eJournals lendemains 39/154-155

lendemains
0170-3803
2941-0843
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/
2014
39154-155

‚Spinning Beach Ball of Death‘

2014
Isabell Otto
ldm39154-1550120
120 DDossier Isabell Otto ‚Spinning Beach Ball of Death‘ Gebräuche der Unterbrechung im Zeitgefüge zwischen Usern und digitalen Medien Drei Minuten Redezeit hat der Unternehmer Colin Robertson, um im März 2012 dem Publikum darzulegen, wie seine Idee einer Crowdsourcing-gestützten Solaranlage zur Gesundheitsfürsorge beitragen kann. Er spricht auf der Bühne der TED- Konferenzreihe (TED steht für Technology, Entertainment, Design). Doch schon nach wenigen Sekunden gerät seine Präsentation ins Stocken. Als Robertson mittels Fernbedienung die nächste Folie aufruft, die hinter ihm auf eine riesige Leinwand projiziert die Worte Crowdsourcing Solar zeigt, erscheint direkt unterhalb des Schriftzugs ein sich im Uhrzeigersinn drehender Kreis, der aus zehn regenbogenfarbig abgestuften, fließend ineinander übergehenden Segmenten besteht. Die nicht nur Mac-Usern bekannte Interface-Animation signalisiert eine Überlastung des Systems. Ihr offizieller, in Apples User Interface Guidelines verwendeter Name lautet „spinning wait cursor“ (Apple 2013). Doch die englische und die französische Wikipedia-Community listen in ihren Artikeln zahlreiche der in Web- Foren und Troubleshooting-Seiten gebräuchlichen inoffiziellen Bezeichnungen dieses Phänomens auf: „spinning pinwheel“, „rainbow wheel“, „color wheel“, „beach ball“, „BBOD“ (beach ball of death), „Marble of Doom“, „Wheel of death“, „roue de la mort“ oder „Spinning Beach Ball of Death“ (Wikipedia 2014; Wikipédia 2014). Das Video, das der Redner mit der Folie verlinkt hat - so zumindest legt es die bunte Animation nahe -, lässt sich (noch) nicht abspielen. „A TED speaker’s worst nightmare“, so der Titel des Beitrags auf der Homepage der Konferenzreihe. Robertson versucht, die Situation zu überspielen, indem er kostbare Redezeit verschwendet, um zu sagen, was offensichtlich ist ‚Huh. Hang on a moment. It might take a moment to load‘. Doch nichts geschieht. Über die Lautsprecher sind akustische Fehlermeldungen des Apple Betriebssystems OS X zu hören; das Publikum reagiert mit Gelächter. Robertson versucht, das Video zu überspringen, doch auf der Leinwand erscheint nun eine Fülle von Dialogfenstern, die ganz unterschiedliche Warn- und Alarmmeldungen anzeigen: „Your slideshow cannot be exported as a QuickTime movie“, „The alias ‚ThisFileHasBeenDeleted alias‘ could not be opened, because the original item cannot be found“, „An unexpected error occurred while trying to load the Microsoft framework library“, „Low Battery Warning“, „Core Audio: Disk is too slow. (Write) (-10002)“, usw. Spätestens als im Zuschauerraum Regenschirme aufgespannt und um die eigene Achse gedreht werden, die dem Spinning Beach Ball farblich gleichen, ist dem Publikum im Zuschauerraum klar, dass es Teil einer Performance ist. Die 121 DDossier akustischen Error-Signale werden rhythmischer und gehen in Musik über. Auf der Leinwand ist nun vor schwarzem Hintergrund in weißer Schrift und in mehreren Sprachen die Aufforderung zum Neustart zu lesen: „You need to restart your computer“, „Veuillez redémarrer votre ordinateur“, „Sie müssen Ihren Computer neu starten“. Überlagert wird die schriftliche Aufforderung durch gleich mehrere - scheinbar über alle Sprachgrenzen hinweg verständliche - Spinning Beach Balls of Death. Was folgt, ist eine knapp dreiminütige Bühnenshow der Performance- Gruppe Improve Everywhere, die einem Verschnitt von Michel Gondrys Musikvideo zum Daft Punk-Song Around the World ähnelt: Eine Gruppe von Schauspielern in schwarzen Anzügen und regenbogenfarbenen Perücken betritt die kreisrunde Frontbühne und feuert Luftschlangen ins Publikum. Vom Balkon werden Strandbälle in den Publikumsraum geworfen. Eine weitere Gruppe in roten, grünen, gelben oder blauen Morphsuits, die den Figuren der Darsteller nicht unbedingt schmeicheln, umtanzt den Redner mit ungelenken Bewegungen. Im Hintergrund werden überdimensionale Beach Balls auf Leinwand und Kulisse projiziert. Nachdem alle Tänzer die Bühne wieder verlassen haben und die Musik verklungen ist, beendet der Schauspieler Eugene Cordero (alias Colin Robertson) die Performance mit den Worten: „Solar technology is Oh, that’s all my time? Okay. Thank you very much“ (TED 2012; Todd 2012). Die