gezogen ist. Sie haben jetzt sozusagen den Anschluss an die Grundbegriffe. Und das ist meines Erachtens ein wichtiger Umstand, weil es sich nicht um Spezialsoziologien handelt. Religion und Recht und so etwas. Sondern es handelt sich um Grundbegriffe, das heißt, in aller Gesellschaft ist Herrschaft, in aller Gesellschaft ist Ungleichheit. Und Herrschaft und Ungleichheit werden eben in dieser Idealtypologie, so wie das der Weber macht, differenziert. Und ich finde, das ist eigentlich nie so richtig wahrgenommen worden. Was ich mir erhoffe von dieser Neupräsentation ist, dass durch die neue Organisation der Texte eine ent- * Geführt in Weinheim am Freitag, dem 13.12.2013. 102 DDossier sprechende neuere Betrachtung der Weberschen Grundvorstellung von Gesellschaft möglich ist: Erstens Handlungstheorie, zweitens die nicht gelungene Wirtschaft, drittens Herrschaft, viertens Ungleichheit. Und dadurch ergibt sich nach meinem Dafürhalten eine Konzentration auf die Anlage. Steffen Sigmund: Die Struktur wird sichtbar. Müller: Die Struktur der Analyse. Lepsius: Und deswegen halte ich diesen Band für einen wichtigen Band. Sigmund: Sie erhoffen sich dadurch vielleicht nicht eine Neulektüre, aber eine neue Sichtweise auf die Konstruktion und die Anordnung, wie Weber Soziologie betreibt. Also gibt es denn wirklich einen allgemeinen Anstoß oder ist es nicht doch so - was man bei Weber in den letzten Jahren auch beobachten kann - dass es nur innerhalb der Weber-Philologie neue Anstöße gibt, den Weber mit seinem Anspruch wieder in die Diskussion zu bringen? Lepsius: Also, ich meine, ich übertreibe ganz sicher. Aber ich finde, bisher war es immer so: da gab es die Grundbegriffe, Handlung und Verband und so weiter, relativ kurz. Dann kam die Unterbrechung durch die hundert Seiten Wirtschaft, die keiner gelesen hat. Und dann war man sozusagen schon wieder in Herrschaft und Schicht und Klassen und Ständen und Gemeinschaften und so fort. Also mir ist es jedenfalls so gegangen, dass ich eigentlich nicht wahrgenommen habe, was es bedeutet, dass Herrschaft und Klassen und Stände vorgezogen sind. Vor die ganzen anderen, vor die Gemeinschaften, vor die Religion, vor das Recht. Sie waren davor ja irgendwo verstreut da drin und die Herrschaft sollte ja sicherlich nicht mehr kommen, da sollte dieser Vorderteil sein und hinten sollte dann ein anders geschriebener Teil über moderne Parteien und politische Systeme und jedenfalls keine Herrschaftstypologie mehr kommen. Und ich lese Weber immer doch stark als Konfliktsoziologie. Als Kampf. Es ist eigentlich alles Kampf. Und insofern ist mir das eine willkommene Sache. Konflikt. Müller: Ungleichheit und Herrschaft. Lepsius: Ungleichheit kommt ja bei Weber nicht zentralthematisch vor, nicht? Aber da sieht man eine Tendenz in diese Richtung. Und zwar die doppelte Ungleichheit, die Ungleichheit der ökonomischen Lage und die Ungleichheit des Prestiges oder der sozialen Schätzung und so weiter. Und die doppelte Ungleichheit halte ich nach wie vor für wichtig. Die Stände sind als verfasste Gebilde verschwunden, aber sie sind nach wie vor ein Klassifikationsschema, das in allen Menschenköpfen ist. Und mit gewaltiger Bedeutung. Also, ich meine jetzt sitzen wir da und sagen: Bildung ist furchtbar durch Klassenzugang bestimmt und so weiter und so fort. Dass das ein normaler Prozess der - in Gänsefüßchen - ständischen Differenzierung ist, das kommt nicht vor. Das ist nicht mehr vorhanden. Und die zwangsweise Homogenisierung ständischer Differenzierung ist eigentlich töricht. Was soll das? Warum? Weshalb? Wenn man darüber dann die ökonomische Differenzierung einebnen will, dann ist das ein falscher Weg, denn der geht 103 DDossier nicht über ständische Differenzierung. Naja, also insofern habe ich - meine Habilitationsschrift ist darüber gegangen, so dass mir diese Kapitel seit Jahrzehnten vertraut sind, obwohl ich die Habilitationsschrift nicht veröffentlicht habe - mir meine säkulare Bedeutung als Ungleichheitsforscher selbst zerstört. Müller: Es ist die Hoffnung, dass wir da neue Inspirationen bekommen, aber es ist ja immer noch nicht diese zugeschriebene Größe, diese enorm lange Wirkung. Das Paradoxe ist doch: Alle berufen sich auf Weber, aber es gibt doch heute keine im typischen Sinne weberianische Soziologie. Lepsius: Nein. Müller: Die gibt es nicht. Gut, wir haben ein Weber-Paradigma, an dem man jetzt noch arbeitet, also da sind wir noch im Konstruktionsprozess. Aber jetzt wirklich eine erkennbar weberianische Soziologie gibt es nicht. Aber trotzdem berufen sich alle auf Max Weber. Wie geht das? Lepsius: Also ich glaube da gibt es viele Gründe. Ein Grund ist natürlich der, dass er keine eingeschränkte Thematik hat. Er ist Jurist, Ökonom, Soziologe, Politologe, Kulturologe, Religionsforscher. Er ist also über das gesamte Spektrum der Sozial- und Kulturwissenschaften anschlussfähig. Und diese breite Anschlussfähigkeit, die ist ja nicht häufig. Ich meine, die haben wir bei Durkheim, die haben wir bei Hegel, die haben wir bei Kant. Und ich glaube, es ist genau diese breite Anschlussfähigkeit und die vergleichende Religionssoziologie. Ich meine, da kommen dann diese Sinologen und die Japanologen und die Hinduisten und die Judaisten und die Reformation. Was so fehlt, ist Weber zum Islam, nicht wahr? Das würde unsere desolate Diskussion wesentlich erheitern, denn das ist eine thematische Vielfältigkeit, die Anschlussmöglichkeiten eröffnet für Leute, die mit Soziologie überhaupt nichts zu tun haben, so dass dort immer ein Potenzial der Resonanz ist. Wer hat schon eine potenzielle Resonanz? In dem Ausmaß wie Weber keiner. Das zweite ist: die Sachaussagen sind fast alle falsch. Was nicht verwunderlich ist, weil sie hundert Jahre alt sind. Was wussten wir schon über Indien? Was wussten wir schon über China? Also, das ist ja erst nach den Weberschen Texten wirklich erforscht worden. Aber dass das sachlich falsch ist, hat keine Bedeutung. Warum? Wegen der Fragestellung. Weber lebt nicht über die sachlichen Aussagen, sondern über die Eigenart seiner Fragestellung. Also, dieser unendliche universalhistorische Stoff, den er immer so mit sich rumschleppt, ist ja für niemanden mehr verständlich. Sigmund: Der wird ja überlesen. Lepsius: Ich lese da auch drüber. Ja bitte, also das spielt keine Rolle, der Mann veraltet nicht wegen historisch veralteter Sachaussagen. Das