eJournals lendemains 35/140

lendemains
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2941-0843
Narr Verlag Tübingen
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2010
35140

Die Phänomenologie der Geschichten: Raymond Queneaus Les fleurs bleues

2010
Jörn Steigerwald
ldm351400012
12 Dossier Jörn Steigerwald Die Phänomenologie der Geschichten: Raymond Queneaus Les fleurs bleues Der Roman nach der klassischen Moderne zeichnet sich in nicht geringem Maße dadurch aus, dass er populäre Formen des Erzählens in seine Narration integriert, um diese zugleich subversiv zu unterlaufen. Das bekannteste Beispiel für solch eine spielerische Aufnahme stellt wohl die Detektivgeschichte dar, die in zahlreichen Romanen Alain Robbe-Grillets, aber auch Claude Simons sowie Georges Perecs und Raymond Queneaus die Folie bildet, vor deren Hintergrund sich die eigentliche Geschichte entfaltet. 1 Dabei wird ein produktives Spannungsverhältnis zwischen Handlung und Erzählung in Szene gesetzt, insofern erstere scheinbar dem Modell einer Detektivgeschichte oder zumindest eines Kriminalfalls folgt, auch wenn dieser schließlich ins Leere läuft. Auf der Ebene der Erzählung wird hingegen eine tendenziell gegenläufige Geschichte präsentiert, die in stärkerem Maße die unmögliche Suche nach dem eben nur vermeintlichen Kriminalfall thematisiert und so den real erzählten Fall, der als Fallgeschichte des Erzählens erscheint, herausstellt. Dementsprechend werden für die Erzählung häufig psychologische bzw. psychoanalytische Deutungsmuster fruchtbar gemacht, um weniger die mögliche Tat und mehr die komplexe psychologische Strukturierung dieser Tat oder gar die Wahrnehmungsmuster, die einer solchen Tat folgen, in ihrer problematischen, da tendenziell antagonistischen Erfassung von vermeintlichen Wirklichkeiten zu beschreiben. 2 Raymond Queneaus 1965 erstmals publizierter Roman Les fleurs bleues kann als herausragendes Beispiel eines solchen vermeintlichen Detektivromans angesehen werden, da in ihm gleich zwei Tatbestände verhandelt werden, die indes nicht bzw. nur auf ausgesprochen eigenwillige Weise gelöst werden: Haben wir doch zum einen die der Handlung bereits voraus liegende Tat des Protagonisten Cidrolin, die weder geklärt noch genannt wird und somit eine produktive Leerstelle innerhalb der Erzählung bildet. Denn der Leser erfährt von dieser Tat nur, dass Cidrolin ihretwegen angeklagt wurde und auch für ein Jahr in Untersuchungshaft ging, er jedoch schließlich freigesprochen wurde, so dass diese Tat faktisch keinen realen Tatbestand für Cidrolin darstellt. Zum anderen resultiert aus eben dieser voraus liegenden Anklage eine Art Selbstanklage Cidrolins, die für die Handlung von Bedeutung ist, da er ob dieser Tat mit Anschuldigungen konfrontiert ist, die in regelmäßigen Abständen auf den Gartenzaun neben seinem Schiff gemalt werden. Doch auch hier markiert der Tatbestand letztlich keinen kriminellen Akt, da Cidrolin selbst diese Anschuldigungen anfertigt und somit aus der vermeintlichen Anklage eine Selbstanklage wird, die stets wieder gelöscht wird. 13 Dossier Diese anthropologische Modellierung einer Kriminalgeschichte, die von der Zerrissenheit des Protagonisten augenfällig kündet, verdeutlicht indes nicht nur die Differenz, die zwischen Raymond Queneaus Les fleurs bleues und den Romanen von Alain Robbe-Grillet besteht, die nur vermeintlich auf einem analogen Erzählmuster aufbauen, sie verweist auch nachdrücklich auf eine bewusste Einbindung von Queneaus Roman in eine spezifische literarische Tradition, die als humoristischer Roman gefasst werden kann. 3 Doch gilt es hierfür zu bedenken, dass die Fleurs bleues dieser Tradition nicht einfach folgen, sondern vielmehr unter der Voraussetzung der Nachmoderne reaktualisieren, und d.h. sie werden unter den epistemologischen und sozio-kulturellen Bedingungen der Nachkriegszeit neu gefasst und in der Narration umgesetzt. Die von der Forschung zu diesem Roman vorzugsweise herausgearbeiteten Referenzen auf die Psychoanalyse Freuds einerseits und auf die Philosophie Kojèves andererseits lassen sich, so die leitende Überlegung, produktiv zusammenführen, wenn man sie im Rahmen des humoristischen Romans betrachtet. 4 Denn thematisiert wird sowohl in der Psychoanalyse als auch in der Philosophie die Zerrissenheit des Subjekts, das versucht, angesichts seiner Aufspaltung in verschiedene, tendenziell einander widerstreitende Entitäten, erneut ein Ganzes zu bilden, um sich als Individuum zu konstituieren. Eben dieses Projekt einer Aufhebung der Subjektspaltung in der Narration bildet, so die These, das Zentrum von Queneaus Roman, in dem Theoreme psychoanalytischer, philosophischer, theologischer und historiographischer Erklärungsmodelle der menschlichen Subjektspaltung zusammenfallen, um sie in der doppelten Erzählung von Cidrolin und d’Auge aufgehen zu lassen, die keine logische Erklärung dieser anthropologischen Konstante menschlicher Selbstvergewisserung bietet, wohl aber eine erzähltechnische Inszenierung dieser Versuche, die schließlich in der mehrfach ironisch gebrochenen Rückkehr in eine Ursprungserzählung münden, um die Unaufhebbarkeit dieses zutiefst menschlichen Dilemmas der Subjektspaltung vor Augen zu stellen. Um diese These im Weiteren zu plausibilisieren wird zunächst die Grundsituation, die der eigentlichen Handlung voraus liegt, analysiert, um dann in einem zweiten Schritt das Verhältnis von Subjektspaltung und (Selbst-)Anerkennung zu behandeln, bevor schließlich in einem dritten Schritt das Verhältnis von Geschichte und Erzählung beleuchtet wird, um die Reaktualisierung des humoristischen Romans in den Fleurs bleues weiter zu konkretisieren. 1. Von Schmetterlingen und Katzen Auch wenn der einleitende Paratext zu den Fleurs bleues mehr als berühmt und häufig interpretiert worden ist, lohnt es sich doch, diesen Text nochmals einer Lektüre zu unterziehen, um die Komplexität von Handlung und Erzählung aufzufächern: 14 Dossier On connaît le célèbre apologue chinois: Tchouang-tseu rêve qu’il est un papillon, mais n’est-ce point le papillon qui rêve qu’il est Tchouang-tseu? De même dans ce roman, est-ce le duc d’Auge qui rêve qu’il est Cidrolin ou Cidrolin qui rêve qu’il est le duc d’Auge? On suit le duc d’Auge à travers l’histoire, un intervalle de cent soixante-quinze années séparant chacune de ses apparitions. En 1264, il rencontre Saint Louis; en 1439, il s’achète des canons; en 1614, il découvre un alchimiste; en 1789, il se livre à une curieuse activité dans les cavernes du Périgord. En 1964 enfin, il retrouve Cidrolin qu’il a vu dans ses songes se consacrer à une inactivité totale sur une péniche amarrée à demeure. Cidrolin, de son côté rêve… Sa seule occupation semble être de repeindre la clôture de son jardin qu’un inconnu souille d’inscriptions injurieuses. Tout comme dans un vrai roman policier, on découvrira qui est cet inconnu. Quant aux fleurs bleues…5 Insbesondere