Konferenzreihe TEDTalks, deren Video-Publikationen nicht nur auf der Website TED.com publiziert sind, sondern - ganz dem Motto der Organisatoren entsprechend: ‚ideas worth spreading‘ - auf anderen Plattformen wie YouTube oder Facebook Verbreitung finden, kann als eine Community-Plattform bezeichnet werden, deren „Prozesse der Gemeinschaftsbildung, der Teilhabe und des Ausschlusses“ (Pöhnl 2013: 73) signifikant für die medialen Bedingungen und Praktiken des World Wide Web sind. Dass die Spinning Beach Ball-Performance in diesem Rahmen funktioniert, verdeutlich, wie sehr Improve Everywhere auf implizites, kulturelle und sprachliche Differenzen übergreifendes Wissen über diese animierte Komponente des graphischen Interface setzt. Sie muss nicht weiter erklärt werden, um ausgestellt und in einem Bühnen-Spektakel überboten zu werden. Die unterbrochene, zu scheitern drohende User-Computer-Interaktion und die Kontrolle versprechende Symbolisierung dieser Störung sind fest in die Gebrauchsweisen, Konventionen, ja Rituale im Umgang mit digitalen Medien verankert. Dieser Umstand soll im Folgenden näher beleuchtet werden. Der Spinning Beach Ball of Death, so möchte dieser Beitrag argumentieren, symbolisiert einen Riss im Zeitgefüge zwischen Usern und Computern, das genau durch diese Symbolisierung zwischen ihnen aufgespannt wird. Er verfertigt somit eine soziotechnische Zeitordnung, gerade indem er ihre Unterbrechung signalisiert. Die Interface- Animation steht damit in der Tradition von Kulturtechniken der Zeit wie Uhren oder Kalender, zeigt aber deutlich, welche Transformationen diese unter den Bedingungen digitaler Medien vollziehen. 122 DDossier 1. Das Interface der Zeit-Ingenieure Betrachtet man den Spinning Wait Cursor zunächst im Rahmen des User Interface (UI) und so wie Apple Inc. ihn verstanden wissen will, so gehört er einer Gruppe von Elementen an, die in der Programmierung der Benutzeroberfläche eingesetzt werden, um Usern zu signalisieren, dass Computer gerade komplexe Rechenoperationen, Synchronisierungs-, Speicherungs-, Up- oder Downloadprozesse durchführen, eine große Datei öffnen oder eine graphisch aufwändige Website aufbauen. Als Bestandteile von Browsern, Betriebssystemen oder Software-Applikationen können sie die vergehende Zeit auf ganz unterschiedliche Weise und in ganz unterschiedlichem Präzisionsbestreben anzeigen: Als zirkulierende Pfeile, rotierende Räder, pulsierende Symbole, Sand- oder Armbanduhren, Spiralen, farbige Ringe; aber auch in Form von Prozessleisten oder fliegenden Blättern, die (halbwegs genaue) Angaben über die noch verbleibende Arbeitszeit der zu erledigenden Aufgabe geben. Einige haben ähnliche popkulturelle Bekanntheit erreicht wie Apples Spinning Beach Ball: z. B. der sich um einen Globus windende Fuchs in früheren Firefox-Versionen oder der Meteoritenschauer im Logo des Netscape- Navigators in den 1990er Jahren. Die Bezeichnung und Unterscheidung dieser animierten Graphiken ist uneinheitlich. Die englischsprachige Wikipedia-Community, die ebenso wie die TEDTalks darüber Aufschluss geben kann, welche Ideen oder Phänomene in den Computer- und Netzkulturen als verbreitenswert erachtet werden, unterteilt ‚progress indicators‘ in Fortschrittsbalken, textuelle Prozentangaben, Startseiten von Programmen oder Betriebssystemen, Throbber (z. B. sich drehende Räder, die auf eine Aktivität der Software verweisen) oder - wozu der der Spinning Beach Ball zu rechnen wäre - Warteformen des Mauszeigers (Wikipedia 2013). Gerade die letzteren beiden sind jedoch schwer zu unterscheiden, denn sie sind aus der Perspektive eines Time Design - um eine besondere Bezeichnung dieser Form von zeitorientierter Gestaltung der Benutzeroberfläche aufzugreifen, die der Psychologe und ‚Nutzungsforscher‘ bei Microsoft, Steven Seow, wählt - unbedingt zu vermeiden. Leisten sie doch gerade nicht, was Seow in seinem Buch Designing and Engineering Time Interface Designern empfiehlt: eine der schmerzlichsten menschlichen Erfahrungen - das Warten - so angenehm wie möglich zu gestalten (Seow 2008: 79). Ein guter Zeit-Ingenieur müsse in der Lage sein, die Zeiterfahrung des Users zu manipulieren: „to turn an otherwise delay into a pleasant pause, or make something that is unbearably long feel like a fleeting duration“ (ibid.: 2). Wenn das UI durch einen rechenintensiven Vorgang unterbrochen ist, sei wichtig, den Usern zu zeigen, welchen Fortschritt der