ist ein ganz wichtiger Punkt, finde ich. Warum? Wegen der Eigenart der Begriffsbildung und der Fragestellung, und diese ist ununterbrochen anschlussfähig. Nicht die Sachaussagen. Was er über Indien schreibt, ist doch alles falsch. Was er über China schreibt, ist alles falsch. Spielt aber gar keine Rolle. Und das ist das Interessante. Also die 104 DDossier natürliche Veraltung eines Wissenschaftlers wegen der Veraltung der Sachverhalte schlägt bei Weber nicht im gleichen Maße zu wie bei allen anderen, wegen der Eigenart der Fragestellung und der Begriffsbestimmung. Und die Begriffsbildung ist ja die Fragestellung. In Japan haben wir eben eine Entwicklung, in der es zwei Zugänge zur japanischen Moderne gibt: Marx und Weber. Es gibt keine alternative Interpretation des Gesellschaftsbruches mit der Meiji-Revolution. Und so ist das japanische Selbstverständnis. Gebunden an Interpretationen, entweder von Marx oder von Weber. Und das ist natürlich auch ein Umstand, inwieweit sich Gesellschaften heute mit Kategorien, Images, Selbstbeschreibungen ausrüsten, die mit Weber in Zusammenhang stehen. Dazu gehört meines Erachtens ein zweiter Punkt, der für Deutschland wichtig ist: Weber war ein deutscher Patriot. 1864 geboren, sechs Jahre vor Gründung des Kaiserreiches, aufgewachsen im Kaiserreich. In einem Haushalt, dessen Vater im preußischen Abgeordnetenhaus, Reichstag, Berliner Stadtverwaltung, also im politischen Prozess der Formierung und der Entwicklung des deutschen Kaiserreiches aktiv war. Er ist also in einem unmittelbaren Sinne ein Sohn der Reichsgründung. Weswegen ihm auch Bismarck lebenslänglich ein relevant-other war. Was macht Bismarck? Was tut Bismarck? Also, es ist keine bloße Idiosynkrasie, den Bismarck immer anzugreifen und für alles verantwortlich zu machen, sondern es ist eine unmittelbare Eigenerfahrung. Nun wächst das Kaiserreich nach der anfänglichen Wirtschaftskrise in den 1880er Jahren - eine Zeit, die als stürmisch gilt - doch rasch zu einer Weltmacht heran, so dass Weber Deutschland im Kontext einer Weltmacht erlebt. Jetzt erhebt sich die Frage: In welchem Sinne als Weltmacht? Für Weber hat Deutschland eine europäische Relevanz, eine europäische Mission sogar, aber nicht im Sinne, sozusagen, des schlichten Imperialismus als Weltherrschaft, sondern als Mitglied der großen ökonomisch bedeutenden Wirtschaftsmächte Europas in Konkurrenz mit den anderen Wirtschaftsmächten. Sein Modell ist England. England ist das Größte und war ja auch das Größte zu seiner Zeit. Das Empire. Englische Weltherrschaft. Warum? Einmal wegen der demokratisch fundierten - nicht wirklich demokratisch, aber demokratisch fundierten - Willensbildung und Entscheidungsfindung. Den Aufstieg Englands hält er also für ein Ergebnis des parlamentarischen Regierungssystems. Insofern plädiert er für Parlamentarismus, und zwar nicht so an und für sich, sondern auch in einem Funktionszusammenhang. „Guck doch mal nach England? Wie sind die Engländer? Was haben die Engländer zustande gebracht? Wo sind wir denn? Wir sind ja noch kümmerlich“. Also: Was muss in Deutschland geschehen? Eine Parlamentarisierung des Regierungssystems. Seine Referenzgesellschaft ist England. Immer wieder kommt England. Und dann Amerika. Und was ist Amerika? Amerika ist die Zukunft. Die Massendemokratie, der Finanzkapitalismus, das ist das, was unsere Zukunft darstellt. Also hat er zwei Referenzgesellschaften: England als die historische Pfadnation und Amerika als das Zukunftsmodell. Interessanterweise kommt Frankreich bei ihm fast nie vor. Was deswegen interessant ist, weil Frankreich ja doch eigentlich eine Referenznation der Deutschen war. 105 DDossier Der ewige Kampf gegen Frankreich, die andauernden Konflikte mit Frankreich. Aber Frankreich kommt nicht vor. Durkheim hat er nie gelesen. Also, es kommt weder die französische Politik noch die französische Gegenwart noch eigentlich auch die französische Geisteswelt vor. Was sehr merkwürdig ist, denn er ist sehr aufgeschlossen. Er kann ja auch Französisch, fährt auch ganz gerne mal nach Paris. Warum kommt Frankreich nicht vor? Frankreich ist kein relevant-other. England ist es. Und dann bleibt Russland. Und was sagt er zu Russland? Nur nichts mit Russland zu schaffen haben. Keine Ost-Orientierung, eine reine West- Orientierung. Russland ist Autokratismus, Feudalismus, Restfeudalismus und Binnenwirtschaft. England ist Parlamentarismus, Kapitalismus, Weltwirtschaft. Deutschland soll sein: kapitalistisch, parlamentarisch und auf die Weltwirtschaft hin orientiert. Weltmacht ist Weltmarktmacht, also durchaus Weltpolitik. Aber nicht Weltterritorialpolitik, nicht Weltterritorialimperialismus, sondern Weltmarktimperialismus. Und er warnt dann insbesondere 1917/ 18: nur kein Anschluss an Russland. Pufferstaaten dazwischen. Polen, Litauen. Nur keine deutsche Besiedlung des Baltikums, welch ein Irrtum. Pufferstaaten brauchen wir. Keine deutschen Pseudoprotektorate. Entschieden ist er dagegen, und das heißt, er möchte die nach der Reichsgründung nicht vollzogene Selbstdefinition Deutschlands, die eine Zwischenstellung zwischen Russland und den Westen färbt. Und die preußische Elite war ja überaus russenfreundlich, insbesondere die Ost-Elbische. Die wollte er umdrehen oder definieren als eine West-Orientierung. Keine Ost-Orientierung und keine Schaukelpolitik. Das ist sozusagen sein Ergebnis von ‚England als Modell‘. Entschiedene Orientierung für den Westen. Und dann kommt hinzu, dass er Europa überschreitet durch Amerika. Und ihm ist klar, Amerika ist eine neue Weltmacht. Auf Amerika muss man achten. Und zu den deutschen Militäreliten, die sagen: „Was sollen die da, wenn die Amerikaner in den Krieg eintreten? Na, sind ja gar keine Soldaten, sind ja Cowboys“, sagt der Weber: „Ihr täuscht euch, das sind im Jahr 1917 wohlgenährte Sportmänner, die sind nicht zu vernachlässigen, die sind nicht zu gering zu schätzen“. Also, was ich sagen will, ist das Folgende: Weber wird geprägt durch das Kaiserreich. Einerseits durch den großen industriellen Aufschwung, die Weltmarktbedeutung. Andererseits durch die Schaukelpolitik von Bismarck. Was hat er für ein Weltbild? Das übliche Balance-und Power- Modell. Das englische Modell. Dem stimmt er zu. Er wählt England als relevantother-nation und dann: keine Ost-Bindung, nur eine West-Bindung. Deutschlands Zukunft liegt auf dem Weltmarkt, sonst nirgends. Mit