die ersten beiden Sätze des Paratextes haben in der Forschung zu diesem Roman zu mehr als genügend Deutungen Anlass gegeben, wird doch hier - so scheint es - eine Antwort gegeben auf das Verhältnis der beiden Hauptfiguren, des duc d’Auge und Cidrolins, die es uns zugleich erlaubt, die Konstruktion des Handlungsgefüges zu verstehen. Dementsprechend stellt sich zunächst die Frage, ob Cidrolin die Erlebnisse des duc d’Auge retrospektiv träumt, oder ob es umgekehrt nicht der duc ist, der sich Cidrolin quasi prospektiv erträumt. Allerdings werden beide Optionen in dem Moment hinfällig, in dem beide Protagonisten einander realiter begegnen, was sich, wie der zweite Absatz zeigt, im Jahr 1964 ereignen wird, d.h. im Jahr der Romanhandlung sowie dem Jahr der Niederschrift des Romans. Dieses Zusammentreffen der beiden Akteure führt notwendigerweise zu einem Ebenenwechsel, da logisch betrachtet beide Figuren nur dann aufeinander treffen können, wenn es sich bei ihnen um reale Subjekte und nicht um onirische Produkte des jeweils anderen handelt. Gerade die Anwesenheit Dritter, also sowohl der Begleitung des duc d’Auge als auch von Lalix, der Verlobten Cidrolins, lassen eine psychoanalytische Deutung der Begegnung genauso wenig zu wie eine tiefenpsychologische oder eine phänomenologische, da hier eine Realität des Kontaktes vorliegt, die einer Erklärung, die notwendigerweise auf dem phantasmatischen Status eines der beiden Subjekte aufbaut, radikal entgegensteht. Ein Ausweg aus diesem logischen Dilemma lässt sich möglicherweise dadurch finden, dass man zwei historische Formen anthropologischer Selbstreflexion mit in die Analyse des Paratextes einfließen lässt, die gerade durch ihren Differenzcharakter eine präzisere Situierung des skizzierten Erzählmodells erlauben: Montaignes Modell der Subjektreflexion und das humoristische Modell der Subjektspaltung. In der Apologie de Raymond Sebond problematisiert Montaigne den anthropologischen Status des Menschen anhand seines Verhältnisses zu den Tieren, was zu folgender Überlegung führt: Quand je me jouë à ma chatte, qui sçait si elle passe son temps de moy plus que je ne fay d’elle? Platon, en sa peinture de l’aage doré sous Saturne, compte entre les principaux advantages de l’homme de lors la communication qu’il avaoit avec les bestes, desquelles s’enquerant et s’instruisant, il sçavait les vrayes qualités et différences de 15 Dossier chacune d’icelles par où il acqueroit une très-parfaicte intelligence et prudence, et en conduisoit de bien loing plus heureusement sa vie que nous ne sçaurions faire. Nous faut-il meilleure preuve à juger l’impudence humaine sur le faict des bestes? Ce grand autheur a opiné qu’en la plus part de la forme corporelle que nature leur a donné, elle a regardé seulement l’usage des prognostications qu’on en tiroit en son temps.6 Die Frage danach, wer mit wem spielt, wenn Montaigne und seine Katze spielen, wird hier innerhalb der Frage nach dem Anspruch des Menschen auf Überlegenheit über die Natur und Kreatur verhandelt, wobei Montaignes Argument darauf abzielt zu zeigen, dass es sich hierbei nur um eine vermeintliche bzw. genauer: nur behauptete Überlegenheit des Menschen handelt, die nicht anderes ist als eine Selbsttäuschung. Denn der Mensch ist gemäß Montaigne nichts anderes als eine „miserable et chetive creature, qui n’est pas seulement maistresse de soy, exposée aux offences de toutes choses, se die maistresse et emperiere de l’univers, duquel il n’est pas en sa puissance de cognoistre la moindre partie, tant s’en faut de la commander? “ 7 Der Mensch behauptet folglich nur, über die Welt zu herrschen, wie er auch für sich in Anspruch nimmt, sich zu beherrschen, auch wenn er de facto einsehen muss, dass er weder sich noch andere beherrschen kann. Allein in Gott kann er jene Sicherheit finden, die ihm auf Erden fehlt. 8 Hieraus resultieren wiederum zwei entscheidende Differenzmarker gegenüber dem Queneauschen Roman, die zum einen den ontologischen Status der Subjekte und zum anderen den metaphysischen Status des Menschen betreffen. Gemäß Montaigne ist der Mensch ein Geschöpf Gottes, das zwar über keine sichere, objektive Erkenntnis, jedoch als Subjekt über eine deutlich konturierte Position verfügt, die ihm aufgrund seines Status als Geschöpf Gottes gesichert ist. Die Frage, ob Montaigne mit seiner Katze oder seine Katze mit ihm spielt, bezieht sich demnach nicht auf ein erkenntnistheoretisches Problem hinsichtlich der Kenntnis des jeweiligen Gegenübers, sondern auf die Frage nach der behaupteten Autorität gegenüber dem Anderen. Betrachtet man von hier aus die ersten beiden Sätze des Paratextes erneut, dann erkennt man den grundlegenden Wandel, der sich in diesem Apolog konkretisiert. Denn die Frage nach der Erkenntnis betrifft nun vorzugsweise den Anderen, da die Frage nun auch den ontologischen Status des Selbst und des Anderen mit einschließt, zumal die radikale Variante des Apologs deutlich herausstellt, dass diese Frage nicht wirklich beantwortet werden kann, da sie die Unterscheidbarkeit von Selbst und Anderem voraussetzen würde, was indes nur bedingt gegeben ist. Schließlich wäre hierfür erforderlich, dass wir Cidrolin und/ oder den duc d’Auge als das Eigene und das Fremde bzw. das Selbst und das Andere bestimmen könnten. Dies wird jedoch durch die onirische Logik vorderhand aufgehoben und nur, so der zweite Absatz des Paratextes, in der chronologisch höchst eigenwilligen Erzählung beider Geschichten zusammengeführt. Nimmt man hingegen die Doppel-Erzählung von Cidrolin und dem duc d’Auge, dann bemerkt man leicht die explizite Anbindung an das Modell des humoristischen Erzählens, das stets zwei Figuren zusammenführt, um die Zerrissenheit 16 Dossier bzw. Spaltung des Subjekts narrativ zu modellieren: Gleich ob man die Protagonistenpaare von Cervantes, Sterne, Diderot, Jean Paul oder E.T.A. Hoffmann als Beispiel nimmt, in all diesen Fällen werden zwei Figuren zusammengeführt, um die Zerrissenheit des Subjekts anhand des zugleich konfrontativen und komplementären Zusammenspiels beider Figuren herauszustellen. Jedoch gilt es zu bedenken, dass der humoristische Roman in der klassischen Moderne eine grundlegende Veränderung erfährt, insofern das Subjekt in den Zeiten funktionaler Differenzierung sowie epistemischer Neuordnung neuen Formen der Spaltung ausgesetzt ist, die eine adäquate Neumodellierung im Roman erforderlich machen. Diese Neukonzeption des humoristischen Romans unter den Bedingungen der Moderne hat ihren wohl bekanntesten Ausdruck in Luigi Pirandellos 1908 erschienenem Essay L’umorismo, in dem er die geschichtlichen Voraussetzungen des Humors im Allgemeinen sowie des humoristischen Romans im Besonderen genauso beleuchtet, wie er eine Neukonzeption im Angesicht seiner eigenen Gegenwart bietet. 