Computer in seinen Rechenoperationen mache, so auch die Web-Beraterin und Entwicklerin Jenifer Tidwell, die sich in ihrem Handbuch Designing Interfaces beinahe ethnologisch in die fremde Spezies der Mainstream-Usern hinzudenken versucht: 123 DDossier Users get impatient when the UI just sits there. Even if you change the mouse pointer to a clock or hourglass (which you should in any case, if the rest of the UI is locked out), you don’t want to make a user wait for an unspecified length of time. Experiments show that if users see an indication that something is going on, they’re much more patient, even if they have to wait longer than they would without a progress indicator. Maybe it’s because they know that ‘the system is thinking,’ and it isn’t just hung or waiting for them to do something (Tidwell 2006: 49). Die Ungeduld des Users mit einem überlasteten Programm legt auch Apple in seinen Guidelines als zentrales Problem des Wait Cursors nahe und empfiehlt App-Entwicklern Fortschrittsindikatoren zu verwenden, auch wenn sie nur ungefähre Zeitangaben machen können: „In general, if an app does not respond for about 2 or 4 seconds, the spinning wait cursor appears. If the app continues to be unresponsive, users often react by force-quitting it“ (Apple 2013). Eine Relation zwischen User und Programm, die noch besteht, wenn der Beach Ball sich dreht, wird aus der Sicht des Unternehmens in diesem Fall erst durch den User abgebrochen. Erst im Zeit-Empfinden der User wird, so betrachtet, der Spinning Wait Cursor zum Spinning Beach Ball of Death. Die Anwendung ist tot, so scheint es dem User, auch Warten ist aussichtslos. Der Spinning Beach Ball reiht sich nicht in die Komponenten der „Lovemark“ (Roberts / Lafley 2005) Apple ein, für deren Produktneuheiten es sich in langen Warteschlangen auszuharren lohnt. Doch die drohende Unterbrechung, die das Warten-Müssen oder nicht (lange genug) Warten-Können des Users herausstellt, geht sehr viel weiter, als es in den Empfehlungen der Zeit-Ingenieure offensichtlich wird. Auch durch Fortschrittsbalken sind nämlich die Risse, Sprünge oder Diskontinuitäten zwischen Usern und Computern nicht zu beseitigen. Jeder Progress-Indikator zeigt unweigerlich die Zeit in Unterbrechungen und Sprüngen an, z. B. indem die angeblich noch verbleibenden Zeiteinheiten bis zur Beendigung eines Vorgangs immer wieder zubzw. auch abnehmen. Den Fortschritt in Computerprozessen zu veranschaulichen ist aufgrund der vielfältigen Temporalitäten, die in digitalen Medien (un-)gleichzeitig ablaufen (Hayles 2011: 217), nicht so ohne weiteres möglich: „Varying disk, memory, processor, bandwidth and other factors complicate this further. Consequently, progress bars often exhibit non-linear behaviors, such as acceleration, deceleration, and pauses“ (Harrison / Amento / Kuznetsov / Bell 2007: 115). Auch für den Fall der Fortschrittsbalken muss es Zeit-Ingenieuren deshalb darum gehen, das Zeitempfinden der User zu beeinflussen, z. B. indem ihnen pulsierend oder gerippt visualisierte Balken das Warten verkürzen (Harrison / Yeo / Hudson 2010). Kein Interface-Element kann somit vollständig unsichtbar halten, was das Warten der User kenntlich macht: Ihre Konfrontation mit einer Vielfalt technologischer Abläufe und somit mit Zeitstrukturen, die nicht ihren subjektiven Temporalitäten entsprechen und über die sie nicht verfügen können. Die Ungeduld der wartenden User könnte so auf die Zumutungen verweisen, die mit der Unterbrechung eigenzeitlicher Abläufe nicht nur in „zwischenmenschlicher Verständi- 124 DDossier gung“ (von der Heiden 2003: 64sq.), sondern auch in der Abstimmung (den Interface-Prozessen) zwischen Menschen und Computern einhergehen. 2. Der verbindend-trennende Vorgang des Wartens Um besser zu verstehen, wie die Konfrontation menschlicher Eigenzeiten mit den multiplen Temporalitäten digitaler Medien zusammenhängt und welchen Stellenwert Praktiken, konventionalisierte Gebrauchsweisen bzw. ‚Gebräuche‘ und interkulturell verständliche Symbolisierungen der Unterbrechung (wie der Spinning Beach Ball) hierbei einnehmen, ist es aufschlussreich, bei einem berühmten zeitphilosophischen Beispiel anzusetzen, das nichts mit Computern zu tun hat, aber die Problemlage des Wartens grundsätzlicher entfaltet: „Will ich mir ein Glas Zuckerwasser bereiten, so muß ich, was auch ich anstelle, das Schmelzen des Zuckers abwarten“ (Bergson 2006: 16). Henri Bergsons