eJournals lendemains 39/154-155

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Narr Verlag Tübingen
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2014
39154-155

Zwischen Patriotismus und Pazifismus

2014
Marina Ortrud M. Hertrampf
ldm39154-1550175
175 DDossier Marina Ortrud M. Hertrampf Zwischen Patriotismus und Pazifismus Romain Rollands literarische Auseinandersetzung mit dem Ersten Weltkrieg „Die Sammlung seiner Kriegsaufsätze (Au-dessus de la mêlée, 1915) wird mit sehr wenigen anderen Büchern übrigbleiben, wenn die Papierberge der Kriegsliteratur zerstoben sind“, hatte Curtius (1923: 114) in Die literarischen Wegbereiter des neuen Frankreich konstatiert. Und in der Tat ist Romain Rolland heute - wenn überhaupt - vor allem aber wegen seines umfangreichen expositorischen Schriftwerkes aus den Kriegsjahren im öffentlichen Bewusstsein präsent. So machte der von tragischem Pathos erfüllte und zugleich unerschrocken mutige Aufschrei gegen den Krieg Rolland von einem Tag auf den anderen in ganz Europa zu einer verehrten wie verachteten Persönlichkeit. „Au-dessus de la mêlée“ ist bis heute wesentlich für seinen Nachruhm als gewaltloser Kämpfer für Humanismus und Frieden verantwortlich. Rolland, der sich auch selbst als intellektuellen Vermittler zwischen den verhärteten politischen Fronten verstand, wurde von seinen Weggefährten - insbesondere von P. J. Jouve und St. Zweig 1 - vor allem aufgrund seines unermüdlichen essayistischen Engagements für Frieden, Freiheit und Brüderlichkeit als ein an Tolstoi erinnerndes Vorbild eines unbedingten Pazifisten in Zeiten grenzenlosen Hasses gefeiert. Letztlich war es gerade auch der zutiefst europäische Geist seines Wirkens, der ihm den Literatur-Nobelpreis einbrachte: Neben dem Brüderlichkeit predigenden Bildungsroman Jean-Christophe waren es vor allem seine Friedens-Essays, für die er 1916 − rückwirkend für das Jahr 1915 − den Nobelpreis verliehen bekam, „als eine Huldigung für den erhabenen Idealismus seiner Verfasserschaft sowie für das Mitgefühl und die Wahrheit, mit der er verschiedenste Menschentypen zeichnet.“ 2 Auch aus der Retrospektive wird Rolland in erster Linie aufgrund seines essayistischen Friedensdienstes als großer Vordenker Europas und der deutsch-französischen Freundschaft sowie als einer der bedeutendsten Pazifisten genannt. Doch Rolland hat sich nicht nur in seinen zahlreichen Zeitungsartikeln und Manifesten (noch während des Krieges auch in den Sammlungen Au-dessus de la mêlée 1915 und Les Précurseurs 1919 erschienen), seinem (posthum edierten) Journal des années de guerre und seiner umfangreichen Korrespondenz mit wichtigen europäischen Persönlichkeiten (J.-R. Bloch, M. Gorki, A. Kolb etc.) mit dem Krieg beschäftigt, sondern auch in den beiden Erzählungen Pierre et Luce und Clerambault. Wie in seinen essayistischen Schriften scheint hier der Humanist und Pazifist zu sprechen. Doch ebenso wie ein genauere Re-Lektüre von Jean-Christophe und seinen Essays aus dem Ersten Weltkrieg zeigt, manifestieren sich auch hier immer wieder unerwartet patriotische Tendenzen, die Rollands Überzeugung einer 176 DDossier gewissen intellektuellen und moralischen Superiorität Frankreichs gegenüber den restlichen europäischen Nationen spiegeln. Es soll hier in keiner Weise um eine Demontage des (zumindest bis zum Zweiten Weltkrieg) zweifelsfrei pazifistisch gesinnten und europäisch denkenden Rolland gehen. Gleichwohl soll ein kritischer und offener Blick eventuelle Relativierungen seines vermeintlich gänzlich unpatriotischen und bedingungslosen Gleichheitsstrebens ermöglichen. Im besonderen Fokus der folgenden Untersuchung von Rollands literarischer Auseinandersetzung mit der Grande Guerre stehen seine beiden von der Forschung bislang kaum beachteten ,Kriegserzählungen‘ Pierre et Luce und Clerambault. Bei der Analyse der Werke geht es zum einen um die Herausarbeitung von Rollands fiktionalem Umgang mit dem Krieg u. a. im Vergleich zu seiner eigenen Position als einsamer Statthalter des Friedens. Als Nicht-Kriegsteilnehmer, der auch die Heimatfront nicht selbst miterlebte − Rolland lebte die gesamte Kriegszeit im Schweizer Exil −, hat Rolland keine Kriegsliteratur im engeren Sinne verfasst und so wird zum anderen diskutiert, was die Erzählwerke ästhetisch leisten und inwiefern sie als Antikriegsliteratur bzw. Zeitdokumente zu betrachten sind. Vorahnungen des Krieges in Jean-Christophe : Ein pazifistischer Europaroman mit Lücken Es gibt gar keinen Zweifel: Der monumentale roman fleuve Jean-Christophe illustriert Rollands Utopie eines in respektvollem Miteinander und friedvoller Versöhnung geeinten Europas und kann als Plädoyer für die Brüderlichkeit im Sinne Schillers gelesen werden. Obwohl in erster Linie Entwicklungs- und Künstlerroman − der deutsche Musiker und Komponist Christophe Krafft findet seine musikalische Vollendung in der kongenialen Synthese deutscher, französischer und italienischer Mentalität und Kunstsinnigkeit − bringt Rolland hier unmissverständlich seine politische Vision eines europäischen Kulturraumes zum Ausdruck. Dabei sieht Rolland − wie das berühmt gewordene Zitat der beiden Schwingen des Abendlandes kraftvoll illustriert − insbesondere die deutsch-französische Allianz als unerlässliche Grundlage einer europäischen Zukunft: Voici nos mains. En dépit des mensonges et des haines, on ne nous séparera point. Nous avons besoin de vous, vous avez besoin de nous pour la grandeur de notre esprit et de nos races. Nous sommes les deux ailes de l’Occident. Qui brise l’une, le vol de l’autre est brisé. Vienne la guerre! Elle ne rompra point l’étreinte de nos mains et l’essor de nos génies fraternels (Rolland 1966: 1562sq.). Trotz aller Bedeutung, die Rolland dem deutschen Nachbarland zuerkennt, ist sein Deutschlandbild - entgegen der Vorwürfe von extrem konservativ-patriotischer Seite - allerdings kein uneingeschränkt positives. Vielmehr gilt seine Hochachtung und Begeisterung einem zu Lebzeiten Rollands bereits längst vergangenen, von Idealismus und romantischem Geist beseelten Deutschland. Der Protagonist ist zwar zum großen Ärgernis vieler damaliger französischer Kritiker ein Deutscher, 177 DDossier doch ist er in seiner eigenen Heimat fremd, eckt beständig an und verlässt diese schließlich auch aufgrund des zunehmenden Militarismus. Christophe ist Europäer, aber er ist stets ,anders‘ und passt sich in keine Gesellschaft hundertprozentig ein. Statt einer bestimmten Nationalkultur verkörpert er, wie so viele von Rollands Helden, die Freiheit des Geistes. So heterogen wie Rollands Deutschlandbild, so widersprüchlich ist sein Europabild. Rolland wird hierbei seiner Forderung nach uneingeschränkter Toleranz, Gleichheit und Brüderlichkeit nicht vollends gerecht. Dies zeigt etwa die deutliche Antipathie gegenüber den Juden. 