9 Verkürzt gesagt, baut Pirandellos Argumentation darauf auf, dass der humoristische Roman der Moderne die Konstitution des modernen Subjekts modelliert, indem er die Spaltung des jeweiligen Subjekts in unterschiedliche, zum Teil konfligierende Rollenträger zum Thema von Romanhandlungen macht. Erzählt wird folglich von den ‚Metaphern des Ich’, die zu einer Entgrenzung führen, insofern die Unsicherheit des Subjekts hinsichtlich seines psychologischen, sozialen, historischen, mithin seines anthropologischen Status zu einer weitgehenden Verunsicherung bis hin zu einer Art Selbstaufgabe des Subjekts führen. 10 Zum Sujet des humoristischen Romans wird demnach das aufgespaltene Subjekt, das nach einer Identität sucht, die es jedoch nicht mehr finden kann, da es nur Träger von Rollen resp. Funktionen, aber eben kein ‚ganzer Mensch’ mehr ist. 11 Auf dieser modernen Konzeption des humoristischen Romans aufbauend, reaktualisiert ihn Queneau nochmals unter den Bedingungen der Nachmoderne, was insbesondere am Übergang von den Handlungen des zerrissenen Subjekts zur Erzählung des gespaltenen Subjekts deutlich wird. Denn die beiden Figuren Cidrolin und duc d’Auge entsprechen über einen Großteil des Romans hinweg allein auf der Ebene der Erzählung dem tradierten Modell des humoristischen Figurenpaares, nicht jedoch auf der Ebene der Handlung. 12 Doch geht mit dieser Trennung der beiden Figuren auf der Ebene der Handlung und ihrer neuerlichen Verbindung auf der Ebene der Erzählung eine weitergehende Transformation einher, insofern nun die beiden Figuren nicht mehr als ‚Metaphern des Ich’ auftreten, sondern gemäß ihres narratologischen Status nun als ‚Allegorien des Subjekts’ zu fassen sind. Dadurch ändert sich jedoch sowohl der Status der Figuren als auch das Referenzsystem in das diese eingebunden ist. Denn als Allegorien des Subjekts wohnt ihnen keine Substanz mehr inne, d.h. sie verfügen nicht mehr über eine faktisch gegebene exzentrische Positionalität, die es ihnen erlaubt, sich und den anderen als solche wahrzunehmen, vielmehr sind sie repräsentative Bilder für die Aufspaltung des nachmodernen Subjekts. Hinzu kommt, dass durch die Verbindung der beiden Figuren eine doppelte zeitliche Dimension in die Erzählung eingeführt wird, 17 Dossier die es ermöglicht, den Wandel des Subjekts durch die Modifikationen und Transformationen der Referenzsysteme, in die das Subjekt eingebunden ist, zu rekonstruieren. Damit überschreiten die Fleurs bleues allerdings die Grenzen des humoristischen Romans bei weitem, da sie die synchrone Ebene der anthropologischen Modellierung, die diesem Romantyp zu Eigen ist, um eine diachrone ergänzen und so die Relativität sowie Relationalität anthropologischer Subjektkonstitution vom Mittelalter bis zur Gegenwart der Nachmoderne im Roman durchspielen. Allerdings bleibt noch ein letzter Punkt, den es noch zu bedenken gilt, wenn man die Konstruktion des Romans analysieren will, die ebenfalls durch den Vergleich mit dem Montaigne-Zitat deutlich herauskommt. Bei Montaigne befinden sich, wie gezeigt, Mensch und Katze auf derselben Ebene, d.h. sie spielen miteinander, so dass sich die Frage allein nach der Deutungshoheit des Spieles stellt, nicht aber nach dem Status der Spielenden. In den ersten beiden Sätzen des Paratextes der Fleurs bleues wird aber genau dies zum Probestein, wobei die Syntax zu einem bemerkenswerten Kippphänomen führt: On connaît le célèbre apologue chinois: Tchouang-tseu rêve qu’il est un papillon, mais n’est-ce point le papillon qui rêve qu’il est Tchouang-tseu? De même dans ce roman, est-ce le duc d’Auge qui rêve qu’il est Cidrolin ou Cidrolin qui rêve qu’il est le duc d’Auge.13 Beachtet man die syntaktische Konstruktion des ersten Satzes, dann erkennt man einen Ebenenwechsel, der durch das Komma vor dem ,mais’ markiert wird. Denn grammatikalisch wird dadurch eine Differenz zwischen dem Hauptsatz und dem adversativen Nebensatz herausgestellt, die zugleich deutlich macht, dass beide nicht auf derselben Ebene anzusetzen sind, so dass der Nebensatz realiter einen Hauptsatz zweiter Ordnung bezeichnet. Im ersten Satzteil wird der Traum von Tchouang-tseu beschrieben, der träumt, ein Schmetterling zu sein. Der zweite Satzteil setzt diese Situation voraus, um nun zu fragen, ob es nicht sein könne, dass auch der Schmetterling träume, Tchouang-tseu zu sein, wobei der Status des Schmetterlings weiterhin der eines geträumten Schmetterlings bleibt. Anders gesagt: Der zweite Satzteil hebt darauf ab, dass der geträumte Schmetterling träumt, Tchouang-tseu zu sein, was nichts anderes bedeutet, als dass Tchouang-tseu einen Traum im Traum hat, insofern er sich einen träumenden Schmetterling erträumt, dessen Traum darin besteht, Tchouang-tseu zu sein. Dadurch haben wir indes keinen Zirkelschluss, sondern eine spiralförmige Ordnung des Traumes, bei der Träumer erster und Träumer zweiter Ordnung fein voneinander geschieden werden, auch wenn ihre Träume scheinbar komplementär sind, de facto jedoch die Subjektspaltung nur umso klarer ausstellen. Denn der von Tchouang-tseu erträumte Schmetterling träumt ja von ihm, Tchouang-tseu, und nicht von jemand anderem, so dass schließlich Tchouang-tseu sich im Traum aufspaltet und von sich als Traumfigur eines geträumten Anderen träumt. Erst der zweite Satz, der nach dem Verhältnis der Träumer duc d’Auge und Cidrolin fragt, hebt diese systematische Differenz auf, indem er beide grammatika- 18 Dossier lisch gesehen auf derselben Ebene anordnet, was jedoch vor der Maßgabe des ersten Satzes nicht möglich ist, wie auch der gesamte zweite Abschnitt deutlich auf die Erzähllogik abhebt, wenn insbesondere am Anfang das ‚on suit’ und späterhin das ‚ il retrouve Cidrolin’ benannt wird, was wiederum mit der Traumlogik des ersten Satzes des Paratextes kompatibel ist. 14 Man verfolgt den duc d’Auge folglich, wie er im Traum Cidrolins durch die Jahrhunderte geht, um dann Cidrolin wieder zu treffen - und eben nicht einfach zu treffen. Dieses Wiedertreffen setzt indes ein bereits vorhandenes Treffen voraus oder zumindest einen gemeinsamen Ursprung, der gemäß der Logik des ersten Satzes nirgends anders liegen kann als im Traum Cidrolins. Versteht man beide Figuren zudem als ‚Allegorien des Subjekts’, wie hier vorgeschlagen, dann ändert sich auch die Relation zwischen beiden Figuren bei ihrem Aufeinandertreffen im Jahre 1964, da dieses Treffen dann als Konfrontation von Fremd- und Selbstbild gefasst werden kann, das keineswegs als reales Treffen zu verstehen ist, sondern eben nur als ein Zusammenfallen von zwei Bildern, was auch mit der damit einhergehenden Selbsterkenntnis der beiden Figuren einhergeht, da sie von nun an ihren Weg zu sich nach Hause nehmen bzw. bei sich einkehren. Damit dies gesehen kann, bedarf es jedoch einer vorausgehenden Anerkennung des Eigenen und des Anderen, die erst im Laufe der Erzählung bewerkstelligt wird. 2. Subjektspaltung und (Selbst)-Anerkennung Wie bereits eingangs gesagt, zeichnet sich Cidrolin dadurch aus, dass er sich selbst eines nicht weiter genannten Verbrechens