dieser Positionierung ist Weber anschlussfähig für die Bundesrepublik. Also, es gibt eine zweite Resonanzebene für Weber - und das ist die Selbstdefinition der Bundesrepublik. Die Bundesrepublik definiert sich von Anfang an so, wie Weber es gerne gehabt hätte. So haben wir den Umstand, dass Weber in gewisser Weise ein Vorläufer der Bundesrepublik ist, über den Abgrund des Dritten Reiches hinweg. Wir können ihn lesen. Ich habe auch Verständnis für seine politischen Präokkupationen. Die politische Elite redet ja ununterbrochen vom „Bohren von dicken Brettern“ und was weiß ich, was für ein dummes Zeug die da 106 DDossier immer zitieren. Aber Weber ist bei denen ja pausenlos auf den Lippen. Wieso? Die haben ja noch nie Wirtschaft und Gesellschaft gelesen, nicht wahr? Sigmund: Nein, dies ist bedauerlicherweise wohl nicht der Fall. Lepsius: Das heißt, ich würde davon ausgehen, dass Weber in einem höheren Maße an die Bundesrepublik oder für die Bundesrepublik anschlussfähig ist, als dieses etwa mit Simmel der Fall ist, um eine Alternative zu nennen. Simmel ist ein interessanter Autor, aber da die Konfliktsoziologie hier ja nicht richtig rezipiert ist, sondern immer nur „Der Henkel und der Krug“ und sonst was, 1 ist Simmel kein für die Selbstdefinition der Bundesrepublik relevanter Autor, wohl aber Weber. Also, das ist das. So viel zur Frage, wieso kennt man Weber. Das liegt alles sozusagen auf einer Ebene, die oberhalb der weberianischen Begrifflichkeiten im Einzelnen liegt. Weswegen Weber einen öffentlichen Ruf hat, ohne dass damit zusammen etwa die Methodologie oder die Struktur der Analyse, die Fragestellung seiner Soziologie transportiert wird. Sigmund: Ja, aber das ist nochmal ein Punkt, weshalb ich vorher eingehakt habe, als Sie sagten, diese Neuedition von Wirtschaft und Gesellschaft eröffnet einen anderen oder neuen Blick auf Webers Grundbegrifflichkeit und sagen wir mal, soziologische Perspektive. Was Sie jetzt ausgeführt haben, ist die Relevanz von Weber durch den großen Resonanzraum, den er bietet, sowohl für andere Disziplinen, also außerhalb der Soziologie, als auch für eine Identitätsbildung der Bundesrepublik. Lepsius: Die politische Seite. Sigmund: Die politische Seite. Wenn man jetzt aber auf die Soziologie noch mal zurückgeht und sich fragt, wo ist der Anschluss denn heute eigentlich noch da, dann hat man doch eher den Eindruck - ich weiß nicht, vielleicht täusche ich mich, da er bei uns in Heidelberg natürlich da ist, aber im öffentlichen Diskurs, im soziologischen Diskurs -, dass die Rückbindung fraglich geworden ist. Wie sagten Sie am Anfang? In der Sachdimension ist bei Weber alles falsch, ja? Und definiert die Soziologie sich heutzutage nicht viel stärker über solche Sachaussagen als über Fragestellungen? Also, da wäre es interessant für mich zu sagen, wenn wir die Neulektüre von Wirtschaft und Gesellschaft so systematisch sehen, dann eröffnet es für die gegenwärtige Soziologiediskussionen oder überhaupt für das Selbstverständnis des Faches auch neue Perspektiven. Wenn man das so sieht, wie waren denn die Rezeptionen? Wir haben ’64 den Soziologentag, die junge Bundesrepublik, die kann sich vielleicht, wie Sie es gerade schilderten, an Weber orientieren, aber auch in Abarbeitung von Marx und anderen Autoren. Dann haben wir eine gewisse Dauerhaftigkeit, wo der Weber wahrgenommen wurde, aber dann flaut es doch so ein bisschen ab. 1 Anspielung auf Adorno. 107 DDossier Lepsius: Ja. Das kommt meines Erachtens daher, weil die Soziologie in Deutschland, aber auch international, sich dimensional verengt hat. Und Weber, die Webersche Soziologie, ist eben, ganz allgemein gesprochen, eine pluralistische und keine Rational-Choice-Soziologie. Sigmund: Keine Systemtheorie. Lepsius: Auch keine Systemtheorie. Webers Soziologie ist prinzipiell pluralistisch, und zwar hat sie nach meinem Dafürhalten vier Bezugspunkte. Das eine ist Institutionen versus Personen, das andere Kulturorientierung und wirtschaftliche Interessenlage. Und diese beiden Unterscheidungen, Institutionen, Personen, kulturelle Orientierung, wirtschaftliche Interessenlagen konstruieren Konstellationen dieser vier Elemente, die sich gegen eine Systemformulierung oder -konstituierung sträuben, ja regelrecht abwehren. Wir haben es zu tun mit einem ununterbrochenen Konflikt, und jeder Zustand, in dem sich die vier Elemente befinden, ist in sich fragwürdig, konfliktreich und wird verändert. Insofern gibt es also Konstellationen. Als Problemdefinition oder Situationsdefinition beschreibt Weber Konstellationen. Die moderne Soziologie hat es damit aber nicht zu tun. Die will Eindeutigkeit. Und dadurch stößt sie die weberianische Antwort ab. Nicht wahr? Und sehr schön kann man das sehen in Webers Wirtschaftsgeschichte. Dieses Riesenbuch zur protestantischen Ethik. ‚Wirtschaftsgeschichte‘ bei Weber meint auch nichts anderes als den Kapitalismus, also die Darstellung von einer Abfolge von Kämpfen zwischen Interessen und dem Einsatz von Machtmitteln. Am allerletzten Schluss kommt noch die protestantische Ethik. Müller: Ganz hinten. Lepsius: Also auch die Kultur spielt eine Rolle. Ich habe mit Wolfgang Schluchter eine Debatte gehabt und habe zu ihm gesagt: „Ja, lies mal,“ - der hat ja die Wirtschaftsgeschichte herausgegeben - „da kommt nirgends etwas von Kultur vor, nur im letzten Kapitel. Es kommt nur vor Ebnungen und Interessensformierungen und Monopolisierungen und Kämpfe um Marktbeherrschung und so weiter. Das läuft alles ohne jegliche Kultur“. Schluchter glaubt also nach wie vor an die zentrale Kausalität der protestantischen Ethik. Was der Weber meines Erachtens nicht tut. Er sagt nur: „Ich führe euch mal vor, was man tun müsste, wenn man isolieren wollte, kulturelle Orientierung mit Kausalfaktoren“. Also ich beziehe mich mal auf die Wirtschaftsgeschichte. Was sieht man da? Da sieht man eine historische Analyse der Entstehung und Entwicklung des Kapitalismus als Produkt einer Abfolge von situativ getroffenen Entscheidungen, Kämpfen, Appropriationen, Monopolkonstruktionen und Abwehr von Gegenkräften. Insofern steht das natürlich ja auch in einer gewissen Korrespondenz zu den berühmten weltpolitischen Betrachtungen, mit denen wir es ja auch zu tun haben. Was ist das Besondere am Abendland? Das Experiment. Das Recht. Und die Stadt. Noch was? Und was heißt das? Das heißt, es sind relativ kleine