Zuckerwasser-Beispiel steht zu Beginn seiner Studie Schöpferische Entwicklung und dient dazu, seine Bestimmung der Zeit als Dauer zu veranschaulichen. Das Warten bringt den Wartenden mit einer Zeitlichkeit in Berührung, die nichts mit einer abstrakten, messbaren Zeit gemein hat und die Bergson dem Raum, nicht der eigentlichen Zeit zuordnen würde: Denn die Zeit, die ich warten muß, ist nicht mehr jene mathematische, die sich mit der Geschichte des Universums auch dann noch decken würde, wenn dieses auf einen Schlag im Raum hingebreitet worden wäre. Sie fällt zusammen mit meiner Ungeduld, d. h. mit einem Teil meiner eignen Dauer, der weder willkürlich ausdehnbar noch abkürzbar ist. Nicht mehr Gedachtes ist hier, sondern Gelebtes, nicht Relatives mehr, sondern Absolutes. Was anderes aber besagt dies, als daß Zucker, Glas Wasser und Schmelzprozeß ohne allen Zweifel Abstraktionen sind, und daß das Ganze, daraus meine Sinne und mein Verstand sie herausgeschnitten haben, vielleicht nach Art eines Bewußtseins im Fortschreiten begriffen ist? (Ibid.). In seinem ersten Bergson-Kommentar in Kino 1 stellt Gilles Deleuze, dessen Lesart hier leitend sein soll, besonders heraus, dass das Warten den Wartenden mit seiner eigenen Dauer konfrontiert: „Was Bergson mit dem Glas Zuckerwasser vor allem sagen will, ist, dass mein wie auch immer beschaffenes Abwarten eine Dauer als mentale, geistige Realität zum Ausdruck bringt“ (Deleuze 1997: 23). Es sind nicht so sehr die Eigenzeiten anderer Prozesse, die den Wartenden ungeduldig werden lassen, sondern die Tatsache, dass er selbst einer eigenen Dauer unterliegt, über die er nicht verfügen kann, die ihn jedoch mit der Gesamtheit aller Vorgänge der Dauer verbindet, aus denen der Prozess des Zuckerschmelzens nur einen Ausschnitt, ein abgegrenztes System der Veränderung bildet. Wie Deleuze anmerkt, scheint Bergson zu vergessen, dass der Wartende den Auflösungsprozess des Zuckers mit Hilfe eines Löffels und durch Umrühren beschleunigen könnte. Doch diese Abkürzung des Wartens würde nichts daran ändern, dass in der (mehr oder weniger langsamen) Veränderung des Wassers, 125 DDossier die in der Ungeduld spürbar wird, „das unablässige Werden, das durch solche Zustände hindurchgeht“ (ibid.: 25) zu erkennen ist. Über dieses Werden, so zeigt sich die Zumutung des Wartens, lässt sich nicht verfügen. Zucker, Wasserglas und vielleicht noch ein Löffel bilden ein ‚Ensemble‘, das nicht mit dem Ganzen, der Dauer oder dem reinen Werden zu verwechseln ist, aber dennoch nicht von ihm unabhängig existiert. Das Ganze ist, so Deleuze, durch die Relation bestimmt, die jedes aus ihm herausgeschnittene Ensemble offen hält: „wie durch einen dünnen Faden, der es an den Rest des Universums bindet“ (ibid.). Diese Relation ist es, die das Ensemble „von einem qualitativen Zustand zum anderen treibt“ (ibid.). Der Wartende befindet sich „vor oder innerhalb einer Dauer“ und kann somit auf die „Existenz eines sich verändernden und irgendwo offenen Ganzen schließen“ (ibid.: 24). Durch die Dauer des Wartens und seine Ungeduld gewinnt der Wartende Einsicht in die Dauer des Ganzen. Er erfährt Zeit nicht als messbare, abstrakte Größe, sondern in der Kontinuität des ständigen Werdens. Bergsons Beispiel bildet in Deleuzes Lesart erste Anhaltspunkte zur Beschreibung eines Wartens auf den Computer. Es stellt sich jedoch die Frage, wieweit die mentale, geistige Erfahrung von Dauer, die Deleuze mit Bergson in den Vordergrund stellt, unter den Bedingungen digitaler Medien überhaupt aufschlussreich sein kann. Das Beispiel aus Schöpferische Entwicklung sei deshalb mit Alfred North Whiteheads Process and Reality und somit mit einem anderen philosophischen Text des frühen 20. Jahrhunderts konfrontiert, der besonders auf Grund seiner spekulativ-konstruktivistischen Beschreibungsmodelle gegenwärtig als ‚Denkweise‘ (Stengers 2002; Debaise 2006) neu erschlossen wird, die besonders für die Temporalität digitaler Medien fruchtbar ist (Hansen 2011; Barker 2012). Mit Whitehead wäre es nämlich nicht möglich, durch eine mentale Erfahrung, die Bergson auch mit dem Begriff der ‚Intuition‘ in Verbindung bringt, die Dauer bzw. (in Whiteheads Begriffen) das ‚reine Werden‘ zu erschließen. Auch wenn Whitehead im Vorwort zu Process and Reality Bergson als einen jener Philosophen nennt, dem sein eigenes Denksystem viel zu verdanken hat, unterscheidet sich die Bergson’sche Dauer signifikant