3 Auch Rollands Europakonzept zeigt, dass seine Vorstellungen letztlich so universell und unparteiisch nicht sind: In Rollands Europavorstellung bilden Frankreich, Deutschland und Italien das kraftvolle Zentrum Europas. Die Schweiz als das freiheitlich neutrale Land, das alle drei Kulturen und Mentalitäten in sich vereint, ist für ihn daher auch das kleine Spiegelbild des ,großen‘ Europa. Andere europäische Länder der restlichen Romania und Osteuropas spielen bei Rolland hingegen überhaupt keine Rolle. Als Wiege des Imperialismus und Kapitalismus wird England nicht nur ausgesprochen negativ betrachtet, sondern wird in seiner Vision des friedvoll geeinten Europa gleich ganz außen vor gelassen. Rollands Konzept von Europa basiert daher auf einer imaginierten Geographie und weist trotz all seiner Forderung nach brüderlicher und friedlicher Vereinigung gewisse Lücken und innere Widersprüche auf. Jean-Christophe präsentiert aber nicht nur Rollands Europavisionen, sondern verarbeitet auch die Veränderungen der politischen Stimmung Europas in der ersten Dekade des 20. Jahrhunderts. Einem Seismographen gleich erfasste Rolland die sich verschärfenden Spannungen zwischen den europäischen Nationen und prophezeite zu Beginn des 1912 erschienenen letzten Kapitels von „La nouvelle journée“ bereits den Flächenbrand des Ersten Weltkrieges: L’incendie qui couvait dans la forêt d’Europe commençait à flamber. On avait beau l’éteindre, ici; plus loin, il se rallumait; avec des tourbillons de fumée et une pluie d’étincelles, il sautait d’un point à l’autre et brûlait les broussailles sèches. À l’Orient, déjà, des combats d’avant-garde préludaient à la grande Guerre des Nations. L’Europe entière, l’Europe hier encore sceptique et apathique, comme un bois mort, était la proie du feu. Le désir du combat possédait toutes les âmes. À tout instant, la guerre était sur le point d’éclater. On l’étouffait, elle renaissait. Le prétexte le plus futile lui était un aliment. Le monde se sentait à la merci d’un hasard, qui déchaînerait la mêlée (Rolland 1966: 1559). Noch bevor sich Rollands dystopische Prophezeiung bewahrheiten sollte, wurde die Stimmung in Frankreich zunehmend feindselig. Vor dem Hintergrund des damit einhergehenden zusehends erstarkenden Deutschlandhasses gerieten Roman und Autor nach anfänglich ungemein großem Erfolg bald in den Verruf des Volksverrates. Eine Einschätzung, die sich unmittelbar nach Kriegsausbruch durch Rollands entsetzen Aufschrei gegen den Krieg verstärken sollte. 178 DDossier Rollands patriotischer Pazifismus in seinen expositorischen Schriften zum Ersten Weltkrieg Nach der Bestätigung der düsteren Vorahnungen im letzten Band von Jean- Christophe war Rollands literarische Stimme mit Ausbruch des Krieges zumindest editorisch verstummt. Dies war nicht allein dem Boykott gegen Rolland seitens zahlreicher französischer Verlage und Buchhandlungen geschuldet, sondern auch der Tatsache, dass Rolland der ästhetisch elaboriertere Ausdruck seiner gesellschaftspolitischen und moralischen Ideen vor dem Hintergrund der völlig veränderten politischen Situation nicht mehr angemessen schien: Die Zeit drängte, direkt artikulierte Streitschriften schienen ihm nun der einzig wahre Weg, an die Menschlichkeit und den Verstand Europas zu appellieren und sich so gegen den Hass und für den Frieden zu engagieren. Die Neutralität seines Schweizer Exils ermöglichte ihm, seiner Meinung freien Ausdruck zu verleihen. Dabei ist Rolland freilich nicht so naiv zu glauben, mit Worten die Waffen zum Schweigen bringen zu können, doch war dies seine einzige Möglichkeit, die Menschheit geistig und moralisch zu verteidigen und vor dem intellektuellen und kulturellen Untergang zu retten: Je n’essaie pas de combattre la guerre, je sais que c’est impossible - plus impossible maintenant que jamais. J’essaie de combattre la haine. J’essaie de sauver d’elle tout ce qu’on peut sauver: clarté de raison, pitié humaine, pitié chrétienne, − tout ce qui du moins subsiste de ces grandes lumières menacées par la tempête (Rolland 1915, zit. nach Nedeljkovic 1970: 31sq.). Für Autor und Werk bedeutete der Kriegsausbruch einen bedeutenden Einschnitt, den sein Freund St. Zweig folgendermaßen beschreibt: Mit diesem Jahre 1914 verlischt die private Existenz Romain Rollands: sein Leben gehört nicht mehr ihm, sondern der Welt, seine Biographie wird Zeitgeschichte, sie läßt sich nicht mehr ablösen von seiner öffentlichen Tat. [ ] Seit 1914 ist Romain Rolland ganz eines mit seiner Idee und ihrem Kampf. Er ist nicht mehr Schriftsteller, Dichter, Künstler, nicht mehr Eigenwesen. Er ist die Stimme Europas in seiner tiefsten Qual. Er ist das Gewissen der Welt (Zweig 1926: 47sq.). Bereits sein offener Brief an G. Hauptmann, in dem er an die Intellektuellen Deutschlands appellierte, sich gegen das barbarische Gebaren der Regierung zu stellen, bescherte Rolland vehemente Kritik von französischer Seite. Viele seiner bisherigen Anhänger, unter ihnen auch Pazifisten, wandten sich von Rolland ab. Ein Großteil der geistigen Elite Frankreichs betrachtete ihn als Nestbeschmutzer, F.-V.-A. Aulard warf Rolland eine „Germanophilie déplacée“ (1914) vor und nach der Veröffentlichung von Rollands Friedensappel „Au-dessus de la mêlée“ beschimpften ihn Anhänger und Nahestehende der Action Française wie H. Massis in seiner Schmähschrift Romain Rolland contre la France (1915) gar als deutschtreuen Volksverräter. 