anklagt, dessen er zwar juristisch gesehen nicht schuldig ist, das ihn jedoch derart belastet, dass er sich davon nicht befreien kann. Dies führt wiederum dazu, dass er diese Selbstanklage quasi auslagert, indem er sie einem fiktiven Dritten zuordnet, der sein Gartentor mit eben jenen Anschuldigungen beschmiert, die er selbst nicht ausspricht, sondern über diesen Umweg artikuliert, ohne dass der Leser weiß, worum es sich hierbei handelt. Komplementär zu Cidrolin sieht sich auch der duc d’Auge damit konfrontiert, dass er trotz seiner fürstlichen Herkunft keineswegs als autonomes Subjekt agieren kann, sondern sich stets den Anforderungen seiner Gegenwart ausgesetzt sieht. Dies zeigt sich bereits eingangs der Handlung, wenn der duc d’Auge vom König aufgefordert wird, seinen christlichen Pflichten als Ritter nachzukommen und mit ihm zum Kreuzzug gegen die Heiden aufzubrechen. Doch auch in der Folge sieht sich der duc immer mit Anfeindungen und Anforderungen konfrontiert, die ihn als vermeintlich selbständig handelnden Fürsten betreffen, der de facto eben nur ein Subjekt des Königs, d.h. ein Untertan des Königs ist - zumindest so lange, bis der König selbst seine Autorität in den Wirren der Französischen Revolution verliert und damit ein neues Zeitalter eingeleitet wird. 19 Dossier Beide Protagonisten suchen folglich auf eigene Weise nach einer Anerkennung, derer sie bedürfen, um sich selbst wahrhaft anerkennen zu können, auch wenn dies gerade nicht geschieht. Bedenkt man zudem, dass die beiden Protagonisten über die Traumallegorie miteinander verbunden sind und dergestalt in einer Relation von Fremd- und Selbstbild interagieren, dann stellt sich die weitergehende Frage, wie diese Verbindung, die auf der Spaltung des Subjekts aufbaut, systematisch gefasst werden kann. 15 Eine Möglichkeit besteht darin, Alexandre Kojèves Lektüre von Hegels Phänomenologie des Geistes für die Analyse fruchtbar zu machen, was bereits dadurch plausibel wird, dass Queneau diese 1947 herausgab, so dass eine unmittelbare Auseinandersetzung damit vorausgesetzt werden kann. 16 Der gemeinsame Bezugspunkt besteht in der Frage nach der Anerkennung des Subjekts, die von Kojève in seiner Hegellektüre gerade zentral anhand eines der berühmtesten Figurenpaare des humoristischen Romans, nämlich anhand von Jacques le fataliste und seinem Maître, problematisiert wird. Gemäß Kojève ist die Fähigkeit, nach Anerkennung zu verlangen, alleiniges Charakteristikum des Menschen bzw. genauer: der menschlichen Begierde. Dieses Begehren wird von ihm als ein Nicht-Seiendes gefasst, das nach einem Seienden verlangt, wie, um ein Dauerthema des Romans exemplarisch zu nehmen, Cidrolins Begehren nach der Essence de fenouil. Um sich über dieses Sein zu erheben, also über die Fenchelessenz, bedarf es wiederum eines Begehrens nach einem Nicht-Seienden, d.h. nach einem anderen Begehren, das man allein über die Anerkennung erhält. Verkürzt gesagt, folgt daraus folgende Relation: Cidrolins Begehren der Fenchelessenz bildet die notwendige Voraussetzung für das eigentliche Begehren nach Anerkennung, das er wiederum im Traum ausagiert, der stets unmittelbar nach dem Trinken der Fenchelessen einsetzt; eben jener Traum, in dem der duc d’Auge auftritt und seinerseits nach Anerkennung strebt. 17 Diese Suche nach Anerkennung, nach ‚reconnaissance’, lässt sich auf mehreren Ebenen im Roman verfolgen, von denen hier nur zwei exemplarisch behandelt werden sollen: Erstens die Anerkennung des Protagonisten als Familienoberhaupt und zweitens die gegenseitige Anerkennung von Cidrolin und dem duc d’Auge. Zunächst zur Anerkennung als Familienvater, die sich auf paradigmatische Weise bei den Hochzeiten der Töchter zeigt und bis in die Wortwahl hinein die Situationen prägt. Dies wird etwa in dem Gespräch zwischen Cidrolin und Albert am Beginn des achten Kapitels ersichtlich: - Et qu’est-ce qui ne va pas encore? - A part ça, tout va. Je marie ma fille. La dernière. - Bravo. Alors tu es content. Elles sont toutes casées. - Faut reconnaître: je ne pensais pas qu’elle réussirait. [...] Voilà. Et je vais me retrouver tout seul sur ma péniche.18 Dieses scheinbar belanglose Gespräch um die Verheiratung seiner dritten und letzten Tochter umspielt das menschliche Begehren nach Anerkennung auf mehrfache Weise. Denn das ursprüngliche Begehren Cidrolins bestand darin, alle drei 20 Dossier Töchter zu verheiraten, um als sorgender Vater alle seine Pflichten erfüllt zu haben und um somit auf die Anerkennung seiner Umgebung, aber auch seiner Töchter und deren Gatten zählen zu können. Allerdings benennt das ‚Faut reconnaître’ eine mehrfache Leerstelle innerhalb dieser Anerkennungslogik, da hier die Frage nach dem anerkennenden sowie dem anerkannten Subjekt offen bleibt: Wird nun Cidrolin anerkannt (von wem auch immer) oder muss vielmehr er nun seine Töchter anerkennen? Der zweite Teil des Satzes, der nach dem Doppelpunkt folgt, suggeriert eine Umkehrung der Anerkennung, da nun nicht mehr Cidrolin anerkannt wird, sondern er seine Tochter anerkennen muss, und dies gleich in doppelter Hinsicht. Denn zum einen gilt es nun ihren Erfolg anzuerkennen, dass sie wider seiner Erwartung doch geheiratet hat, und zum anderen gilt es anzuerkennen, dass sie ihn nicht mehr als Autorität anerkennen wird, da sie ihren sozialen Status ihm gegenüber durch eben diese Hochzeit geändert hat. Dies führt wiederum dazu, dass Cidrolin erstens ihren neuen Status anzuerkennen hat und zweitens erkennen muss, dass er nun vollkommen allein ist, wodurch das Begehren nach Anerkennung durch einen anderen erst recht geweckt wird. Gerade der abschließende Satz: „Et je vais me retrouver tout seul sur ma péniche “ betont diese Verlusterfahrung, die mit einem mehrfachen Zurückgeworfensein auf die eigene Existenz einhergeht, durch die Verwendung von Reflexiv- und Possessivpronomen, die im ‚tout seul’ münden. Die Anerkennung, nach der Cidrolin sucht, wird ihm also gerade nicht von anderen gegeben, weshalb er sie woanders suchen muss, und sei es dadurch, dass er das Begehren nach Anerkennung in seinen Träumen ausagiert. 19 Eine bemerkenswerte Verschiebung innerhalb der Anerkennungslogik erfolgt indes beim Aufeinandertreffen von Cidrolin und dem duc d’Auge, da hier zum einen aus der Anerkennung, das Erkennen des anderen wird und zum anderen die Frage nach der Anerkennung auf eine andere Ebene verlagert wird, nämlich auf die Ebene des realen Besitzes der Arche, also des Schiffes, das eigentlich Cidrolin zu Eigen ist. Dementsprechend wird zum einen vom duc d’Auge die Frage danach gestellt, wer eigentlich der Herr der Arche sei, da Cidrolin wenig Anstalten mache, den vermeintlichen Übeltäter der Schmierereien zu überführen. 