von reinem Werden bei Whitehead, und das begründet sich schon - wie Didier Debaise herausstellt (Debaise 2009) - in der Frage der Erfahrbarkeit oder Zugänglichkeit der für beide grundlegenden Prozessualität. Ausgangspunkt kann bei Whitehead nicht das menschliche Bewusstsein des Wartenden und die mentale erfahrbare Realität seiner eigenen Dauer sein. Die Methode der spekulativen Philosophie setzt auf Distanz, indem sie abstrakte Konstruktionen schafft, die in der menschlichen Erfahrung nicht vorkommen. So bestimmt Whitehead die basale Prozessualität auf der Grundlage von ‚aktualen Entitäten‘ oder ‚wirklichen Einzelwesen‘, die jeder Erfahrung vorgängig sind und die grundlegenden Elemente alles Im-Werden-Seienden bilden. Whitehead verabschiedet auf diese Weise die ontologische Privilegierung des menschlichen Subjekts vor allen anderen Subjektivitäten (Shaviro 2009: xii): Die aktualen Entitäten sind jeder Herausbildung von Menschen oder Dingen vorgängige Subjekte auf einer mikroprozessualen Ebene, die der Erfahrung mächtig sind. 126 DDossier Sie werden auch „drops of experience“ (Whitehead 1978: 18) genannt. Erst durch einen Zusammenschluss aktualer Entitäten entstehen die von Whitehead so bezeichneten „Gesellschaften“, die einer bestimmten „gesellschaftlichen Ordnung“ folgen (ibid.: 34). Nur auf dieser Ebene lassen sich für Menschen erfahrbare und dauerhafte Gegenstände oder Individuen ausmachen. Debaise bestimmt Whiteheads Weg der spekulativen Abstraktion als „philosophy of mediation“ (Debaise 2009: 81). Die spekulative Konstruktion von aktualen Entitäten tritt zwischen das Bewusstsein und das reine Werden. Debaise macht einen weiteren Unterschied aus, der noch entscheidender ist: Bei Whitehead ist nicht die Kontinuität grundlegend, sondern die Diskontinuität. Jedes Werden vollzieht sich erst in den Relationen, Erfahrungs- (in Whiteheads Begrifflichkeit ‚Prehensions‘-) und Objektivierungsprozessen der zeitlich atomaren aktualen Entitäten; ihr Werden und Vergehen (bzw. zu neuem Werden Bereitstehen) geschieht auf der Grundlage von Diskontinuität. Kontinuität entsteht erst als Effekt dieser Relationen: „There is a becoming of continuity, but no continuity of becoming“ (Whitehead 1978: 36; Debaise 2009: 86). Was also die nicht-intuitive, sondern konstruktivistische Methode der Spekulation erkennbar macht, ist, dass das reine Werden auf Unterbrechungen, Zäsuren, Rissen beruht, nicht auf einer vorgängigen „reine[n] Dauer“ - so auch Tholen in seiner Kritik an Bergson -, die „sich selbst [beschaut] in ihrer Gestalt als Vergangenheit und Gegenwart in einem bruchlosen Horizont, in dem die Zäsuren und Moment der Zeit verschmelzen“ (Tholen 2002: 135). Whitehead denkt Zeit grundlegend diskontinuierlich, alle Kontinuität entsteht erst sekundär aus temporal geordneten ‚Gesellschaften‘, die aus dem diskontinuierlichen Werden atomarer Entitäten hervorgehen. Man könnte zugespitzt auch sagen: Whitehead denkt Zeit in Zäsuren und somit im Sinne einer digital ‚zerhackten‘, ‚diskreten‘ Zeit (Turing 1987: 192; Kittler 1990: 169)‚ während Bergson ein analoges, kontinuierliches Modell vorsieht. Wie wären demnach das Zuckerwasser-Beispiel und die Ungeduld des Wartenden mit Whitehead zu beschreiben? Vorgängig ist somit nicht ein Geschehen, in dem der menschliche Intellekt das Ensemble Zucker, Wasser, Glas aus der Dauer des ‚Ganzen‘ herausschneidet und in seiner Ungeduld dann wieder seine eigene Relation zur reinen Dauer des Ganzen, ebenso wie die des herausgeschnittenen Ensembles erfährt. Vorgängig ist vielmehr eine grundlegende Zäsur, die sich auf den weiteren Ebenen der Individuation von menschlichen und nicht-menschlichen ‚Gesellschaften‘ fortschreibt. Alle beteiligten ‚Gesellschaften‘ (der Wartende, der schmelzende Zucker, Wasser, Glas) sind als temporale Ordnungen aufzufassen, die durch ganz unterschiedliche Dauern, Geschwindigkeiten, Anfangs- und Endpunkte gekennzeichnet sind und alle auf einer grundlegenden Diskontinuität beruhen. Das menschliche Bewusstsein ist dann durch Warten und Ungeduld nicht grundsätzlich von allen anderen Entitäten unterschieden. Vielmehr wären die Ungeduld und das Warten menschliche Perspektiven auf das Aufeinandertreffen verschiedenartiger Zeitverläufe oder Dauern. 