Abweichungen gegenüber den asiatischen Großreligionen, bei gleichem Potenzial der Gegenden. Also es ist nicht so, dass das eine die Wüste und das andere das... 108 DDossier Sigmund: Hochgebirge... Lepsius: ...das Hochgebirge ist, nein. Wir haben auch in Indien Handwerkinnovation, aber keine selbstverwalteten städtischen Zunftregime. Das ist der Unterschied. Es gibt auch Handwerker, es gibt auch Handwerkervereine und so weiter. Aber was - nach Webers Ansicht - der Unterschied ist, ist die Idee der Selbstverwaltung der Handwerkerbünde, die dann zu einer Autonomie der Städte führt. Also diese Evolution ist keine notwendige, es ist kein Evolutionsdeterminismus, sondern es ist die Abfolge von Entscheidungen, die in einem historischen Prozess in dieser und in keiner anderen Weise gemacht worden sind. Wenn ich so eine Soziologie vor mir habe, dann sehe ich die Pluralität des weberianischen Gesellschaftsverständnisses. Darum ist die Geschichte immer offen, sie ist nie geschlossen und sie darf auch nie geschlossen sein, das sind die berühmten „ägyptischen Fellachen“, die eine riesige Kontinuität hervorrufen, aber auch Stagnation. Insofern ist der Weber ein Fortschrittsmensch, und er möchte die Geschichte offen halten, sie soll nicht geschlossen werden. Das wäre das Schlimmste, was passieren kann. Weswegen? Wegen der Freiheit der Person. Und jetzt kommt die Person. Denn er macht nicht nur eine Handlungstheorie, sondern er hat auch einen auf Personen bezogenen Geschichtsprozess im Auge. Und auch das ist wiederum ein pluraler. Also haben wir es zu tun mit Person gegen Institution. Institutionen schließen, Personen öffnen. Im Wesentlichen aus idiosynkratischer Wertorientierung und von charismatischen Einzelrepräsentanten. Das Charisma-Stück ist deswegen so bedeutend, weil es die Dichotomie Institution-Person mit einem soziologischen Konstrukt verbindet. Charismatische Herrschaft ist eine institutionalisierte Herrschaft und charismatische Herrschaft ist eine personalisierte Herrschaft. Person und Institution fließen zusammen. Und darum ist das Charisma-Stück ein zentrales Stück der Weberschen Soziologie. Das Verständnis ist prinzipiell. Es ist ja ein Unglück, dass die Herrschaftstypologie in der Rezeption vom Idealtyp zum Realtyp umgedeutet wird. Das ist bei Weber nicht der Fall. Weber weiß: Alle Herrschaftstypen wirken zu jedem Zeitpunkt gleichzeitig. Wieso? Hier ist traditional, durch charismatische Turbulenzen, rational. Das Ende der charismatischen Herrschaft, in seiner Sonderformation, ist die Retraditionalisierung oder -rationalisierung. Also entweder Bürokratie oder Tradition, das ist das Ende der charismatischen Herrschaft. Die charismatische Periode ist aber unvorhersehbar, und in ihrer Wirkung entzieht sie sich prinzipiell der Institution. Charisma ist Entinstitutionalisierung. Dadurch öffnet sie, dadurch wird sie unkontrollierbar. Und, nun haben Sie ja den Vorteil, dass Sie nach dem Nationalsozialismus leben. Also können wir zu Weber sagen: Gut hast du es gemacht. Du hast es zwar noch nicht erlebt, aber genau so hast du es gesagt. So, damit wollte ich sagen: Personen und Institution. Es ist nicht ein „Entweder-oder“, es ist immer beides. Ohne Institutionen keine Vergesellschaftung. Ohne Personen kein Handlungspotenzial. Also, ganz einfach. Dasselbe gilt für Kultur und ökonomische Interessen. Also Interessenlage versus Kulturorientierung. Auch hier ‚sowohl-als-auch‘. Und warum? Ganz einfach. Alle Interessen brauchen eine Legitimation, Legitimation ist immer eine kulturelle Interpreta- 109 DDossier tion. Also ist es notwendigerweise ‚sowohl-als-auch‘. Es ist nicht eine Verlegenheit oder eine Unentschiedenheit, sondern es ist eine Notwendigkeit. So, meine These ist nun also die: Durch diesen Vierzylinder gibt es keine Problemhierarchisierung, es gibt keine Dominanz der Ökonomie, es gibt keine Dominanz der Kultur, es gibt keine Dominanz der Institutionen, es gibt keine Dominanz der Person. Und das führt zu einer Pluralisierung und Komplexität, die die Soziologie heute nicht transportiert. Die Soziologie ist also stark zurückgeblieben. Müller: Weber überfordert die Soziologie. Sigmund: Sie hat mit Weber nicht mithalten können. Lepsius: Richtig. Das ist es. Und durch die Dominanz der Meinungsforschung ist sie ganz problementleert. Es gibt kein Problem. Kein soziologisches Problem. Es gibt nur noch Fragen der Meinungsbildung. Aber was ist das soziologische Problem an der Meinungsbildung? Wo ist das soziologische Problem an der Fragestellung: Wer ist für Gabriel, wer ist gegen Gabriel? Dazu wird keine Frage gestellt. Es wird nur gemessen. Wir haben eine Messorientierung in der Soziologie, die nicht weiß, was sie misst, und die nicht weiß, warum sie was misst. Das heißt, sie hat keine Fragestellung. Jetzt messen wir mal, jetzt schauen wir mal. Insofern ist Weber gewissermaßen unterspült durch die Soziologie. Er wird unterspült mit ganz merkwürdigen Produkten. Die Produkte sind virtuelle Produkte, sie sind eigentlich keine realen soziologischen Analyseprodukte. Ich meine, wenn wir noch mal zurückblicken zu den Zeiten von Robert Merton und Paul Lazarsfeld. Ja, da gab es materielle Aussagen. Die spielen heute alle keine Rolle mehr. Es gibt kein Interesse mehr an Anomie, es gibt kein Interesse mehr an relativer Deprivation. Es gibt keine materielle Erklärung. Der Lazarsfeld hatte gesagt: „two-step flow of communication“. Heute sieht es aber so aus, als ob die Massenmedien die Meinung bilden. Die Self-fullfilling-prophecy, das sind alles soziologisch gehaltvolle Thesen aus den 1940er und 1950er Jahren. American Soldier war eine der größten soziologischen Belehrungen. Heute gibt es eigentlich keine soziologisch gehaltvollen Aussagen mehr. Da gibt es Stimuli und sonst was, aber auch die Rational-Choice ist soziologisch leer. Jeder sagt seine Präferenzen, da aber der Kontext unbestimmt bleibt, können wir keinerlei Aussage machen. Das zu der Frage, wie das mit dem Weber-Paradigma ist. Müller: Aber noch mal zurück. So, wie Sie es jetzt darstellen, das ist wirklich eine Lesart, die uns - glaube ich - auch sehr sympathisch ist. Also ihr Vierzylinder, weil man da diese Konstellationsanalytik und -dynamik sehr schön verdeutlichen kann. Aber man findet es ja bei Weber dort, wo er dann zeitdiagnostisch wird und meistens auch durchaus kurzfristig sein Postulat der Wertfreiheit missachtend