20 Zum anderen machen sich die beiden Figuren, die sich bis dahin nur in ihren jeweiligen Träumen erlebt haben, miteinander bekannt, was zu einer bemerkenswerten Situation führt: Maintenant que nous nous connaissons, appelez-moi tout simplement Joachim. - Et pourquoi vous appellerais-je Joachim? - Parce que c’est mon prénom. - C’est aussi le mien, dit Cidrolin. Je ne me vois pas m’appelant sous les espèces d’un autre! - Espèce d’autre vous-même répliqua le duc avec bonhomie. Puisque nous sommes tous nous deux des Joachim, appelez-moi donc Olinde, c’est mon second prénom. - A moi aussi: J’en ai cinq autres: Anastase Cré... - ...pinien Hon... - ...orat Irénée Mé... - ...déric. - Dans ce cas, s’écria le duc d’une humeur particulièrement excellente, revenons à no- 21 Dossier tre point de départ; appelez-moi Jo et je vous appellerai Cid. - J’aimerais mieux Cidrolin, dit Cidrolin. - Cidrolin soit, puisque Cidrolin voulez, mais alors je te tutoie.21 Das Erkennen des jeweils anderen geht hier faktisch mit der Frage nach der Anerkennung des anderen und vor allem durch den anderen einher, da hier implizit auch die Frage verhandelt wird, wie die beiden zueinanderstehen. Deutlich wird dies bereits in Cidrolins Replik, dass er nicht ‚sous les espèces d’un autre’ angesprochen werden wolle, er mithin auf seiner nominellen sowie faktischen Identität beharrt. Doch auch die Auflistung der weiteren Vornamen führt zu keiner Klärung, da sie nur die vollständige nominelle Identität vor Augen stellt, die sich allein durch die Differenz der Familiennamen auflösen lässt. Cidrolin und d’Auge stehen sich folglich gegenüber, erkennen den jeweils anderen als anderen und erkennen ihn als gleich an, doch fehlt ihnen zunächst die Möglichkeit, die personale Differenz zwischen ihnen sprachlich zu markieren, da ihnen ihre Vornamen dies nicht erlauben. Die Anerkennung des anderen wird derart erst über den Umweg des Dutzen möglich, da hier die Gleichrangigkeit der Sprecher genauso zum Ausdruck kommt wie ihre jeweilige Eigenheit, so dass Erkennen und Anerkennen miteinander verbunden werden. 22 Doch haben wir hier nur eine Zwischenepisode, die - Kojève folgend - aus dem auf Permanenz gestellten Begehren um Anerkennung resultiert. Denn im abschließenden Kapitel wird die Frage des duc d’Auge nach der Herrschaft über die Arche neu beantwortet, wenn der duc und seine Entourage sich des Bootes bemächtigen, um den Anker zu lichten und damit erneut aufzubrechen bis sie wieder an einem Burgfried anlanden können. 23 Cidrolin und Lalix hingegen bleiben in Paris zurück und lassen die Arche ohne sie abfahren, da sie bei sich angekommen waren und keiner weiteren Reise mehr bedurften, um sich zu erkennen bzw. sich gegenseitig anzuerkennen. Doch bleibt damit noch die Frage nach der historischen Horizontverschiebung offen, die durch die Zeitreisen des duc d’Auge narrativ in Szene gesetzt wird. 3. Das Verhältnis von Geschichte und Erzählung Geht man vom einleitenden Paratext aus, dann lässt sich das Verhältnis von Geschichte und Erzählung relativ leicht bestimmen, insofern der Leser dem duc auf dessen Zeitreise folgt, die ausgehend vom Jahr 1264 bis in die Gegenwart geht, wobei sie stets Sprünge von 175 Jahren vorlegt, so dass die Zeitreise mit Zeitsprüngen einhergeht. 24 Doch greift eine solche Beschreibung der Zeitreise zu kurz, da sie zwei eminente Momente nicht berücksichtigt, die für die Erzählung tragend sind. Verfolgt man die Laufbahn des duc d’Auge, dann erkennt man leicht, dass es zwei bemerkenswerte Wendungen gibt, bevor er schließlich im Jahr 1964 auf Cidrolin trifft. Der erste Wendepunkt wird durch den Übergang von der ersten zur zweiten Station markiert, insofern der duc im Jahr 1264 nicht nur auf Saint Louis 22 Dossier trifft, sondern von diesem auch aufgefordert wird, ihn auf dem Kreuzzug gegen die Heiden zu begleiten. Die zweite Etappe wird hingegen dadurch charakterisiert, dass d’Auge sich den aufständigen Adeligen anschließt, um gegen den König zu rebellieren, weshalb er auch Kanonen zur Verteidigung für seine Festung erwirbt. Abstrahiert man von den reinen Fakten und versucht man die Grundsituation zu rekonstruieren, dann ergibt sich folgendes Bild: Im Jahr 1264 ist der duc d’Auge noch vollständig eingebunden in ein metaphysisch verbürgtes Weltbild, von dem er sich erst allmählich löst, was gerade in der Absage an den zukünftigen Ludwig den Heiligen, ihn nicht auf dem Kreuzzug zu begleiten, zum Ausdruck kommt. Dagegen verweist der Anlass der Reise nach Paris noch nachdrücklich auf die Einbindung in die christliche Weltordnung, da er doch gerade dem Bau der Kirche Notre Dame gilt. Das Jahr 1439 hingegen ist nicht nur von der Opposition des duc d’Auge gegen die monarchische Ordnung geprägt, sondern auch von seiner Abwendung gegenüber der christlichen Weltordnung, d.h. seiner beginnenden Absage an die metaphysische Ordnung, die insbesondere durch seine Beziehung zu Gilles de Rais ersichtlich wird. Der zweite Wendepunkt findet sich hingegen im Jahr 1789, wenn der duc d’Auge sich vollkommen von seinen Pflichten als Fürst und Bürger verabschiedet, insofern er nicht der Aufforderung nachkommt, seinen Platz bei den wieder eingerufenen Generalständen einzunehmen. Dieser Abschied geht darüber hinaus mit zwei Veränderungen einher, die zum einen seine Aktivitäten und zum anderen seine Person betreffen. Denn der duc unternimmt zu diesem Zeitpunkt nicht nur bemerkenswerte Touren in den Felsengrotten des Périgord, er nutzt diese Gelegenheit auch, um seine These von den preadamitischen Menschen zu beweisen, was ihm anhand der von ihm gefundenen resp. der von ihm gefälschten Höhlenmalereien auch gelingt. Darüber hinaus flieht der duc vor den Wirren der beginnenden Französischen Revolution nach Spanien, wo er zudem einen neuen Namen annimmt und sich dergestalt nominell eine neue Existenz verschafft. Haben wir also bereits im Jahr 1439 den Beginn einer Absage an die christliche Weltordnung, so wird diese im Jahr 1789 vollkommen vollzogen, indem der duc die christliche Zeitordnung mit seinen Funden der preadamitischen Höhlenmalerei vollkommen auf den Kopf stellt und somit ad absurdum führt, auch wenn die Abkehr von dieser Ordnung immer noch deren Existenz voraussetzt. 25 Versucht man von hier aus eine Systematisierung der historischen Abfolge, die der duc d’Auge vollzieht, dann lässt sich eine augenfällige Analogie zu Kojèves Interpretation der Geschichte feststellen, die dieser in der bereits genannten Introduction à la lecture de Hegel niederlegte. Denn gemäß Kojève wird das Begehren um Anerkennung am deutlichsten in der Dialektik von Herr und Knecht ausgetragen, die jedoch dazu führt, dass allmählich der Herr seiner Position verlustig geht, während sich der Knecht gleichzeitig zum Herrn der Natur aufschwingt. Dieser Verlust des Herrn resultiert wiederum aus der Begründung seiner Macht, die sowohl metaphysisch als auch politisch gegeben ist, so dass sich zwei nacheinander folgende Verlustetappen benennen lassen, die in einem ersten Schritt aus dem Ver- 23 Dossier lust der metaphysischen Grundierung und in einem zweiten Schritt aus dem Verlust der staatlichen Herrschaft bestehen. Der End- und Wendepunkt dieser Verlustgeschichte wird von Kojève auf das Jahr 1789 datiert als der Voraussetzung für den Beginn der Napoleonischen Herrschaft, da von nun an Europa von einer universellen und homogenen Zivilgesellschaft geprägt wird, die vollständig auf der wechselseitigen Anerkennung der Bürger fußt. Daraus ergeben sich wiederum zwei Folgen, die sowohl für die Geschichte als auch die Subjekte von zentraler Bedeutung sind: Zum einen gibt es seit dieser Zeit keine historischen Menschen und historischen Ideen im starken Sinne mehr, vielmehr befinden wir uns seit dieser Zeit in einer liberal-kapitalistischen Gesellschaft, die keine neuen politischen Ideen mehr kennt. 