127 DDossier Effekt des Wartens im Zuckerwasser-Beispiel ist jedoch auch, dass Schmelzprozess und menschlicher Zeitverlauf nicht unabhängig voneinander sind, sondern sich aufeinander beziehen, eine gemeinsame Zeitordnung zu Grunde legen: Es hat für den wartenden Beobachter eine Relevanz, wann der Zucker schmilzt. Der sich auflösende Zucker, dessen Prozessualität vielleicht sogar mit einem Löffel beschleunigt wird, ist nicht mehr unabhängig von der Dauer des Wartenden, sondern ein Vorgang, auf den gewartet wird. Das Warten erzeugt Abstimmung von differenten Zeitverläufen, ebenso wie es ihre Differenz in Erscheinung treten lässt. Das Warten ist es, was die Aufspannung eines Zeitgefüges zwischen menschlichem Beobachter und schmelzendem Zucker ermöglicht und die jeweiligen Eigenzeiten überhaupt erst miteinander konfrontiert. Ohne das Warten würden die unterschiedlichen Dauern ungestört nebeneinander verlaufen. Was für die differenten temporalen Ordnungen des Zuckers, des Wassers, des Glases und des menschlichen Beobachters gilt, trifft ebenso für User, Hard- und Softwareprozesse des Computers zu, deren Abstimmungsvorgänge Wartesymbole wie der Spinning Beach Ball anzeigen: Nicht die Differenz von menschlicher und technischer Temporalität ruft demnach das Warten der Computer-User hervor, sondern es gewährleistet erst die Herausbildung eines Zeitgefüges, einer soziotechnischen Ordnung zwischen Computern und Usern, gerade indem es ihre Getrenntheit ausstellt. Alle Bemühungen, durch Interface-Design das Warten, wenn es schon nicht zu vermeiden ist, möglichst angenehm zu gestalten, richten sich auf die (unmögliche) Homogenisierung dieser soziotechnischen Ordnung. Was Whitehead für die basalen Strukturen des im-Werden-Seienden beschreibt, lässt sich auf der Ebene der Interface-Prozesse zwischen Menschen und Computern (und somit schon zwischen vorübergehend dauerhaften Entitäten) wiederfinden: Als Begegnungszone im Dazwischen ist ein Interface nicht einfach ein räumlicher und zeitlicher Puffer, sondern vielmehr ein Vorgang, der das Zusammensein disparater Entitäten oder genauer: das Zusammen-in-der-Zeit- (und von- Dauer-)Seins eigenzeitlicher Entitäten reproduziert. Statt von Interface ist eher von einem Vorgang des ‚Interfacings‘ zu sprechen, aber nicht im Sinne eines Geschehens, das ein als pervasiv aber fixiert gedachtes Interface den beteiligten Entitäten ermöglicht (Farman 2012: 63), und auch nicht als Prozess, der bestimmte Effekte nach sich zieht (Galloway 2012), sondern als ein Geschehen, das die Begegnungszone selbst kennzeichnet. Interfaces wären somit keine fixierbaren Dinge, sondern Vorgänge des Zeitordnens. 3. Die un-unterbrochene Ko-Präsenz des Interfacings Zur genaueren medientheoretischen Beschreibung dieser Ordnung, die das Warten im Sinne einer störenden Unterbrechung zwischen Usern und Computern im Prozess des Interfacings ebenso aufspannt wie es ihre (temporale) Trennung aufzeigt, ist es sinnvoll, Whiteheads abstrakt-spekulative Konzeption des Zusammenschlusses von atomaren Entitäten in einer vorübergehend stabilen, temporär 128 DDossier dauerhaften Ordnung zu erweitern. Insofern jede Ordnung bei Whitehead nur auf der Grundlage mikroprozessualer Entitäten denkbar, somit von einem diskontinuierlichen Werden bedingt und als „togetherness of actual entities“ (Whitehead 1978: 29) beschreibbar ist, lässt sich (nach der Gegenüberstellung von Bergson und Whitehead) wiederum Whiteheads Denksystem mit einem anderen Zugang konfrontieren, und zwar mit Jean-Luc Nancys Beschreibung des Seins als „Mitsein“ (Nancy 2012: 34). Denn mit Nancy wird die Relation des raumzeitlichen Zwischenbereichs, das ‚Ko-‘ der ‚Ko-Präsenz‘ und sein Zusammenhang zur Bildbzw. Symbolhaftigkeit eines (vorübergehend stabilen) Interfaces (also z. B. des Spinning Beach Ball) besser nachvollziehbar. Nancy entwickelt zwar seine Vorstellung einer grundlegenden Ko-Existenz in Auseinandersetzung mit Martin Heideggers Begriffen des „Mitseins“, „Miteinanderseins“ bzw. „Mitdaseins“ (ibid.: 52) und geht somit von menschlichen Subjekten und Gemeinschaften aus. Er hat aber durchaus auch verdeutlicht, dass sich seine Vorstellung des ‚Mit-Seins‘ nicht allein auf menschliches Zusammen-Sein bezieht, sondern auch technische Objekte umfasst und somit für Fragen des Interfacings von menschlichen Usern und Computern anschlussfähig ist (Nancy 2011). Präsenz, so Nancy, ist stets Ko-Präsenz: Präsenz ist unmöglich, es sei denn als Ko-Präsenz. Wenn ich sage, dass das Einzige präsent ist, so habe ich ihm bereits einen Kompagnon der Präsenz gegeben (und wäre es nur sie