Aussagen über die Zukunft macht, dass ihm doch da irgendwie angst und bange wird. Also er hat ja die Polarnacht, die uns bevorsteht, diese Rationalisierung, die immer weiter voranschreitet, durchaus gesehen. Effizienz ist das einzige Ziel, ich meine, damit hat er ja recht, das ist unser einziges Ziel heute in Deutschland. Wir lachen, aber wir haben vieles von dem umgesetzt. Die Rationalisierungsdynamik ist 110 DDossier genauso weitergegangen, wie er das vorausgesagt hat. Aber die Menschen fühlen sich nicht wie die Fellachen im alten Ägypten. Im Gegenteil, den Menschen wird suggeriert, dass sie frei, dass sie individuell, dass sie einzigartig, ja, dass sie etwas Besonderes sind. Kurz: Dass sie Persönlichkeit haben. Und wie es scheint, glauben die Leute das auch noch. Wie kommt das? Sigmund: Ja, was bei Weber so beeindruckt, ist einerseits diese unglaublich nüchterne Illusionslosigkeit und diese politikwissenschaftliche Urteilskraft. Also ein unglaublicher Weitblick. Und andererseits ist er doch ein Kind der Zeit. Lepsius: Und hinzu kommt natürlich dieser heroisch-tragische Grundgestus. Das sind die großen Emotionen, die einen ja heute noch packen. Die letzten Tonnen fossilen Brennstoffs, die Polarnacht und so weiter. Das sind ja packende Metaphern, die uns heute noch emotional angreifen, regelrecht anspringen. Aber es ist natürlich ein tragischer und heroischer Gestus. Und der hat mit der heutigen Zeit nichts mehr zu tun. Weder tragisch noch heroisch. Sigmund: Und woher kommt dieser tragisch-heroische Gestus bei Max Weber selbst? Lepsius: Der kommt meines Erachtens durch seine persönliche Lage, die Krankheit. Es ist die Eigenerfahrung der Krankheit. Ich stehe auf dem anderen Ufer. Ihr seid im Leben, ihr habt keine Ahnung. Ihr behandelt mich, als ob ich Simulant wäre. Davon kann aber keine Rede sein. Der Brief da an einen Freund schildert das außerordentlich eindrucksvoll. Dieser Freund sagt ihm in Heidelberg: „Ja, Sie sehen doch prima aus, es geht ihnen doch gut, was haben Sie denn? “ Dann schreibt er ihm: „Lieber Freund, Du hast keine Ahnung, wie es in mir geht und nichts kann ich weniger ertragen als diese Art von Aufmunterung“. „Es geht mir schlechter als ich Marianne sagen kann“, schreibt er irgendjemand anderem. Das heißt, er ist einsam, er kann sich nicht ausleben, er fühlt sich depossediert, und dazu kommt dann der Kulturprotestantismus, in dem er aufgewachsen ist: Pflicht und Berufung. Der Mensch muss eine Berufung haben und der Mensch lebt in der Pflicht zu dieser Berufung. Infolgedessen ist er prinzipiell überfordert durch Pflicht und Berufung. Und das ist sozusagen die Innenansicht, und wir haben ja nur so äußerliche Gerüchte, denen zufolge er über Monate nicht arbeitsfähig war. Was heißt das eigentlich? Er konnte ja lesen und schreiben, also es muss eine kognitive Depression sein, die ihn lähmt. Dann aber kommt der Ausbruch, und dann schreibt und diktiert er Hunderte von Seiten in kürzester Frist. Woraus dann diese unbefriedigende schriftliche Ausdrucksweise resultiert. Es gibt dann irgendeine Stelle, da sagt er: „Es fließt aus mir heraus“. Also er denkt gar nicht beim Schreiben, es fließt aus ihm heraus. Das heißt, das ist ein out-burst sozusagen, nicht? Aufgestaut und dann fließt es aus ihm heraus. Und dann kommt irgendein Mensch, dem diktiert er das. Und dann überarbeitet er es, und was macht er? Er erweitert, er erweitert, er erweitert, er erweitert, und daher kommen diese vollkommen intransparenten Manuskripte. Erweiterung über Erweiterung. Denn es gibt ja dies und das, und das habe ich noch nicht, und das kommt auch noch, und 111 DDossier das, und das und außerdem noch das, und nicht so in Japan, und und und, nicht wahr? Also der Produktionsprozess von Weber ist eigentümlich, auch diese Terrorisierung durch die Vorlesung, das ist ja geradezu eine Zwangsvorstellung. Vorlesung kann ich nicht halten, Vorlesung will ich nicht halten. Ich meine, gut, so schön ist die Vorlesung auch nicht, gewiss, aber terrorisieren muss man sich doch nicht lassen. Und warum terrorisiert sie ihn? Weil man nicht sozusagen dem inneren Gedankenfluss folgen und ihm freien Lauf lassen kann. Das kann man nur als Volksredner, also in freier Rede, aber nicht in einem kodifizierten Manuskript, was dennoch kein Schrifttext ist. Da wurde ja immer noch diktiert, also es gab ja keine PowerPoint-Präsentation und so weiter. Also muss man für die Jungs da die zentralen Sätze diktieren und das hat ihn vollkommen erodiert. Aber ich meine, es ist interessant deswegen, dass es nicht nur eine biographische Macke war, sondern die Frage aufwirft, was darin enthalten ist. Das ist eigentlich nie richtig entfaltet worden in der Literatur. Es wird nur gesagt: Er wollte nicht unterrichten und Vorlesungen haben ihn angestrengt. Naja, Weber hat ein Medienproblem. Er hat kein Problem in freier Rede. Also aufzustehen und zu sagen: „Das ist alles normativ, was hier geschieht, das ist Sauerei! Hier herrscht gefälligst Wertfreiheit! Ich protestiere! “ und sonst was. Da war er ohne Grenzen. Auch mit großer Ausdrucksfähigkeit. Hat alle Leute in Angst und Schrecken versetzt. Die Leute waren verängstigt, wenn Max Weber aufstand. Und er konnte den Strom seiner Gedanken in endlosen Diktaten in Hunderten von Seiten reinlaufen lassen. Aber Vorlesungen konnte er nicht halten. Vorlesungen haben ihn ungeheuer angestrengt. Er mochte das laute Reden nicht, es gab ja keine Mikrophone, und er mochte diese Halbkodifizierung der Vorlesung nicht. Einerseits Lehrbuch, andererseits freie Rede, das hat ihn irritiert, nicht? Müller: Aber wenn er es gemacht hat, dann hat er es ja auch gut gemacht. Also ich meine, bei Weber hat man ja auch Vorlesungsmitschriften, wo man sich denkt: Was ist denn dein Problem? Das ist doch genau so wie eine Vorlesung sein müsste. Also, das muss wirklich in seiner Selbstwahrnehmung ein Problem gewesen sein, er konnte es eigentlich, das hat ihm ja auch Marianne bestätigt, alle die ihn gehört haben, haben ihm das ja bestätigt. Er kann es. Nur er hat geglaubt, er kann es nicht. Lepsius: Naja, also was ich sagen wollte, ist: Dieses heroisch-tragische Lebensgefühl findet in der Bundesrepublik keine Resonanz mehr, obwohl die Worte immer noch packen. Aber sie bringen ihn in eine Figur eines wirklich übertriebenen oder irgendwie merkwürdigen Menschen. Müller: Pathetisch ist das Wort. Lepsius: Was andererseits