26 Zum anderen ist der Mensch seit dieser Zeit nicht mehr grundlegend von seinem Begehren nach Anerkennung geprägt, da ihm dieses in der modernen Zivilgesellschaft gegeben wird, so dass sich der Mensch vorzugsweise in der Kunst, der Liebe und dem Spiel selbst verwirklicht. Doch gilt es zu beachten, dass bei aller Analogie zwischen der Kojèveschen Geschichtsphilosophie und dem Queneauschen Geschichtserzählen einige grundlegende Differenzen auszumachen sind, die gerade aus dem Zusammenspiel von Cidrolin und dem duc d’Auge entstehen. Betrachtet man alleine den Ablauf der Geschichtsetappen, die der duc bis 1789 abschreitet, dann erkennt man eine weitgehende Übereinstimmung zwischen Kojève und Queneau bezüglich der historischen Einbindungen des Menschen in ein Anerkennungsbegehren. Diese Analogie endet jedoch, wenn man das Zusammentreffen zwischen beiden Protagonisten im Jahr 1964 und vor allem das anschließende Auseinandergehen mit in den Blick nimmt. Denn hier wird der Leser unweigerlich mit einer Reaktualisierung des Mythos der Arche Noah konfrontiert, was sowohl in der Fahrt der Arche als auch der Sintflut ausgestellt wird. Daraus ergibt sich jedoch eine neuerliche Rückbindung an ein metaphysisch begründetes Ordnungs- und Erzählsystem, das gemäß Kojève ausschließlich dem Mittelalter, aber eben nicht mehr der Gegenwart zuzuordnen wäre. Noch deutlicher wird die Differenz zwischen den Geschichtsmodellierungen, wenn man die titelgebenden blauen Blumen mit einbezieht, die der duc bei seiner Landung sprießen sieht. Denn der duc landet wieder dort, wo er seine Reise begann, auf dem ‚sommet du donjon’, um dort erneut bzw. wieder mit dem fortzufahren, was er bereits am Anfang machte: „Il s’approcha […] pour y considérer, un tantinet soit peu, la situation historique.“ 27 D.h., der duc erlebt faktisch eine Rückkehr zu seinem Ausgangspunkt oder einfacher gesagt: seine Heimkehr, was dazu führt, dass er die historische Situation betrachtet. Wichtig ist hierbei sowohl die Heimkehr als auch die Betrachtung der historischen Situation, denn erstere gemahnt an exakt jenen Ort, an dem die blauen Blumen das erste Mal in der Literaturgeschichte sprossen, nämlich an Novalis Heinrich von Ofterdingen. Dort endet das Märchen von Klingsohr mit einer analogen, zugleich geschichtsphilosophischen als auch narratologischen Wende, wenn es heißt: „Wohin gehen wir? Immer nach Hause.“ 28 Und diese Heimkehr betrifft im Roman sowohl den duc d’Auge, der 24 Dossier wieder an seinem Burgfried angekommen ist als auch Cidrolin, der mit Lalix sich ein neues resp. ihr zu Hause sucht. Doch betrifft es eben auch die metaphysische Heimkehr, die im Roman bereits durch die Anbindung an die Sintflut und die Arche Noah gewährleistet wird und von der Ofterdingen-Allusion nochmals unterstrichen wird. Geht man von der Ebene der Handlung zur Ebene der Erzählung über, dann lässt sich die Beziehung zwischen der Geschichtsphilosophie von Kojève und dem Roman von Queneau noch präziser klären. Denn hier erkennt man, dass Queneau die von Kojève behauptete Selbstverwirklichung des modernen Menschen in Kunst, Liebe und Spiel geradezu wörtlich nimmt, indem er Kojèves Hegellektüre als Ausgangspunkt für sein narratives Spiel nimmt: Wird doch Kojèves Modell des Begehrens um Anerkennung sowie seine Geschichtsphilosophie zum Anlass genommen, um einen humoristischen Roman zweier Protagonisten zu präsentieren, die zunächst historisch different situiert sind, bevor sie schließlich in der Gegenwart aufeinandertreffen und sich anerkennen, ohne aber wirklich zusammen zu kommen. Dementsprechend verdeutlichen uns die beiden Protagonisten sowie ihre Geschichten, dass der Mensch der Nachmoderne zwar vermeintlich in einer Zivilgesellschaft lebt, in der die wechselseitige Anerkennung die Grundlage der Gemeinschaft bildet, de facto jedoch gerade seine Individualität in dieser modernen bzw. nachmodernen Gesellschaft verloren ging, so dass er zum einen als mehrfach gespaltenes Subjekt in seiner Gesellschaft lebt und zum anderen als Allegorie des Subjekts fungiert. Dadurch ergeben sich wiederum drei Folgerungen, die das Subjekt, seine Geschichte und ihre Erzählung betreffen: Das nachmoderne Subjekt ist nach wie vor ein gespaltenes Subjekt, das jedoch gerade unter den Bedingungen der Nachmoderne in noch höherem Maße als zuvor mit seiner Spaltung konfrontiert ist, da diese nicht nur seine sozialen Rollen, sondern auch seine Identität betreffen, wie gerade die Selbstbeschuldigungen von Cidrolin zeigen. Eingebunden ist dieses nachmoderne Subjekt zwar in eine säkularisierte resp. entzauberte Welt, doch führt dieser Verlust bei ihm dazu, dass es nach Ordnungssystemen sucht, die ihm Ruhe und Sicherheit, mithin ein transzendentes Obdach versprechen, wie gerade der Schluss des Romans ausstellt. Eine Erzählung dieses Subjekts hat dementsprechend sowohl seine anthropologische Konstitution als auch seine historische Bedingtheit zu bedenken, was insbesondere hinsichtlich seines Status als Allegorie des Subjekts von Relevanz ist: Denn als gespaltenes Subjekt erlaubt es keine Darstellung als ‚allegoria tota’, wohl aber eine Erzählung als ‚metaphora continua’, die dergestalt die mehrfachen historischen und anthropologischen Verschiebungen des Selbst- und Fremdbildes in der Narration umsetzen kann, ohne dabei eine logische Erklärung im eigentlichen Sinne bieten zu müssen. 29 Vielmehr kann die Erzählung gerade auf die onirische Logik des Traums im Traums verweisen, die bereits Novalis in den Blüthenstaub-Fragmenten beschrieb: „Wir sind dem Aufwachen nah, wenn wir träumen, dass wir träumen.“ 30 25 Dossier Und wenn wir aufwachen, dann erkennen wir, dass jede Welterfassung immer nur eine subjektive ist, da sie stets auf dem Bewusstsein des Menschen von sich und seiner Welt aufbaut, so dass die Selbstreflexion des Menschen mit seiner Reflexion seiner Welt und deren Geschichte einhergehen muss. Dies kann dann einerseits zu philosophischen Welterklärungen, andererseits aber auch zu romanesken Erzählungen von Weltaneignungen führen, bei der die humoristische Inszenierung dazu führt, dass Subjektspaltung und historische Prägung des Subjekts in einer Phänomenologie der Geschichten bzw. genauer: des Geschichtenerzählens münden, und eben nicht in einer Phänomenologie des Geistes. 