selbst, die ich zweigeteilt habe). Das Koder Ko-Präsenz ist das Unpräsentierbare par excellence: doch es ist nichts anderes - und es ist nicht das Andere der - Präsentation, die Existenz, die miterscheint (Nancy 2012: 100). Inwiefern das ‚Ko-‘ und somit der Zwischenraum des Mit-Seins in der ko-existenzialen Grundstruktur des Seienden gleichermaßen „das Unpräsentierbare par excellence“ wie die „Präsentation“ bzw. die mit-erscheinende Existenz selbst ist, wird deutlicher, wenn man zum einen einbezieht, dass Ko-Präsenz bei Nancy als raumzeitliches Konzept bestimmt ist und anderseits seine Ausführung zu einer Symbolisierung des Zwischenraums einbezieht: ‚Zusammen‘ bedeutet Simultanität (in, simul): das ‚zur selben Zeit‘. Zusammen sein ist gleichzeitig sein (und am selben Ort, der selbst die Bestimmung der ‚Zeit‘ als ‚gleiche Zeit‘ ist). Das ‚gleiche Zeit/ gleicher Ort‘ setzt voraus, dass die ‚Subjekte‘, um sie so zu nennen, diese Raum-Zeit teilen - aber nicht im äußerlichen Sinn des ‚Teilens‘: Sie müssen sie sich teilen, sie müssen sie als die ‚selbe Raum-Zeit‘ ‚symbolisieren‘, ohne dies gäbe es weder Zeit noch Raum. Die Raum-Zeit selbst ist vor allem die Möglichkeit des ‚Mit‘ (ibid.: 98). Nancys Formulierung ist hier etwas stark und wäre einzuschränken: Es gäbe ohne das ‚Mit-Teilen‘ weder Zeit noch Raum für ein Zusammen-sein bzw. gemeinsames Erscheinen der Subjekte. Mit dem hier verwendeten Vokabular könnte man sagen: im Sinne ihrer soziotechnischen Zeit- und Raumordnung. Nancy spricht hier nicht (explizit) von einer grundlegenden Prozessualität, die mit Bergsons Dauer und Whiteheads Werden in Verbindung zu bringen wäre. Sie ist von diesen Vorgängen 129 DDossier des ‚Teilens‘ und ‚Symbolisierens‘ auf den ersten Blick unbetroffen (bzw. wird von Nancy hier nicht weiter thematisiert). Aber eben nur auf den ersten Blick, denn Nancys Symbolbegriff meint nicht die Abbildung oder Repräsentation von etwas: „Das Wort will nichts anderes sagen als ‚mit-gesetzt‘ [mis-avec] (griechisch syn = lateinisch cum), und hier sind genau die Dimensionen, der Raum und die Natur des ‚Mit‘ im Spiel“ (ibid.: 95). Das gleichermaßen trennend wie verbindende, kontinuierliche wie diskontinuierliche Symbol bezieht sich somit auf den Zwischenraum des Mit-seins, der alles Zusammen-Sein als stets im Prozess begriffene, zu verfertigende (Re-)Präsentation kenntlich macht. Ausgehend von Guy Debords marxistischer Kritik an einer Gesellschaft des Spektakels argumentiert Nancy, dass jedes ‚gesellschaftliche Sein‘ einer Form von Repräsentation oder Symbolisierung (zugespitzt: eines Spektakels) bedarf, um in Erscheinung zu treten. Das ‚Mit-‘ des ‚Mit-Seins‘, das ‚Ko-‘ der grundlegenden Ko-Existenz kann selbst nicht repräsentiert werden, weil es genau die Bedingung für das Mit-Sein und somit für das Präsentieren, die Verräumlichung, das Symbolisieren des Zusammen-Seins ist. Diese Form der (Re-)Präsentation bezieht sich jedoch nicht auf eine höhere Einheit des ‚gesellschaftlichen Seins‘, sondern auf das Mit-Sein selbst. Denn Mit-Sein und seine Symbolisierung sind nicht voneinander zu trennen: „Das gesellschaftliche Sein verweist jetzt auf keinerlei innere oder höhere Einheit mehr, die sich seiner selbst annimmt. Seine Einheit ist schiere Symbolik: Sie ist gänzlich Mit “ (ibid.: 96). Das ‚Mit‘ verweist auf eine „geteilte Raum-Zeit“, auf die „Teilung einer gemeinsamen Situation“ (ebd.: 64, 65) und kennzeichnet deren Symbolisierung, die das gemeinsame Erscheinen, die Ko-Präsenz, das Zusammen-Sein bedingt und ermöglicht. Mit Nancy lässt sich also die Verfertigung einer gemeinsame Raum- Zeit, die sich durch den Vorgang des Interfacings vollzieht, mit der Notwendigkeit von Symbolen (Interfaces) in Verbindung bringen. Denn was Nancy für das gesellschaftliche Sein beschreibt, trifft ebenso für soziotechnische Konstellationen zwischen Menschen und Computern zu: Interfacing ist somit als eine Verfertigung von Ko-Präsenz im Sinne einer Symbolisierung des Zwischenraums (Inter-face) zu präzisieren. Mit Nancy zeigt sich deutlich, dass die Verfertigung von Ko-Präsenz stets einen Aufschub von Ko-Präsenz meint, die nicht als gemeinschaftliche Einheit bei sich selbst ankommt, sich immer entzogen bleibt. Nancys Zusammen- Sein resultiert nicht in einem vollendeten ‚Werk‘, es ist immer ‚entwerkt‘; niemals gelangt es zu einer gemeinschaftlichen Einheit, es bleibt stets im Prozess seiner Verfertigung (Nancy 1988). Ebenso bleibt die Symbolisierung ein unabgeschlossener, stets unfertiger Vorgang, der den Abstand zwischen ko-existenten Subjekten gleichermaßen überbrückt wie herstellt. Beim symbolisierenden ‚Mit‘ handelt es sich „um einen auf dem Leeren gezogenen Strich, der diese Leere zugleich überwindet und unterstreicht“ (Nancy 2012: 100). Die Subjekte erscheinen gemeinsam und sind singulär plural. Die Raum-Zeit, die sie sich teilen, ist ein symbolisiertes Ordnungsgefüge, das auf Zäsuren und Aufschüben beruht. 