seinen exotischen Reiz erhöht. Solche Personen gibt es nicht mehr. 112 DDossier Müller: Ricarda Huch hat mal gesagt - die hat sich die beiden Reden „Wissenschaft und Politik als Beruf“ angehört und sie hat gemeint -, sie hätte nachher das Gefühl gehabt, dass Max Weber ein Schauspieler gewesen sei. Lepsius: Naja, naja, gewiss hat er sicherlich einen ungeheuren physischen Eindruck hinterlassen. Er kam dort rein mit Bart und funkelnden Augen und dann legte er los. Aber auch bei der Else Jaffee gibt es Briefe über sein Schauspielertum, und da sagt er: „Ja, ja, ja, ja, natürlich kann ich auch schauspielern, aber “. Müller: Ja, aber das bedeutet ja zweierlei. Wir sind alle Schauspieler, weil wir uns selber darstellen müssen. Aber es kann natürlich auch dieser tragische, heroische Gestus gemeint sein, der auch ein Stück weit Selbststilisierung gewesen sein kann. Und dann kommt natürlich die Authentizitätsfrage. Inwieweit ist das wirklich authentisch? Spielt da vielleicht dieses Gefühl der Epigonalität mit hinein? Wieso fühlt er sich so? Da sagt ihm der Mommsen, wenn er einst seinen Speer weiterzugeben hätte, dann an Max Weber. Also er wird früh, sagen wir mal... Lepsius: Ausgezeichnet. Müller: ...ausgezeichnet und durch das Ritual eigentlich qualifiziert: Du bist berufen. Ja, er ist wirklich berufen. Also da braucht er gar keine Zweifel zu haben, wenn ihm Mommsen das sagt, dann muss er das einfach mal glauben. Also einerseits er ist und er will auch berufen sein, und gleichzeitig ist da immer dieses Gefühl der Epigonalität. Lepsius: Aber das ist klar. Das gilt für mich auch. Auch ich bin in einem Epigonentum gegenüber der Generation, die die Bundesrepublik gegründet hat. Ich habe sie nicht gegründet. Weber hat das Kaiserreich nicht gegründet. Er ist ein Epigone. So wie ich im Hinblick auf die Bundesrepublik, so ist er ein Epigone im Hinblick auf das Kaiserreich. Das ist vollkommen richtig. Das ist keine Selbsterniedrigung, sondern eine realistische Selbstwahrnehmung. Müller: Aber es gibt doch seit diesem Roman von dem Immermann aus den 1830er, 1840er Jahren dieses Gefühl des Epigonentums. Zunächst in der Literatur, aber dann auch offenkundig, wie Sie sagen, in der Selbstwahrnehmung von Generationen. Und was ich nicht ganz verstehe: In diesem Sinne ist jede neue Generation epigonal, weil es vorher ja schon Generationen gegeben hat, die etwas geleistet haben. Das ist ja trivial. Lepsius: Nein, aber es gibt zeithistorisch gesehen Schnitte. Generationsschnitte. Und die sind keine Epigonen. Also die Nationalsozialisten sind keine Epigonen. Die zerstören, machen was Neues. Keine Epigonen. Was denen auch die ungeheure Selbstgewissheit gibt. Aber die meisten Generationen sind natürlich epigonal. Vor allem in dem Moment, in dem eine längere Periode herrscht. Aber es gibt auch diese Schnitte, und zu den großen Schnitten gehört eben auch die Reorganisation der Bundesrepublik, und die Reorganisation der Bundesrepublik hat zentral innovative Züge. Da ist nicht nur die Verfassung und die Marktwirtschaft, sondern die Bundesrepublik ist sozusagen hervorgegangen aus der vollkommenen Zerstö- 113 DDossier rung Deutschlands. Also intellektuell, ethisch, moralisch, ökonomisch, politisch. Es wird ein neuer deutscher Staat aufgestellt. Das ist eine große Innovation. Drum ist Adenauer ja ein ganz großer Mann und Theodor Heuss in gewisser Weise auch. Weniger im Realpolitischen als im Atmosphärischen. Drum war also das Paar Adenauer-Heuss vorzüglich, Schumacher und Ollenhauer, nicht wahr? Müller: Aber noch mal zurück zu Weber. Ihn hat das Gefühl der Epigonalität und des Epigonentums beeinträchtigt. Das hat ihn irgendwie deprimiert. Lepsius: Naja, er hat das festgestellt. Es ist eine Feststellung. Das muss nicht deprimieren, weil man ja nichts dafür kann. Ich meine, er ist ja nicht schuld am Epigonentum, sondern man ist im Epigonentum. Bismarck war kein Epigone, nicht? Und das Kaiserreich, naja, das war doch was. Nicht das allerbeste, aber doch immerhin. Es war ein Gefäß, das man nun weiter hätte füllen müssen. Die Aufgabe war es, ein uns bereitgestelltes Gefäß zu füllen. Das Kaiserreich. Oder in meinem Falle die Bundesrepublik. Das Gefäß haben wir nicht gemacht. Aber wir waren natürlich verpflichtet oder fühlten uns verpflichtet, dieses Gefäß in bestimmter Weise zu füllen. Das haben wir versucht. Insofern habe ich kein schlechtes oder minderes Gewissen. Und Weber auch nicht. Also die Epigonalität ist meines Erachtens kein Zeichen von Depressivität, sondern von ‚So ist es‘. Müller: Wenn wir noch mal da anknüpfen, weil Sie ja doch jetzt über seine Krankheit gesprochen haben. Die ist ja, weiß Gott, ein Einschnitt in sein Leben. Aber kann man nicht im Nachhinein betrachtet sagen, dass es für die Soziologie eigentlich ein Glück war? Denn das hat ihn wirklich zur Soziologie geführt. Also, man hätte sich vorstellen können, wenn er so weiter gemacht hätte wie bisher, hätte er einerseits sozusagen nach wie vor seine einschlägigen Werke mit Blick auf Antike, Rechtsgeschichte und so weiter gemacht, und die empirischen Studien zu Landarbeitern, zu Industriearbeitern andererseits. Aber diese erzwungene Unterbrechung, diese erzwungene Untätigkeit ist ja auch in gewisser Weise, was seine eigentliche wissenschaftliche Orientierung angeht, ein Umorientierungsprozess, oder? Lepsius: Ja und nein. Also Weber war schon vor dem Zusammenbruch ein genuiner Soziologe. Diese genuine soziologische Kompetenz ergibt sich für mich immer einwandfrei aus zwei oder drei Urlaubsbriefen aus Bilbao an die Mutter. Da gibt er eine soziologische Perspektive des baskischen Industriegebietes. Fabelhaft. Großartig. Wunderbar. Es sind zwei Briefe oder so. Die Marianne war kränklich und er schreibt der Mutter einen langen Brief. Und da ist er in Bilbao und findet dann irgendeinen Ingenieur. Mit dem fährt er dann über die Bergbaugruben hinweg und erzählt, welche Bergarbeiter da tätig sind, woher die kommen und wie das mit den englischen Kapitalgebern ist und so weiter. Fabelhafte Studie. So was kann man eigentlich nur schreiben, wenn man ein animal naturale sociologicum ist. Also, das ist das. Und das zweite ist, dass wir ja seine eigene Mitteilung haben, er hätte schon in den Vorlesungen in Heidelberg auf den kapitalistischen Geist des Protestantismus hingewiesen, das ist ja jetzt gefunden worden. Ja, wir haben das 114 DDossier