179 DDossier Doch Rolland war alles anderes als das: Er liebte seine Heimat und war überzeugt von der geistigen und moralischen Vormachtstellung Frankreichs in Europa. In Frankreich sieht er die Blüte des europäischen Kulturerbes vervollkommnet. In „Pro Aris“ klagt er die Deutschen an, indem er zugleich die moralische Superiorität Frankreichs hervorhebt: J’aime à voir que, d’ailleurs, ce n’est pas dans les pays latins que ce devoir sacré a pu jamais cesser d’être tenu pour le premier de tous. Notre France, qui saigne de tant d’autres blessures, n’a rien souffert de plus cruel que de l’attentat contre son Parthénon, la cathédrale de Reims, Notre-Dame de France. [ ] [La cathédrale de Reims] est l’arbre de la race, dont les racines plongent au plus profond de sa terre et qui, d’un élan sublime, tend ses bras vers le ciel. [ ] Qui tue cette œuvre assassine plus qu’un homme, il assassine l’âme la plus pure d’une race (Rolland 1915: 9sq.). Die kulturelle Alterität Frankreichs und die klare Distanzierung von Deutschland wird insbesondere in den Zugehörigkeitsverweisen zum lateinisch-romanischen Kulturkreis deutlich: „Sachez-le, rien ne nous est plus écrasant, à nous Latins, plus impossible à respirer que votre militarisation intellectuelle“ (Rolland 1915: 45). Auch darf nicht vergessen werden, dass Rolland - trotz seiner pazifistischen Einstellung - im Kampf Frankreichs gegen den deutschen Imperialismus zumindest in den ersten Jahren des Krieges die einzige Möglichkeit für die Zukunft Europas sah: [Il] croit au début que la cause française est une cause juste; l’adversaire est l’impérialisme allemand qui, lui, cherche certainement à s’imposer brutalement à l’Europe, et Rolland espère que la France, en écrasant cet impérialisme, remportera une victoire spirituelle dont toute l’Europe profitera (Francis 1980: 618). Wenn Rolland also gegen den Krieg schreibt, dann tut er dies seiner Überzeugung nach stets im Bewusstsein für Frankreich: „Il ne voulut se désolidariser des Français et il a fait ce qui était selon lui son devoir de Français: écrire“ (Francis 1980: 602). Dass Rolland durchaus Partei ergreift, spiegelt sich auch in dem direkten Appell an die jungen französischen Soldaten, in denen die universalistischen Werte der europäischen Vergangenheit (Kreuzzüge und Französische Revolution) heldenhaft weiterleben: „O jeunesse héroïque du monde! [ ] et vous surtout, mes jeunes compagnons français, [ ] vous en qui refleurit la lignée des héros de la Révolution [ ] Vous vaincrez, je le sais. [ ] grand peuple des croisades“ (Rolland 1915: 21, 23). Letztlich will Rolland, der sich als ‚Verkörperung‘ der französischen Devise von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit versteht, den Frieden, um sein Vaterland zu retten. Rollands Pazifismus hat folglich eine durchaus patriotische Wurzel. Umso größer ist seine Verbitterung über die Reaktion seiner Landsleute, die ihn wie Massis als unpatriotischen Defaitisten beschimpfen und ihm sein Schweizer Exil als Drückebergertum vorwerfen. Er ist aber davon überzeugt, durch die unablässige Predigt des Friedens patriotischen Dienst am eigenen Volke geleistet zu haben und hofft voller Selbstvertrauen auf die späte Einsicht Frank- 180 DDossier reichs: „On me traite en ennemi de la patrie. Ma situation est ruinée en France, pour bien des années. Plus tard, on me rendra justice, et l’on verra que j’ai agi pour l’honneur de la France. [ ] Il en coûte de ne pas s’associer à la haine“ (Rolland 1960: 219). Anders als die chauvinistischen Hetzparolen der französischen Kriegspropaganda sieht Rolland die wahren Feinde des Friedens aber nicht allein in einzelnen Nationen, sondern zum einen in der moralischen Schwäche des Einzelnen, die sich in passiv-geistloser Lethargie manifestiert: „Ce n’est pas que je regarde [ ] la guerre comme une fatalité. Un Français ne croit pas à la fatalité. La fatalité, c’est l’excuse des âmes sans volonté. La guerre est le fruit de la faiblesse des peuples et de leur stupidité“ (Rolland 1915: 6). Besonders beklagt Rolland dabei - unter nicht ganz unprätentiösem Schuldeinschluss seiner Person -, dass selbst die geistigen Eliten den Lügen der Kriegslegitimationen wie einer Seuche erlägen und sich nicht aus der Masse der blinden Mitläufer erhöben: À cette épidémie, pas un n’a résisté. Plus une pensée libre qui ait réussi à se tenir hors d’atteinte du fléau. [ ] Ce ne sont pas seulement les passions de races, qui lancent aveuglément les millions d’hommes, les uns contre les autres, comme des fourmilières [ ] Dans l’élite de chaque pays, pas un qui ne proclame et ne soit convaincu que la cause de son peuple est la cause de Dieu, la cause de la liberté et du progrès humains. Et je le proclame aussi (Rolland 1915: 26sq.). Ferner beklagt er das transnationale Phänomen des sich epidemieartig in ganz Europa ausbreitenden Imperialismus: Le pire ennemi n’est pas au dehors des frontières, il est dans chaque nation; et aucune nation n’a le courage de le combattre. C’est ce monstre à cent têtes, qui se nomme l’impérialisme, cette volonté d’orgueil et de domination, qui veut tout absorber, ou soumettre, ou briser, qui ne tolère point de grandeur libre, hors d’elle. [...] Chaque peuple a, plus ou moins, son impérialisme; quelle qu’en soit la forme, militaire, financier, féodal, républicain, social, intellectuel, il est la pieuvre qui suce le meilleur sang de l’Europe (Rolland 1915: 33). Doch macht Rolland hier auch eine ganz unmissverständliche Kampfansage an Deutschland, Brutstätte einer besonders virulenten und selbstzerstörerischen Variante des Imperialismus: Le plus dangereux pour nous, hommes de l’Occident, celui dont la menace levée sur la tête de l’Europe l’a forcée à s’unir contre lui, est cet impérialisme prussien, qui est l’expression d’une caste militaire et féodale, fléau non pas seulement pour le reste du monde, mais pour l’Allemagne même dont il a savamment empoisonné la pensée. C’est lui qu’il faut détruire d’abord (Rolland 1915: 33). Wenn sich Frankreich wie Deutschland und England dem Imperialismus und territorialem wie ökonomischem Machtstreben hingibt, werden die heroisch erhabenen Ideale der Grande Nation (Liberté, Égalité, Fraternité) einem plumpen und barbarischen Militarismus geopfert. Aufgrund seiner geistigen Vormachtstellung hat 181 DDossier Frankreich