1 Genannt seien hierfür nur die Romane Les gommes und Le voyeur von Alain Robbe- Grillet, La route de Flandre von Claude Simon, La disparition von Georges Perec, aber auch Le vol d’Icare von Queneau, in denen stets eine kriminalistische Fallgeschichte den Hintergrund für eine psychologisch, mythologisch oder philosophisch motivierte Suche des Subjekts abgibt. Für den vorliegenden Kontext sei zudem verwiesen auf Jeanyves Guérin: Queneau poète de roman face au Nouveau Roman. In: Roman 20-50: Queneau: Les fleurs bleues, n° 4, décembre 1987, S. 73-82. 2 Gerade Alain Robbe-Grillets Roman Le voyeur kann als Musterbeispiel für solch eine Transformation des Detektivromans gelten, insofern bereits der titelgebende Voyeur die Frage nach der Zeugenschaft bzw. dem Mitwissen an einer Straftat ins Zentrum der Erzählung stellt. Verweisen sei hierfür nur auf die Studien von Bruce Morrisette: Les romans de Robbe-Grillet, Paris 1963, Winfried Wehle: Französischer Roman der Gegenwart. Erzählstruktur und Wirklichkeit im Nouveau Roman, Berlin 1972 und Karl Alfred Bühler: Robbe-Grillet zwischen Moderne und Postmoderne: nouveau roman, nouveau cinéma und nouvelle autobiographie, Tübingen 1992. 3 Siehe hierzu die klassische Studie von Wolfgang Preisendanz: Humor als dichterische Einbildungskraft. Studien zur Erzählkunst des poetischen Realismus. München 1976 2 . 4 Einen guten Überblick über die Tendenzen der Forschung bietet Anne Marie Jaton: Les fleurs bleues. Notice. In: Raymond Queneau: Romans II, Œuvres complètes, III. Edition établie sous la direction d’Henri Godard, Paris 2006, S. 1746-1773 (Bibliothèque de la Pleiade). Für die vorliegende Lektüre waren insbesondere folgende Studien von besonderer Bedeutung: Jürgen Pauls: Les fleurs bleues von Raymond Queneau: eine Analyse des Romans unter besonderer Berücksichtigung der Symbolik. Hamburg 1973, Vician Kogan: The Flowers of Fiction: Time and Space in Raymond Queneau’s Les fleurs bleues. Lexington 1982, Pierre Macherey: A quoi pense la littérature? Exercices de philosophie littéraire, Paris 1990, Jean-Yves Pouilloux: Jean-Yves Pouilloux présente Les fleurs bleues de Raymond Queneau, Paris 1991, Alain Quesnel: Premières leçons sur Les fleurs bleues de Raymond Queneau, Paris 1999, Anne Marie Jaton: Lecture(s) des Fleurs bleues. Pisa 2000, Nina Bastin: Queneau’s Fictional Worlds. Oxford 2002, Daiana Dula-Manoury: Queneau, Perec, Butor, Blanchot. Eminences du rêve en fiction, Paris 2004, Evert van der Starre: Curiosités de Raymond Queneau. De „l’Encyclopédie des Sciences inexactes“ aux jeux de la création romanesque. Genève 2006 sowie die Sammelbände und Themenhefte Europe: Raymond Queneau, Juin-Juillet 1983, Roman 20- 50: Queneau: Les fleurs bleues, n° 4, décembre 1987, Le personnage dans l’œuvre de Raymond Queneau. Sous la direction de Daniel Delbreil, Paris 2000. 5 Zitiert nach der Ausgabe Raymond Queneau: Les fleurs bleues, Paris: Gallimard 1978, S. 7. 26 Dossier 6 Montaigne: Apologie de Raymond Sebond. In: ders.: Essais. Livre 2. Ed. Alexandre Micha, Paris 1979, S. 119. 7 Montaigne, Apologie, S. 116. 8 Präziser heißt das, dass wir hier noch eine Anthropologie vorliegen haben, die als ‘anthropologia christiana’ zu verstehen ist, insofern der Mensch zuvorderst als Geschöpf Gottes gefasst wird. Siehe hierzu besonders Dieter Groh: Schöpfung im Widerspruch. Deutungen der Natur und des Menschen von der Genesis bis zur Reformation, Frankfurt/ Main 2003 und ders.: Göttliche Weltökonomie. Perspektiven der Wissenschaftlichen Revolution vom 15. bis zum 17. Jahrhundert, Frankfurt/ Main 2010. 9 Siehe Luigi Pirandello: L’umorismo. Milano 1992, insbesondere die Parte seconda, Essenza, caratteri e materia dell’umorismo, S. 119-163. Verweisen sei zudem auf Ulrich Schulz-Buschhaus: L’umorismo: l’anti-retorica e l’anti-sintesi di un secondo realismo. In: Pirandello saggista. Hg. von P. D. Giovanelli. Palermo 1982, S. 77-86. 10 „Ora la riflessione, sì, può scoprire tanto al comico e al satirico quanto all’umorista questa costruzione illusoria. Ma il comico ne riderà solamente, contentandosi di sgonfiar questa metaphora di noi stessi messa su dall’illusione spontanea; il satirico se ne sdegnerà; l’imorista, no: attraverso il ridicolo di questa scoperta vedrà il lato serio e doloroso; smonterà questa costruzione, ma non per riderne solamente; e in luogo di sdegnarsene, magari, ridendo, compartirà.“ Pirandello: L’umorismo, S. 148. Siehe hierzu auch die Studie von Rudolf Behrens: Metaphern des Ich. Romaneske Entgrenzungen des Subjekts bei D’Annunzio, Svevo und Pirandello. In: Die literarische Moderne in Europa. Bd. 1. Erscheinungsformen literarischer Prosa um die Jahrhundertwende. Hg. v. Hans Joachim Piechotta et al. Opladen 1994, S. 334-356. 11 Bedenkt man die im Roman gerade anhand der Figuren Cidrolin und Lalix in Szene gesetzte Absetzung gegenüber der Psychoanalyse sowie den Fokus auf die spezifisch moderne resp. nachmoderne Problematik der Subjektspaltung und deren Problematisierung in und durch die Narration, dann lässt sich eine deutliche Nähe zwischen Raymond Queneaus Les fleurs bleues und André Gides Les faux-monnayeurs feststellen, die sowohl die Anbindung des Subjekts an ein biblisches resp. metaphysisches Denksystem betrifft als auch die narrative Inszenierung der Subjektspaltung durch die Technik des mise en abyme. Bemerkenswerter Weise wird auf diese Nähe zwischen beiden Autoren bzw. zwischen ihren Werken in den Studien zu Queneau - aber auch in denen zu Gide - keine wirkliche Beachtung geschenkt, wie auch die Einbindung beider in die Tradition des humoristischen Romans kaum beachtet wird. 12 Bemerkenswerter Weise wird in den Studien zu Queneaus Les fleurs bleues häufig auf das Don Quichotteske Paar von Cidrolin und dem duc d’Auge eingegangen, ohne dass dies jedoch nach meinem Wissenstand dazu führt, dass man es an die Tradition des humoristischen Romans anbindet. 13 Queneau: Les fleurs bleues, S. 7 14 Siehe: „On suit le duc d’Auge à travers l’histoire, un intervalle de cent soixante-quinze années séparant chacune de ses apparitions. […] En 1964 enfin, il retrouve Cidrolin qu’il a vu dans ses songes se consacrer à une inactivité totale sur une péniche amarrée à demeure.“ Queneau: Les fleurs bleues, S. 7 (Hervorhebungen JS). 