jetzt. Steht da in den Vorlesungen zur praktischen Nationalökonomie. Also die Kapitalismusthese ist das nicht, aber die Bedeutung der Religion für den Kapitalismus wird dort explizit genannt, und Weber sagte selbst in einer Fußnote, das hätte er alles schon früher gesagt. Das sagte er gegen den Sombart: „Das ist nicht Sombart, das bin ich selber“. Er verweist darauf, aber wir haben jetzt die Bezugsstelle. Also, das ist ganz interessant. Der dritte Punkt ist der Umstand, dass das Interesse an der Methodologie mit der Lektüre von Rickert aktiviert wird. In Rom fängt er an, Rickert zu lesen, und das erste, was er dann schreibt, ist dieser endlose Artikel über Roscher und Knies. Ja, mit einer Obsession. Dieser Artikel ist ja eigentlich auch völlig unproportioniert. Immer nochmals, ohne Ende. Das heißt, diese methodologische Bedeutung, dieses Interesse an Methodologie, hatte er aber schon vorher. Denn er engagiert sich da an der österreichischen Schule und der Ausgangspunkt ist Menger für den Idealtyp und alles weitere, so dass er also schon vor der Krankheit ein methodologisches zentrales Interesse hat. Also methodologisch ist es kein Bruch. In Hinblick auf Kapitalismus und Religion ist es kein Bruch. In Hinblick auf eine genuine alltagssoziologische Imagination ist es auch kein Bruch. Insofern ist die Zurechnungsfrage natürlich immer offen. Was wäre, wenn er keinen Zusammenbruch gehabt hätte? Er wäre sicher ein anderer Mensch gewesen und geworden. Aber inwieweit es einen Einfluss hatte auf seine zentralen Orientierung, da bin ich mir nicht sicher. Müller: Gut, ok. Lepsius: Nicht? Also der hatte dann seine Impotenz und dann ist er zusammengebrochen, natürlich. Aber ich meine, wann die Impotenz eingetreten ist, wissen wir nicht. Wir wissen nur, wann sie katastrophal war. Aber wie der Geschlechtsverkehr mit der Marianne in Freiburg war, wissen wir nicht. Es gibt keine Mitteilungen über Frequenz und Art. Wir wissen nur, dass das Ehepaar relativ früh getrennte Schlafzimmer hatte. Was sich ja immer dadurch erklären lässt, dass die Frau früher schlafen geht und der Mann noch arbeitet und dafür dann morgens nicht aufsteht und die Frau ausschlafen will und so weiter. Es gibt also durchaus technische Rechtfertigungen für getrennte Schlafzimmer. Aber zum Beispiel auf Urlaubsreisen hatte er immer zwei Schlafzimmer. Was zweifellos die Reisekosten erhöht hat. Auch für kurzfristige Urlaubsreisen. Also immer zwei Zimmer waren selbstverständlich. Also wie gesagt, ich lege da meine Hand nicht ins Feuer. Ich bin nur skeptisch, mit der Krankheit einen fundamentalen Persönlichkeitsbruch anzunehmen. Müller: Ist plausibel. Aber vielleicht darf ich noch mal nachfragen. Es ist ja keineswegs nur eine These von Hennis gewesen, sondern das findet man bei Schluchter auch, ebenso bei den frühen Interpretationen: Weber hatte ja - vielleicht auch ein Sondermerkmal seiner Soziologie - das große Interesse an der Lebensführung des Menschen und daran, was für eine Art Typus von Mensch gesellschaftliche Ordnungen und Institutionen - in seiner Diktion - auslesen, züchten, emporzüchten. Dann hat er natürlich auch wieder seine Degenerationsmenschen mit den 115 DDossier „Fachmenschen ohne Geist und den Genussmenschen ohne Herz“, den Ordnungsmenschen statt den Kulturmenschen vor Augen. Was würden Sie sagen, wie würde er denn heute - wir haben vorhin ja von der Anschlussfähigkeit von Weber für die Bundesrepublik Deutschland gesprochen -, wenn man diese Frage nochmals aufwerfen würde, Menschentyp und Lebensführung beurteilen? Was würde er denn sagen, welchen Typus von Menschen wir heute produzieren? Welche Art von Lebensführung? Lepsius: Ganz sicher war für ihn, also durchaus im Sinne von Hennis, die Grundfrage, welchen Menschen wir produzieren. Das heißt, in welcher Weise erfolgt die Selbstdomestizierung des Menschen und mit welchem Ergebnis. Der Mensch domestiziert sich selbst, also sind wir verantwortlich für den Menschen, den wir züchten. Diese Züchtungsformel sollte natürlich irgendwie irritieren. Wieso züchten wir? Aber das ist nicht biologisch, sondern kulturell gemeint. Und ja, was würde Weber heute sagen? Großer Gott, wir sind ja zufrieden, wenn wir wissen, was er zu seiner Zeit gesagt hat. Und dennoch kann man sich natürlich überlegen, dass Weber, wie mit seiner, auch mit unserer Zeit unzufrieden wäre. Sigmund: Ja, das glaube ich auch. Lepsius: Weber würde wahrscheinlich sagen: Es ist ja fabelhaft, dass wir die zwei zentralen Angriffe auf die Zivilgesellschaft überwunden haben. Wir haben den Nationalsozialismus überwunden, wir haben den Kommunismus überwunden. Die zwei zentralen Angriffe gegen das Projekt der Zivilgesellschaft. Also das ist doch sehr schön. Und zwar, durch die angelsächsischen Mächte, also seine Präferenzgesellschaften. Durch England und Amerika. Sie haben den Doppelangriff abgewiesen. „Also habe ich doch Recht gehabt mit meiner Präferenz für England und Amerika“. Dann würde er vermutlich sagen: „Wir sind in einem endzeitlichen Zusammenhang. Ich habe schon damals gesagt: bis zur letzten Tonne fossilen Treibstoffs. Da seht ihr, jetzt seid ihr doch an dem Punkt, von dem ich immer schon gesprochen habe“. Also würde er vermutlich sagen: „Diese Art von Umweltpolitik ist verbrecherisch“. Dann würde er wohl sagen: „Die europäische Union ist die rationale Zukunftslösung für den Ersatz der Balance of Power zwischen den Nationen. Jetzt also Balance of Power innerhalb der Europäischen Union“. Ich glaube, Weber hätte keine Probleme mit der Überformung des Nationalstaates durch transnationale Organisationen. Die Globalisierung der Wirtschaft hat er selber ja schon gesehen, also damit hätte er keine Schwierigkeiten. Dann der sogenannte Hedonismus. Im Prinzip war er für eine Individualisierung der Lebensführung und für einen höheren Freiheitsgrad individueller Optionen. Also, den Untergang der Kultur konnte er dadurch eigentlich nicht prognostizieren. Dann haben Sie ein Problem, nämlich die Digitalisierung und die Kommunikationsrevolution. Dazu hatte Weber nichts zu sagen, das war kein Problem seiner Zeit. Ich kann mir nicht ausdenken, was er sagen würde, denn dieses ist ein säkulares, neues Phänomen. Für jeden gab es Zeitungen, auch schon das Telefon. Aber kein Radio, kein Fernsehen, geschweige denn Computer oder großdigitalisierte Kom- 116 DDossier munikationssysteme. Kein Handy und kein