aber, so Rolland, die Verpflichtung, sich für die Verbreitung seiner humanistischen Grundwerte in Europa sowie für den Frieden einzusetzen, und trägt insofern die Verantwortung für die Zukunft des Abendlandes: Depuis la guerre, cette étroitesse [d’horizon de la pensée française contemporaine] s’est révélée plus écrasante encore; elle sera mortelle, si nous n’y remédions pas. Le mal n’est pas restreint à la seule France; tout l’Occident en souffre, plus ou moins. Mais il est plus grave chez nous, car noblesse oblige. Nous avons exercé, pendant des siècles, une véritable suprématie intellectuelle en Occident; et si nous abdiquons, c’est tout l’Occident qui abdique (Rolland 1952: 1480). Sein Ruf nach bedingungsloser Einhaltung der grundfranzösischen Maximen Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, die - nimmt man sie ernst - nur in den Frieden münden können, zeigt, wie sich für Rolland Patriotismus und Pazifismus durchaus vereinen lassen. Ebenso gehen für ihn Patriotismus und Internationalismus Hand in Hand, wenn diese immer das große Ganze, die friedliche Einheit aller Nationen, im Blick haben: „Non, l’amour de ma patrie ne veut pas que je haïsse et que je tue les âmes pieuses et fidèles qui aiment les autres patries. Il veut que je les honore et que je cherche à m’unir à elles pour notre bien commun“ (Rolland 1915: 30). Zwischen Krieg und Frieden: Rollands belletristische Verarbeitung des Krieges Obwohl während des Krieges nur Rollands kriegskritische Essays erschienen, schrieb er weiterhin fiktionale Werke. Das Jahr 1920 wird für die Wiederaufnahme seines literarischen Schaffens entscheidend, denn es erscheinen gleich drei literarische Werke aus seiner Feder: Die 1917 verfasste Satire Liluli, die ein Jahr später entstandene kleine Erzählung Pierre et Luce und der zwischen 1916 und 1920 geschriebene Roman Clerambault. Anders als in dem Drama, bei dem der Bezug zur realen politischen Situation zwar unmissverständlich erkennbar ist, jedoch nur allegorisch erfolgt, ist der Chronotopos der beiden Erzähltexte eindeutig im Frankreich der Kriegsjahre angesiedelt. Im Gegensatz zu den Autoren der großen Kriegsromane wie etwa H. Barbusses Le Feu, R. Dorgelès’ Les croix de bois oder M. Genevoix’ Ceux de 14 war Rolland kein Kriegsteilnehmer und verfügte daher auch nicht wie die écrivains combattants über unmittelbare Fronterfahrung. Seine Berührung mit dem Leid des Krieges erfolgte, wie zeitgenössische französische Stimmen immer wieder heftig kritisierten, fern von den Kriegsschauplätzen, aus der sicheren Ferne des Schweizer Exils. Sein Engagement beim Schweizer Roten Kreuz zeigte ihm zwar die Folgen des Krieges, doch auch hier gilt freilich, dass es nicht das unmittelbare Leid der Front war, mit dem er konfrontiert war. All sein Wissen über den Krieg bezog Rolland aus den Briefen und Berichten seiner jungen Freunde, die in den Krieg gezogen waren (z. B. L. Gillet, A. de Châteaubriand, J.-R. Bloch). Dieses ,Mankos‘ ist sich Rolland durchaus bewusst und so schreibt er im Vorwort von Clerambault: 182 DDossier Le sujet de ce livre n’est pas la guerre, bien que la guerre le couvre de son ombre. Le sujet de ce livre est l’engloutissement de l’âme individuelle dans le gouffre de l’âme multitudinaire. C’est, à mon sens, un événement beaucoup plus gros de conséquences pour l’avenir humain que la suprématie passagère d’une nation (Rolland 1920c: 7). 4 Ebensolches gilt im Grunde auch für Pierre et Luce. Beide Texte sind zwar Kriegserzählungen: Sie wurden bereits während des Krieges verfasst und wären ohne den Krieg auch nicht entstanden. In den Erzählungen selbst steht der Krieg jedoch tatsächlich nicht im Zentrum, sondern stellt die Hintergrundfolie dar, vor der sich die eigentliche Handlung abspielt bzw. durch die sie ausgelöst wird. Es geht nicht um den Krieg an der Front und das Sterben in den Schützengräben, sondern um die moralischen Auswirkungen des Krieges auf die Zivilgesellschaft. Während Pierre et Luce eine „eine zarte Idylle der Liebe, gleichsam in Aquarellfarben zärtlich hingetuscht“ (Zweig 1926: 247) ist und von der ersten vorsichtigen und zugleich doch absoluten Liebe erzählt, 5 ist Clerambault - wie der Untertitel andeutet „la Confession d’une âme libre au milieu de la tourmente, l’histoire de ses égarements, de ses angoisses et de ses luttes“ (C: 5) - ein Thesen- und Bildungsroman, in dem es um die moralische Entwicklung der Hauptperson geht. 6 Beide Erzählungen enden tragisch mit dem Tod der Protagonisten. Doch während in Pierre et Luce der Krieg, konkret ein Bombeneinschlag die Helden umbringt, stirbt Clerambault nicht unmittelbar an einem Kriegsereignis, sondern an den moralischen Deformationen, die der Krieg bei den Überlebenden hinterließ. Beide Texte weisen den für Rollands Erzählwerke charakteristischen Stil auf, der sich durch einen sehr erhabenen, mitunter geradezu lyrischen Ton einerseits und lange Reflexionen eines heterodiegetischen Erzählers andererseits kennzeichnet. Die z. T. sehr langen Digressionen, in denen der mahnend-belehrende Erzähler über Krieg und Frieden nachdenkt, kommen Rollands Essays zum Teil sehr nahe und verleihen den an für sich belletristisch konzipierten Werken immer auch thesenhafte Züge, wirken dabei insofern etwas schwerfällig, als sie die Narration unterbrechen und die psychologische Entfaltung der Figuren hemmen. Besonders stark ausgeprägt ist dies in Clerambault, wo man stellenweise den Eindruck hat, man lese Rollands kritische Schriften über den Krieg. Auch die Darstellung von Clerambault als pazifistischer Dichter auf verlorenem Posten erinnert stark an Rollands eigene Position im Krieg. Sich dieser autobiographischen Nähe bewusst, änderte Rolland den Titel des Romans, den er in einem Vorabdruck 1917 in einer Schweizer Zeitung noch L’Un contre Tous betitelt hatte. Im Vorwort spricht sich Rolland trotz einer großen geistigen Verwandtschaft zwischen ihm und seinem Protagonisten explizit gegen eine zu stark autobiographisch ausgerichtete Lektüre aus: Qu’on n’y cherche rien d’autobiographique! Si je veux un jour parler de moi-même, je parlerai de moi-même, sans masque et sans prête-nom. Bien que j’aie transposé dans mon héros certaines de mes pensées, son être, son caractère et les circonstances de sa vie lui appartiennent en propre (C: 5). 