15 Narratologisch gesehen sind hier zwei Ebenen zu unterscheiden: Zum einen baut die Relationierung von Selbst- und Fremdbild in den Träumen und Gesprächen der Figuren auf der Technik des ‘mise en abyme’ auf, wobei anthropologische Reflexion des Subjekts und Schreibweise interagieren. Zum anderen rekurriert die Erzählung auf das Modell der Traumallegorie und bindet sie damit zurück an tradierte Formen der Psychomachie, die 27 Dossier produktiv gesetzt werden gegenüber den neuen Techniken der Psychoanalyse. Darüber hinaus stellt die Traumallegorie ein Erzählmodell dar, das präziser als Modell der Allegorie der Allegorie gefasst werden kann, was sowohl Rückwirkungen auf den Status der Figuren als auch auf den Status der Erzählung hat. 16 Alexandre Kojève: Introduction à la lecture de Hegel. Leçons sur la Phénoménologie de l’esprit professées de 1933 à 1939 à l’Ecole des Hautes-Etudes. Textes réunis et publiés par Raymond Queneau. Paris 2 1985 (original 1947). Verwiesen sei zudem auf Barry Cooper: The Ende of History: An Essay on Modern Hegelianism. Toronto 1984, Judith Butler: Subjects of Desire. Hegelian Reflections in Twentieth Century France, New York 1999, Dominique Auffret: Alexandre Kojève. La philosophie, l’Etat, la fin de l’histoire, Paris 2002. Ulrich J. Schneider: der französische Hegel, Berlin 2007. Beachtenswert ist zudem Raymond Queneaus romaneske Anverwandlung der Kojèveschen Hegellektüre in seinem 1954 publizierten Roman Le dimanche de la vie. Auf Queneaus Bezugsnahme auf Kojèves Hegellektüre hat insbesondere Pierre Macherey (A quoi pense la littérature) und im Anschluss daran Sergio Cappello (Les années parisiennes d’Italo Calvino (1964- 1980): Sous le règne de Raymond Queneau, Paris 2007) hingewiesen. Im Gegensatz dazu scheint es mir bei Queneaus Les fleurs bleues weniger um eine Umsetzung der Kojèveschen Philosophie im Roman zu gehen und mehr um deren Anverwandlung im humoristischen Roman, bei der die Differenzen zwischen Philosophie und Literatur produktiv für letztere gewendet werden, indem die philosophischen Theoreme zu Figuren der Erzählung werden. 17 Das Trinken der Fenchelessenz hat eine doppelte Funktion, insofern sie sowohl auf der Ebene der Handlung als auch auf der Ebene der Erzählung das Begehren nach Anerkennung markiert. Auf der Ebene der Handlung geht das Trinken der Essence de fenouil stets mit Gesprächen einher, in denen Cidrolin die Anerkennung Dritter begehrt, während auf der Ebene der Erzählung das Trinken der Essenz den Träumen vorausgeht; analog dazu verhält sich die Situation des duc d’Auge. 18 Queneau: Les Fleurs bleues, S. 99. 19 Das Begehren nach Anerkennung in seinen Träumen kommt indes dort an sein Ende, wenn es Cidrolin um die Anerkennung seiner Träume durch Dritte geht. Insbesondere seine Gespräche mit Lalix demonstrieren dieses Begehren und vor allem dessen Scheitern, da Lalix jeden Versuch Cidrolins, von seinen Träumen zu erzählen, mit dem Hinweis zurückweist, dass es Höflichkeitsformen gibt, die es zu beachten gelte. Siehe hierzu beispielhaft: „- Vous avez de l’instruction, dit Cidrolin, et vous avez aussi des principes: ne pas boire de l’essence de fenouil avant déjeuner, ne pas raconter ses rêves. Au fait, pourquoi ne pas raconter ses rêves? - C’est mal élevé, dit Lalix.“ Queneau: Les fleurs bleues, S. 156. 20 „- Comment, s’écria le duc. Vous n’avez pas le droit de haute et basse justice? Et n’êtesvous pas le maître après Dieu à bord de votre péniche? “ Queneau: Les fleurs bleues, S. 239. 21 Queneau: Les fleurs bleues, S. 256. 22 Diese Anerkennung des anderen aufgrund von dessen Anerkennung wird von Cidrolin in der abschließenden Formel: „- C’est ça, je vous tutoie“ (Queneau: Les fleurs bleues, S. 256) namhaft gemacht, indem die Transformation der Sprechsituation eigens ausgestellt und somit die gegenseitige Anerkennung vollständig umgesetzt wird. 23 Die Anerkennungsproblematik wird hier explizit ausgestellt, wenn Cidrolin dem duc d’Auge beim Anker lichten antrifft und daraufhin die Frage stellt: „- On peut savoir ce que vous êtes en train de faire? demanda Cidrolin poliment. - Je rentre chez moi, répondit le 28 Dossier duc. Comme Cidrolin s’apprêtait à poser quelques questions complémentaires, le duc lui dit avec autorité: - On parlera de cela plus tard.“ Queneau: Les fleurs bleues, S. 275. 24 Zum Verhältnis von Geschichte (Histoire), Geschichte (histoire) und Erzählung (récit) in den Fleurs bleues sei verwiesen auf: Louisa E. Jones: Event and Invention: History in Queneau’s Les fleurs bleues. In: Symposium XXXI (1977), S. 323-336, Annamaria Tango: Une histoire modèle ou un modèle d’histoire? Une analyse de Les fleurs bleues, de R. Queneau. In: Cahiers de l’Institut de Linguistique de Louvain 5.4, S. 29-63, Marie- Laure Bardèche: Des histoires modèles. In: Littérature 129 (2003), S. 15-32. 25 Hinzu kommt, analog zur Etappe von 1439, die Freundschaft zwischen dem duc d’Auge und de Sade, die erneut auf die Absage des duc an das Christentum und damit verbunden an jede metaphysische Ordnung gebunden ist. Dennoch ist zu beachten, dass diese Absage zwar vom Subjekt intendiert sein kann, sie jedoch faktisch auf einem problematischen Verständnis von Selbst und Welt aufbaut, da jede Absage wie jede Transgression zum einen auf der Existenz dessen aufbaut, dem eine Absage erteilt wird und zum anderen die Absage nicht auch zum Abgesang führt, sondern vielmehr zur Rekonstitution dessen, dem eine Absage erteilt wurde. Die metaphysische Ordnung endet folglich nicht um 1789, sie verändert sich nur. Siehe hierzu grundlegend Michel Foucault: Préface à la transgression (en hommage à Georges Bataille). In: ders.: Dits et écrits 1, 1954-1975. Ed. Daniel Defert / François Ewald, Paris 2001, S. 261-277. 26 Allerdings markiert bereits das Incipit des Romans die historische Unordnung, insofern sich im Jahr 1264 Figuren vor der Burg des duc d’Auge versammeln, die eher einer Ansammlung von historischem Altmüll gleichen als der Versammlung von streitbaren Kriegern dieser Zeit: „ Le vingt-cinq septembre douze cent soixante-quatre, au petit jour, le duc d’Auge se pointa sur le sommet du donjon de son château pour y considérer, un tantinet soit peu, la situation historique. Elle était plutôt floue. Des restes du passé traînaient encore çà et là, en vrac. Sur les bords du ru voisin, campaient deux Huns; non loin d’eux un Gaulois, Eduen peut-être, trempait audacieusement ses pieds dans l’eau courante et fraîche. Sur l’horizon se dessinaient les silhouettes molles de Romains fatigués, de Sarrasins de Corinthe, de Francs anciens, d’Alains seuls. Quelques Normands buvaient du calva.“ Queneau: Les fleurs bleues, S. 13. Insbesondere das ‚Des restes du passé traînaient encore çà et là, en vrac’ markiert hierbei die Umkehrung der Logik, da nicht Reste der Vergangenheit herumgeschleppt werden, sondern umgekehrt, die Reste der Vergangenheit aktiv dieses und jenes herumtragen, wodurch einer möglichen Geschichtsphilosophie von Anfang an ein mehr als problematischer bis instabiler Boden bereitet wird. 27 Queneau: Les fleurs bleues, S. 276. 28 Novalis: Heinrich von Ofterdingen. In: ders.: Schriften. Band 1, Das dichterische Werk, Tagebücher und Briefe. Hg. v. Richard Samuel, Darmstadt 1999, S. 373. 29 Siehe hierzu grundlegend Anselm Haverkamp: Metaphora dis/ continua - Base Respects of Thrift But None of Love. In: ders.: Die paradoxe Metapher, Frankfurt/ Main 1998, S. 358-372. 30 Novalis: Blüthenstaub. In: ders.: Schriften. Band 2. Das philosophisch-theoretische Werk. Hg. v. Hans-Joachim Mähl. Darmstadt 1999, S. 232.