Smartphone. Was er gesagt hätte zu einer permanenten Anknüpfung der Individuen an unverbindliche Kommunikationssysteme? Überzeugt hätte ihn das wahrscheinlich nicht, weil er doch dachte, in einer Kommunikation muss eigentlich eine Art von Verbindlichkeit enthalten sein. Aber dazu fehlt mir die Phantasie, da ich schon meinerseits diese Systeme nicht verstehe. Wie soll ich mir ausdenken, was Weber dazu gesagt hätte? Müller: Ja, aber er hätte auf jeden Fall etwas dazu gesagt, was für eine Art von Menschentyp ausgelesen wird und wie diese Lebensführung heute aussieht. Sie haben ja gesagt, er war im Prinzip für die Individualisierung der Lebensführung und vor allem für mehr Optionen. Das haben wir nun. Aber Sie haben ja auch gesagt, er wäre trotzdem mit unserer Zeit unzufrieden gewesen. Aber was wäre es denn nun gewesen? Also ich meine, seine Vorstellung war im Sinne von Lebensführung, nicht von Lebensstil, immer doch ein methodisch-rationales Projekt. Lepsius: Wo man einmal selbst verantwortlich ist? Müller: Genau, ja. Lepsius: Nicht wahr? Verantwortungsethik bedeutete für ihn etwas. Werturteilsfreiheit bedeutete für ihn etwas. Also für moralische Kriterien der Lebensführung. Er würde wahrscheinlich sagen: „Es fehlt der moralische Gehalt“. Obwohl das ja alles schwierig zu sagen ist. Ich meine, gibt es weniger Pflicht? Ist ja fraglich. Gibt es weniger Orientierung an individueller Berufung? Ich kenne Menschen, die sich berufen fühlen. Gibt es weniger Leistungsorientierung? Also er war für einen leistungspflegenden Menschentyp. Der sollte geschützt und gestützt werden durch eine Sozialpolitik. Er war ein Freund der Sozialpolitik. Den Sozialstaat hätte er, soweit er nicht obrigkeitsstaatlich organisiert war, unterstützt. Er war kein Freund der Bismarckschen Sozialversicherung. Er war mit Brentano ein Freund der britischen Trade-Unions. Die Parteien sollten konkurrieren können untereinander. Sie sollten nicht durch die Obrigkeit gegängelt werden. Ein solcher Sozialstaat wäre obrigkeitlich gewesen, dem hätte er so nicht zugestimmt. Hingegen den freipaktierten Parteien, also Tarifautonomie und partizipative Mitwirkung an dem Sozialstaat, dieser Vorstellung hätte seine Unterstützung gegolten. Wahrscheinlich wäre er ein Freund der Tarifautonomie gewesen. Das war ja das Brentanosche Sozialpolitikprodukt - ein Projekt gegen Schmoller und so weiter. Vermutlich hätte er auch die Betriebsverfassung und die Mitbestimmung mitgetragen. Großorganisationen gegenüber war er natürlich etwas skeptisch, aber Pluralität war ihm wichtig. Pluralität gibt es ja. Also Parteiendemokratie. Aber er hat ja immer gesagt: Parteien sind notwendig, aber problematisch. Der Parteiapparat, die Parteimaschine, das ist es nicht, was Demokratie ist. Aber im Ganzen so, vor allem mit dem Wahlverhalten der Bundesrepublik, hätte er doch zufrieden sein können. Die Staatsorganisation als strikte parlamentarische Demokratie. Also er war natürlich für eine Mischform, präsidial-parlamentarisch, aber da hätte er sich auch umorientiert. Ich meine, es schien ihm wichtig zu sein, in Verfassungsfragen Mischsysteme zu haben. So hatte er es sich auch gedacht: Einerseits ein Präsident, andererseits 117 DDossier ein Parlament, beide mächtig. Mischsysteme, keine einheitlichen Systeme, die alles koordinieren. Und was ich ja schon vorher sagte: diese drei Herrschaftstypen sind nicht als Alternativen, sondern als prinzipiell gleichzeitig wirksame Maßstäbe zur Messung der jeweiligen Mischungsverhältnisse anzusehen. Das Interessante sind nicht die Typen, das Interessante sind die Mischungsverhältnisse. Wie viel Charisma, wie viel Tradition, wie viel Rationalität beziehungsweise rationale Herrschaft sind in einem historischen Fall gegeben? Interessieren tun die Mischungsverhältnisse, deswegen brauchen wir scharfe Idealtypen, um Maßstäbe für die Zurechnung zu erhalten. Wie sollen wir denn was wem zurechnen? Drum ist das auch, was Sie haben, natürlich der Idealtyp der Bürokratie und kein Realtyp. Daher ist er heute so nicht in der Realität zu erwarten. Wir haben vielfältige Merkmale. Das war also schon in the first place ein Fehler, den Idealtyp mit den acht oder zehn Merkmalen zu lesen, als ob das eine empirische Beschreibung wäre. Es war ein Konstrukt. Guck nach, wie ist es denn mit der Aktenförmigkeit? Wie ist es denn mit der Rekrutierung? Wie ist es denn mit der Beförderung? Sigmund: Ja, aber er sagt, gleichzeitig ist es die rationalste Form der Organisation, und weil er das sagt, haben sich natürlich die Organisationswissenschaftler darauf gestürzt. Es ist klar. Müller: Weil die eindimensional sind und nicht multidimensional. Sigmund: Vielleicht auch deshalb, oder? Lepsius: Eindimensional im Sinne des Konstruktes, des Typs. Aber Weber weist ja doch häufig auf die Diskrepanz zwischen materialer und formaler Rationalität hin. Also er weiß, dass Rationalität Irrationalität produziert und er weiß natürlich, dass Rationalität nicht nur Irrationalität formt, sondern Rerationalität. Also die Rationalität wird noch mal rationalisiert und was das dann ist, das wissen wir nicht. Ist das eine alte Rationalität oder ist es eine neue Rationalität? Es ist eine Rationalität, aber eben die rationalste? Wenn ich schon wieder rerationalisiere, dann kann das andere ja nicht das Rationalste gewesen sein. Also, wie gesagt, eine der schlimmsten Quellen Weberscher Fehlinterpretationen ist die Lektüre der Herrschaftstypologie als Realtypologie. Das heißt, im Grunde genommen, hat das soziologische Bewusstsein die Natur der Idealtypen nicht kapiert. Hält das immer noch für ideale Typen, wünschenswerte Typen statt gedachte Typen. Weber hätte sie nicht Idealtypen nennen dürfen. Sigmund: Vielleicht, ja. Lepsius: Denn alle sagen: „Oh, das ist das Ideal! “ Müller: Da müssen wir, beziehungsweise jeder, hin. So müssen wir bürokratisieren! In Deutschland denkt man so. Das müssen wir jetzt durchsetzen und zwar möglichst rein, möglichst rein. Lepsius: Gedachte Typen hätte er sagen müssen. ‚Imagined Communities‘, wie die Engländer sagen. Vorgestellt, imaginiert, gedacht. Gedachte Ordnung. Aber 118 DDossier das hat er nicht gemacht und er hat auch andere Sachen nicht gemacht. Also: Nobody is perfect! Müller: Fast ein Schlusswort. Sigmund: Das ist das Schlusswort. Nobody is perfect, das ist wohl wahr. Herr Lepsius, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.