183 DDossier In Pierre et Luce liegt keine vergleichbar starke autobiographische Nähe vor. Pierre et Luce erzählt vom Kriegsalltag in Paris. Der Krieg ist von Anbeginn der Erzählung präsent, so setzt der Text mit einem Blick in die als Luftschutzkeller genutzten Metrostationen ein: Pierre s’engouffra dans le Métro. [ ] Au-dessus de lui, au-dessus des ténèbres de ces voûtes, de ce trou de rat où filait le monstre métallique, grouillant de larves humaines, - était Paris, la neige, la nuit froide de janvier, le cauchemar de la vie et de la mort, - la guerre. La guerre. Il y avait quatre ans qu’elle s’était installée. Elle avait pesé sur son adolescence (Rolland 1920b: 13sq.). 7 Historischer Hintergrund der Erzählung sind die deutschen Luftangriffe mit den Gotha-Bombern auf Paris im Frühjahr 1918. Rolland verweist aber nicht nur auf die Bombardements, sondern erzählt auch von deren Opfern in der Zivilbevölkerung: Au-dessus de la voûte, sur la Ville là-haut, des détonations sourdes. Le train repartit. À cet instant, un homme affolé, qui se couvrait le visage de ses mains, descendait l’escalier de la station et vint rouler en bas. On eut encore le temps de voir le sang qui coulait au travers ses doigts Le tunnel et la nuit de nouveau. Dans le wagon, des cris d’effroi: ,Les Gothas sont venus! ...‘ (PL: 16sq.) Zudem thematisiert der Text ein konkretes Ereignis des Krieges, dass sich als lieu de mémoire in das kollektive Gedächtnis insbesondere der Pariser Bevölkerung eingebrannt hat: Die Zerstörung der Église Saint-Gervais während des Karfreitagsgottesdienstes 1918. Pierre et Luce ist als literarische Antwort auf den Ruf nach Verewigung der Katastrophe zu verstehen, der in La passion de Saint- Gervais. Récit du bombardement du Vendredi Saint 1918 (1919) an die Künstler Frankreichs ergangen war. Die Erzählung wirkt damit als mahnende Erinnerung an die Grauen des (Luft-)Krieges, die das Gedenken an einen entsetzlichen Akt gegen die Menschlichkeit wahren, damit zugleich aber auch die Ressentiments gegen die deutschen Aggressoren wachhalten soll: Les survivants de ces jours qui ont, depuis, assisté au revirement éclatant de la fortune, auront sans doute oublié le lourd vol menaçant de l’aile sombre qui, dans cette semaine, couvrit l’Ile-de-France et frôla Paris dans son ombre. La joie ne tient plus compte des épreuves passées. - La ruée allemande atteignit la ligne de faîte, entre Lundi Saint et le Mercredi Saint. La Somme traversée, Bapaume, Nesle, Guiscard, Roye, Noyon, Albert, enlevés. Onze cents canons conquis. Soixante mille prisonniers (PL: 165) Wie in „Pro Aris“ klingt in der Erzählung eine deutliche Anklage gegen die Deutschen durch. Die Grundhaltung des Erzählers ist die eines Patrioten, der an die Opfer Frankreichs erinnern will und sich zugleich in erster Linie um die Belange Frankreichs sorgt. Pierre et Luce ist ein durch und durch französischer Text, der sich auch insofern als ,Gedächtniserzählung‘ versteht, als er den Nachgenerationen das Lebensgefühl der Kriegsjahre zu vermitteln versucht. Deutlich zeigt sich 184 DDossier dies beispielsweise, wenn der Erzähler die unterschiedlichen Assoziationen von Worten und Begriffen im Krieg erläutert: Demain! ... Ceux qui viendront après nous auront peine à se représenter ce que ce mot évoquait de désespoir muet et d’ennui sans fond, dans la quatrième année de guerre Une telle lassitude! Tant de fois les espoirs avaient été déçus! Les centaines de demains se succédaient pareils hier et aujourd’hui, tous également voués au néant et à l’attente du néant. Le temps n’avait plus de cours. [ ] Demain? Demain est mort (PL: 61). Pierre et Luce wurde schon beim Erscheinen als Erzählung gegen den Krieg verstanden - als eine Erzählung, die zeigt, dass Liebe stärker ist als alle sozialen Unterschiede und stärker selbst als der Krieg. Der Pariser Lebensalltag der Protagonisten ist vom Krieg gezeichnet und doch sind ihre Jugend, ihre Suche nach sich selbst und der Drang nach der ersten Liebe stärker als all die Angst vor den Realitäten des Krieges, den sie nicht verstehen: „Dans tout adolescent, de seize à dix-huit ans, est un peu de l’âme d’Hamlet. Ne lui demandez pas de comprendre la guerre! “ (PL: 14). Im Gegensatz zu Pierre, der bis zu seiner Einberufung wenig von der Härte des realen Erwachsenenlebens erfahren hat, wurde Luce durch die ärmlichen Lebensumstände in eine frühe Selbstständigkeit gezwungen, die sie - obwohl im Alter von Pierre - sehr viel erfahrener und abgeklärter erscheinen lässt. Pierres unendliche Verliebtheit trägt Züge einer fast religiös-spirituellen Liebesekstase, was die Reinheit dieser unschuldigen Liebe nur noch unterstreicht. In Luce erkennt der feinfühlige und verletzlich-weiche Pierre 8 - wie ihr sprechender Name andeutet - eine Lichtgestalt, die ihm lenkendes Licht in der Finsternis ist: „Ne la revît-il plus jamais, il savait qu’elle était, et qu’elle était le nid. Dans l’ouragan, le port. Le phare dans la nuit. Stella Maris, Amour. Amour, veille sur nous, à l’heure de la mort! ...“ (PL: 45). Die Parallele zur Muttergottes verleiht der wachsenden Liebe ödipale Züge; zugleich stellt die gebetsartige Anrufung ein proleptisches Indiz auf das tragische Ende dar. Dieses beschreibt der Erzähler mit dem Verweis auf Luces Beschützerinstinkt und ihre fast mütterliche Liebe: Et Luce, dont les battements de cœur étouffaient en elle le bruit de l’explosion et les cris de la foule, se jeta, sans avoir le temps de craindre ou de souffrir, se jeta, pour le couvrir de son corps, comme une poule ses petits, sur Pierre qui, les yeux fermés, souriait de bonheur. D’un mouvement maternel, elle serra de toutes ses forces la chère tête contre son sein; et, repliée sur lui, la bouche sur sa nuque, ils se faisaient tout petits (PL: 177). Die Verkoppelung der erwachenden Liebe mit der Frühlingsmetapher lässt an F. Wedekinds ,Kindertragödie‘ Frühlings Erwachen denken, doch erhält diese bei Rolland durch die Parallelsetzung mit der Erwartung der letzten Katastrophe quasireligiöse Züge einer heroischen Tragödie: „Mars était de retour, et la lumière plus longue, et les premiers chants d’oiseaux. Mais avec les jours grandissaient les flammes sinistres de la guerre. L’air était fiévreux de l’attente du printemps et de celle du cataclysme“ (PL: 125). Der Kontrast zwischen der sehr zarten und gefühl- 185 DDossier vollen Beschreibung der ersten Liebe einerseits und der der Brutalität des Krieges andererseits verstärkt die Wirkung besonders nachhaltig und macht aus der voller Pathos erzählten und mitunter ins kitschig-süßliche abgleitenden Romanze in Zeiten des Krieges ein Plädoyer für den Frieden. Es ist ein gänzlich gewaltloser, ja fast kindlich-naiver Protest gegen den Krieg. Dieser wird von den beiden Protagonisten in ihrer Traumwelt absoluter Gefühlshingabe geradewegs ausgeblendet: Depuis une quinzaine, ils ne savaient plus rien de ce qui se passait dans le monde. [ ] Ils savaient qu’il y avait la guerre, quelque part, tout autour, comme il y a le typhus, ou bien l’influenza; mais cela ne les touchait pas; ils ne voulaient pas y penser. Elle se rappela à eux, cette nuit. [ ] Ils entendirent l’alarme, chacun dans son quartier, et refusèrent de se lever. Ils s’enfoncèrent la tête dans leur lit, sous leurs draps, comme un enfant, pendant l’orage [ ] La guerre? Je sais, je sais. Elle est là? Qu’elle attende! (PL: 107-109) Die reine, unschuldige Liebe wird in der Darstellung Rollands zu einem stark idealisierten Element der Hoffnung, das letztlich stärker ist als der Tod, ohne diesen aber - wie die zahlreichen Prolepsen vergegenwärtigen - gänzlich zu verdrängen. Naiv, egoistisch oder weise nehmen sich die beiden Liebenden die Freiheit, gesellschaftliche und moralische Grenzen zu überschreiten: Sie leben ihre Liebe trotz markanter sozialer Unterschiede und trotz des um sie tobenden Krieges aus; sie gehen den kriegsgeschüttelten Trott der Gesellschaft nicht mit und lassen sich von der Unmenschlichkeit des Krieges nicht unterkriegen, um das Leben - und sei es noch so kurz - vollends auszukosten. Pierre macht damit auch eine gewisse moralisch-ethische Entwicklung durch. Der wohlbehütete und zu staatstreuem Pflichtbewusstsein erzogene Sohn aus gutbürgerlichem Hause bricht mit der Passivität der Bourgeoisie, kostet die Freiheit seiner Jugend aus und ergreift die Initiative zum Leben. Doch dieses ist nur in der gesellschaftlichen Abgeschiedenheit der märchenhaften Gegenwelt möglich und so riskiert Pierre den Ausschluss aus dem Kreis seiner Freunde: „Tous l’écrasèrent de leur dédain. Naudé le traita de ,poète‘. Et Jacques Sée, de ,poseur‘“ (PL: 150). Dieser quasi-rebellische Geist, mit dem sie Gesellschaft und Krieg trotzen, lässt sie als tragische Helden des Alltags des Krieges erscheinen. Im Gegensatz zu Pierre et Luce spielt der Kriegsalltag in Clerambault eine vergleichsweise geringe Rolle. Hier geht es vielmehr um das Portrait der Stimmungen und Gesinnungen der Daheimgebliebenen. Der Krieg selbst begegnet Clerambault vor allem in den Briefen seines Sohnes, die von der euphorischen Heldenprosa der patriotisch-nationalistischen Kriegspropaganda beeinflusst sind. Nicht ohne Zynismus kommentiert der Erzähler Maximes Briefe: „A la guerre, concluait le petit coq gaulois, il n’y a de pénible que ce qu’on fait en temps de paix, - la marche sur les grandes routes “ (C: 63). Der euphorische Kriegstaumel der Daheimgebliebenen macht diese der harschen Realität gegenüber vollkommen blind. Selbst als der vom Krieg gezeichnete, resignierte und erschöpfte Maxime nach Hause kommt, siegt die völkische Verblendung: 186 DDossier Dans l’escalier, il s’arrêta, ses jambes étaient lourdes; bien qu’il semblât plus robuste, il se fatiguait vite; il était ému. [ ] Maxime fut livré à l’inspection de leurs regards ravis. Ils s’extasiaient sur son teint, ses joues pleines, son air de bonne santé. Son père, lui ouvrant les bras, l’appela: ,Mon héros! ‘ - Et Maxime, les mains crispées, sentit brusquement l’impossibilité de parler. [ ] ils attribuaient son silence à la fatigue et aussi à la faim. Clerambault parlait d’ailleurs pour deux. Il racontait à Maxime la vie des tranchées (C: 65sq.). Die Sprachlosigkeit Maximes ist das Ergebnis der Distanz zwischen den glorifizierenden Bildern heroischer Kämpfer, die ihr Leben für das Wohl der Zukunft der Heimat opfern, und den verstörenden Bildern des brutalen Kriegsalltags der Soldaten: 9 „Maxime s’apercevait qu’il n’avait plus aucun moyen de communiquer avec eux, avec personne de l’arrière. C’étaient des mondes différents“ (C: 70). Im Gegensatz zur konformen Masse der von der „grande Menteuse, la Presse“ (C: 35) getäuschten Bevölkerung durchschaut Maxime alle Lügen und erkennt die wahren Feinde der Menschheit: Et ses yeux, cruellement aigus, découvrirent tout à coup autour de lui l’ennemi: l’inconscience de ce monde, la bêtise, l’égoïsme, le luxe, le ,je m’en fous! ‘ l’immonde [sic] profit de la guerre, la jouissance de la guerre, le mensonge jusqu’au racines [ ] Une moitié de l’humanité mange l’autre (C: 69). Zu dieser Erkenntnis gelangt Maximes Vater - und mit ihm die Elterngeneration der verlorenen Generation - erst als der Sohn gefallen ist: Le gouffre stupide de cette mort le fascinait. Ce bel enfant qu’on avait eu tant de joie, tant de peine à avoir, à élever, toute cette richesse d’espoirs en fleur, ce petit univers sans prix qu’est un jeune homme, cet arbre de Jessé, ces siècles d’avenir .. Et tout cela détruit, en une heure .. Pour quoi? Pour quoi? ..... Il fallait se persuader au moins que c’était pour quelque chose de grand et de nécessaire (C: 77). Doch genau diesen Sinn des Sterbens gibt es nicht: Viel zu spät begreift er, dass der Heldentod für das Vaterland nichts als eine hohle Lüge ist, von der er sich - wie so viele andere aufrichtige Bürger - täuschen ließ. Es bleibt die verzweifelte Frage nach dem Warum. Das Sinnvakuum und der tiefe Schmerz über die Sinnlosigkeit des frühen Todes, zusammen mit der Erkenntnis, die Katastrophe nicht verhindert zu haben, die Kinder mit den Kriegsparolen sogar noch in den Krieg getrieben zu haben, werfen Clerambault in eine existenzielle Krise: C’était grâce à des sophismes comme les siens qu’on lançait dans la tuerie l’idéalisme des jeunes gens. Les penseurs, les artistes, les vieux empoisonneurs, emmiellaient de leur rhétorique le breuvage de mort que, sans leur duplicité, tout conscience eût aussitôt éventé et rejeté avec dégoût - Le sang de mon fils est sur moi, disait douloureusement Clerambault. Le sang des jeunes gens d’Europe, dans toutes les nations, rejaillit à la face de la pensée d’Europe. Elle s’est faite partout le valet du bourreau (C: 97). 187 DDossier Die Entlarvung der „Gemeinschaftslüge“ (Zweig 1926: 249) und die grauenvolle Einsicht der Selbstschuld am ,Kindermord‘ löst in Clerambault den mutigen und engagierten Einsatz für die Rückbesinnung auf die Wahrheit aus. Er dekonstruiert all die vermeintlichen Wahrheiten der Nation: „La Patrie? Un temple hindou: des hommes, des monstres et des dieux. Qu’est-elle? La terre maternelle? La terre entière est notre mère à tous. La famille? Elle est ici et là, chez l’ennemi comme chez moi, et ne veut que la paix. [ ] L’État? L’État n’est pas la Patrie“ (C: 88sq.). Nach dieser Reinigung des Geistes steigt die Flamme der Freiheit in ihm auf wie Phönix aus der Asche: „Quand il eut tout arraché, il ne lui restait plus que son âme nue. [ ] Dès l’aube, commença de s’éveiller la flamme imperceptible, que la lourde enveloppe des mensonges étouffait. Au souffle de l’air libre, elle se ralluma. Et rien ne pouvait plus l’empêcher de grandir“ (C: 91). Von nun an gilt all sein Engagement einer neuen Sinnstiftung: Wenn sein Sohn schon sterben musste, dann wenigstens damit er zur Einsicht gelangt und fortan alles daran setzt, dass so etwas nie wieder passiert. Nun erst zeigt sich Clerambault in seinen Pamphleten aus wahrer Überzeugung seines eigenen Gewissens als humanistischer Pazifist und Internationalist. „O Morts, pardonnez-nous! “, sein erster Text nach seiner Läuterung ist Schuldeingeständnis und zugleich - wie der gesamte Roman - Warnruf an die nächsten Generationen. Seid wachsam! Nie wieder Krieg! , so könnte man die zentrale Botschaft von Clerambault zusammenfassen. Doch die Gesellschaft will Clerambaults Wahrheiten ebenso wenig wahr haben wie die Rollands. Eine Traumvision wird Clerambault zum epiphanen Moment der Erkenntnis und Versöhnung mit der ihm feindlich gesonnenen Welt und er erkennt, sein Aufruf an die Welt wird Früchte tragen: Vous voulez, comme moi, être libres. Vous souffrez de ne point l’être. Et c’est votre souffrance qui vous fait mes ennemis. [ ] L’Un contre tous est l’Un pour tous. Et il sera bientôt l’Un avec tous Je ne resterai pas seul. Je ne l’ai jamais été. À vous frères du monde! (C: 365) Rolland lässt Agénor schließlich zu einem „Märtyrer der Wahrheit, [der] mit dem Leben seinen Glauben bezahlt“ (Zweig 1926: 252) werden. Wie die beiden (Freiheits-)Liebenden Pierre und Luce, stirbt auch er an Karfreitag. Der Bezug zur Oster-Symbolik am Ende des Romans verdeutlicht Rollands Gleichsetzung von moralisch-ethischem und religiösem Glauben an die Wahrheit. So kommentiert einer der wenigen Anhänger Agénors dessen Tod mit den folgenden Worten: Jésus n’a pas été mis en croix par hasard. Il devait être, il serait encore supplicié. L’homme de l’Évangile est le révolutionnaire, de tous le plus radical. Il est la source inaccessible, d’où jaillissent entre les brèches de la terre dure, les Révolutions. Il est le principe éternel de la non-soumission de l’Esprit à César, quel qu’il soit, à l’injuste Force. Ainsi se légitime la haine des valets de l’État, des peuples domestiqués, contre le Christ-aux-outrages qui les regarde et se tait, et contre ses disciples, - nous, les éternels réfractaires, les Conscientious Objectors aux tyrannies d’en haut comme à celles d’en bas, à celles de demain comme à celles d’aujourd’hui, - nous, les Annonciateurs de Celui plus grand que 188 DDossier nous, qui portera au monde la parole qui sauve, le Maître mis au tombeau, qui ,sera en agonie jusqu’à la fin du monde‘ et toujours renaîtra, - l’Esprit libre, le Seigneur Dieu (C: 377). Rollands ,Kriegshelden‘ sind folglich gerade die einfachen und körperlich schwachen Menschen, die durch die Wahrung bzw. Wiederentdeckung der Freiheit ihres Gewissens zu wahrer Größe gelangen. Zu quasi-religiösen Symbolfiguren stilisiert stehen sie für die Hoffnung auf Neubeginn und ewigen Frieden. Fazit Pierre et Luce und Clerambault, die beiden narrativen Reaktionen Rollands auf den Krieg, sind zweifelsohne als zeitgeschichtliche Zeugnisse zu betrachten, die Aufschluss über Stimmungen und Einstellungen während der Grande Guerre geben. Wie Rollands Artikel sind seine beiden fiktionalen Kriegstexte von seinem durchaus mitunter patriotischen Pazifismus geprägt. Beide Bücher sind im Sinne humanistischer Antikriegsliteratur als Plädoyers gegen die Unmenschlichkeit des Krieges und seine dehumanisierenden Folgen zu verstehen. Doch erweist sich Clerambault sehr viel eindeutiger als pazifistisches Werk von internationaler Reichweite als Pierre et Luce. Jeder französische Patriotismus scheint hier tatsächlich dem uneingeschränkten Ruf nach Frieden gewichen zu sein. Agénor stirbt zwar am Ende, doch seine universellen Forderungen nach Wahrheit und Freiheit des Geistes wirken in der jungen Generation seiner - wenn auch wenigen - Anhänger fort und säen einen Funken Hoffnung für die Zukunft. Pierre et Luce hingegen illustriert, wie die Liebe den Tod überwinden kann, doch hallt hier kein universell pazifistischer Ruf nach. Stattdessen hält die Erzählung die Erinnerung an das Bombardement von Saint-Gervais wach und schreibt den Akt deutscher Barbarei in das kollektive Gedächtnis Frankreichs ein. Interessanterweise wurde aber gerade Pierre et Luce, wenngleich nur außerhalb Frankreichs in den letzten Jahren als französischer Beitrag der Antikriegsliteratur wiederentdeckt. 2007 erschien die von Ch. de Kay besorgte englische Übersetzung bei Mondial, die Punk-Band Die Skeptiker brachte das Lied „Pierre und Luce“ heraus und der Berliner Aufbau Verlag edierte 2010 eine deutsche Neuübersetzung von H. Köhler. 10 Besonders bemerkenswert ist ferner, dass die allgemeine Modeerscheinung der Dramatisierung narrativer Texte auch Pierre et Luce erfasst: Bereits 2007 fand an der Neuen Oper Wien die Premiere der lyrischen Kammeroper Pierre et Luce. Die Osterlämmer von G. Schedl statt. Seit 2010 tourt die slowakische Produktion Pietro e Lucia. Requiem for the 20th Century, eine Tanz-Oper mit multimedialen Showeffekten von D. Rapoš, durch Europa, Kanada und die USA. Interessant ist dabei, dass die romaneske Erzählung trotz ihres historisch klaren Bezugs als universelles Plädoyer gegen Krieg und Terror verstanden wird: „Its modern message is a call for common battle of people of all continents against international terrorism and local wars.“ 11 189 DDossier Curtius, Ernst Robert, Die literarischen Wegbereiter des neuen Frankreich, Potsdam, Kiepenheuer, 1923. Francis, Richard, „La France vue par Romain Rolland“, in: Revue d’Histoire littéraire de la France, 80, 4, 1980, 602-620. Nedeljkovic, Dragoljub-Dragan, Romain Rolland et Stefan Zweig, Paris, Klincksieck, 1970. Rolland, Romain, Au-dessus de la mêlée, Paris, Ollendorff, 1915. — (ed.), Les poètes contre la guerre. Anthologie de la poésie française 1914-1919, Genf, Éditions du Sablier, 1920a. —, Pierre et Luce, Genf, Éditions du Sablier, 1920b. —, Clerambault. Histoire d’une Conscience libre pendant la Guerre, Paris, Ollendorff, 1920c. —, Journal des années de guerre. 1914-1919, Paris, Michel, 1952. —, Chère Sofia. Choix de lettres de Romain Rolland à Sofia Bertolini Guerrieri-Gonzaga (1909-1932), Bd. II, Paris, Michel, 1960. —, Jean-Christophe, Paris, Michel, 1966. Zweig, Stefan, Romain Rolland. Der Mann und das Werk, Frankfurt/ Main, Rütten & Loening, 1926. 1 Jouves Romain Rolland vivant (1920) und Zweigs Romain Rolland. Der Mann und das Werk (1926) sind beredtes Zeugnis der grenzenlosen Bewunderung Rollands. 2 Zit. nach www.dhm.de/ lemo/ html/ kaiserreich/ wissenschaft/ nobelpreis/ literatur (01.08.2014). 3 Besonders zeigt sich dies in dem äußerst negativ dargestellten Kohn-Hamilton, der als deutscher Jude in Paris amerikanischen Idealen nacheifert. Auch in Pierre et Luce zeichnet Rolland einen jungen Juden mit deutlich ablehnender Skepsis. Jacques Sée ist auch nach vier Jahren Krieg unbelehrbarer Kriegsbefürworter: „Il était de ceux qui n’acceptent jamais le démenti des faits. Il avait un double orgueil, l’orgueil caché de sa race qu’il voulait réhabiliter, et son orgueil personnel qui voulait avoir raison“ (Rolland 1920b: 146). 4 Im Folgenden werden Textzitate aus Clerambault mit dem Sigel C plus Seitenangabe angegeben. 5 Pierre Aubier, Sohn aus gutbürgerlichem Hause, hat seinen Einberufungsbefehl erhalten und soll wie sein Bruder Philippe, der bereits an der Front ist, in einem halben Jahr für Frankreich kämpfen. Der Krieg zwingt den noch sehr kindlichen Protagonisten, sich mit den existenziellen Fragen des Lebens auseinanderzusetzen und wirft ihn in ein seelisches Chaos. Inmitten dieser Seinskrise begegnet er per Zufall während eines Bombenalarms Luce. Zum ersten Mal in seinem jungen Leben erfährt er die Gefühlsverwirrungen der Liebe. Die Bekanntschaft mit Luce konfrontiert Pierre auch erstmals mit der proletarischen Gesellschaftsschicht. Er ist schockiert von der in Promiskuität lebenden Mutter von Luce, die in einer Munitionsfabrik arbeitet, sich aber nicht um ihre älteste Tochter kümmert. Diese bestreitet ihren Lebensunterhalt mehr schlecht als recht mit äußerst mittelmäßigen Gemäldekopien. Den sozialen Unterschieden zum Trotz durchleben die beiden Jugendlichen heimlich eine kurze aber intensive Zeit der Liebe. Ihre großen Pläne finden durch ihren gemeinsamen Tod bei der Karfreitagsmesse durch deutsches Bombardement ein jähes Ende. 6 Agénor Clerambault ist ein mittelmäßiger und wenig erfolgreicher Vorstadtdichter, der von einem konfusen Idealismus und Pazifismus durchdrungen ist. Er lebt mit seiner einfältigen Frau Pauline und seinen Kindern Rosine und Maxime ein beschauliches Leben. Der Ausbruch des Krieges und die freiwillige Meldung des Sohnes an die Front verändern das Leben der Clerambaults. Agénor lässt sich von der blinden Kriegsbegeisterung 190 DDossier der Massen anstecken und wird zum glühenden Vaterlands- und Kriegsdichter. Rasch ist er am Zenit seines dichterischen Ruhmes. Die Meldung des Todes des Sohnes erschüttert Agénor, wird zum Moment der Peripetie. Es beginnt ein fast religiöser Bekehrungsprozess, bei dem Clerambault Senior seine Schuld erkennt und schließlich zur Wahrheit findet. Er befreit sich und sein Gewissen von allen Kriegslügen und wird erst nun zum wahren Pazifisten, der versucht seine Mitmenschen wachzurütteln und ihnen die Augen zu öffnen. Doch die Bevölkerung will weiter an die Lüge des gerechten Krieges und die Heldentode der Soldaten glauben. Die Familie schämt sich für Agénor, die Öffentlichkeit verachtet ihn und beschuldigt ihn Défaitist zu sein; nur eine kleine Gruppe versehrter Kriegsheimkehrer unterstützt und ermutigt ihn. Mit seinen humanistisch-pazifistischen Artikeln handelt er sich eine Anklage ein, doch er bleibt unbelehrbar und kämpft weiter für die Freiheit des individuellen Gewissens. Am Ende wird Clerambault von Victor Voucoux, dessen Sohn wie der Clerambaults viel zu jung im Krieg starb, erschossen. 7 Im Folgenden werden Textzitate aus Pierre et Luce mit dem Sigel PL plus Seitenangabe angegeben. 8 Pierre erinnert damit stark an Jean-Christophe, der ebenfalls eine äußerst empfindsame und sensible Seele hat. Im Gegensatz zu nationalistischen Heldenkonzepten ausgeprägter Virilität und physischer Stärke, tragen Rollands Helden allesamt tendenziell weibliche Züge, so auch Philippe und Pierre: „Le grand frère [ ] était comme lui, de cette pâte fine, qui, chez les meilleurs hommes, garde un peu de la femme“ (PL: 25). 9 Eine ähnliche Szene der Ernüchterung finden wie in Pierre et Luce, als der vormals kriegsbegeisterte Philippe auf Heimaturlaub ist. Die Konfrontation mit der hässlichen Wahrheit des Krieges ließ auch ihn sich von sich selbst und den Daheimgebliebenen entfremden (PL: 26). 10 Köhlers Neuübertragung ist nicht nur durch das zeitgemäßere Deutsch der von Paul Amann besorgten Übersetzung von 1921 vorzuziehen, sondern auch durch die passendere Titelgebung (Pierre und Luce), war doch der Titel der Erstübersetzung Peter und Lutz etwas verwirrend. 11 Zit. nach www.pietroelucia.com/ about (01.08.2014).