130 DDossier In seiner Beschreibung der Medialität des Computers - die sich in seiner Metaphorizität, in der (Re-)Präsentation anderer Medien ebenso wie in seiner gemeinschaftsbildenden und -auflösenden Funktion zeigt - hat Tholen diesen auf verbindend-trennenden Teilungen beruhenden Zwischenraum als ein mediales Geschehen herausgestellt. Die jedem gesellschaftlichen Sein vorgängige Gemeinschaft als Mit-Sein ist ein „Geschehen der Übermittlung“ (Tholen 1999: 27), sie ist zu fassen als medialer Vorgang der „Mit-Teilung“ (Nancy 1994: 185). Ko-Präsenz ist deshalb auch „unhintergehbare A-Präsenz, in der sich die mit-teilende Gemeinschaft wie die Metaphorik der Medien auf Distanz hält“ (Tholen 1999: 27). So trifft für die temporalen Interfaces der Time-Designer in besonderem Maße zu, was Tholen für die Repräsentationen von älteren Medien durch das Interface des Computers beschrieben hat: „[A]uf der imaginären bzw. metaphorischen Ebene der graphischen Benutzeroberflächen und ihrer ikonographischen Gestaltung“ wiederholt sich nicht nur die „mediale Nichtkoinzidenz des digitalen Mediums mit sich selbst“ (denn auch Programmcodes sind „Repräsentationen des Prozessors, nicht er ‚selbst‘“; ibid.: 22), sondern auch die grundlegenden Nichtkoinzidenz der unterschiedlichen beteiligten Zeitverläufe, das Fortbestehen der Risse im Zeitgefüge, das sie zwischen sich aufspannen. Selbst und gerade in ihrer Symbolisierung als ko-präsente Abläufe halten sie sich auf Distanz. Es wiederholen sich in den Symbolen des Interface-Designs die Risse und Zäsuren in der Verfertigung von Ko-Präsenz. Interfaces sind gerade deshalb keine geschlossenen, perfekt funktionierende, Prozesse darstellende Objekte, sondern offen, netzförmig und selbst prozessual (Simondon 2011). Die zeitordnende Praxis des Interfacings spiegelt sich in der Ikonographie der Benutzeroberflächen. 4. Das Spektakel des Wartens Die TED-Talk Performance von Improve Everywhere hat das Spektakel des Spinning Beach Ball of Death nicht erfunden. Sie greift nur auf, was sich in den Praktiken unterschiedlichster Foren und Plattformen findet. Der Spinning Wait Cursor ist mehr als eine Warteform des Mauszeigers. Gerade weil er als Element des Interfacings ein offenes, unbestimmtes und in vielfältige Richtung anschlussfähiges Objekt ist, findet er sich in den Netzkulturen in zahlreichen Spielformen und Übersetzungen: als Taschen-, T-Shirt oder Fingerring-Motiv, entstellend in Graphiken, Fotografien oder Gemälde eingebettet, als mysteriöses Objekt in YouTube-Videos, Comics oder animierten Kurzfilmen. Kontexte und Konventionen der Bezugnahme auf Apples Wait Cursor changieren zwischen Medienkritik und Persiflage. Der Spinning Beach Ball wird zum Anlass, die immer größere Zerstreuung und Überforderung im Gebrauch des Computers zu kommentieren (Caitlin 2012), zum Symbol für durch Warten verschwendete Lebenszeit (NamelessPC 2014) oder zur Animation einer martialischen Figur, die unter der Benutzeroberfläche ihr Unwesen treibt und harmlose Computerprogramme hinrichtet (Lay 2009). Neben all diesen Umschriften und Übersetzungen kennzeichnet das rotie- 131 DDossier rende Symbol gleichzeitig die von Internet-Designern so gefürchtete Unterbrechung im User Interface, wie in ratsuchenden Beschreibungen von User-Praktiken in Mac-Foren deutlich wird: „Spinning Beachball of Death! ! ! “, so eröffnet ein MacRumors-Mitglied einen Thread des Diskussionsforums: Hello I am a huge newb [= Neuling, IO] at macs and computers/ mac. I got my first and only 4gb MBP not even 2 years ago and it has worked great until now. I am a basic browser and only download music and videos (onto a separate external hard drive.) i dont play games or do anything intense. I feel like slowly yet suddenly I get the spinning beach ball ALL THE TIME now. It comes up with everything I do now. [ ] When opening new safari windows, running new apps, etc. ANYTHING causes the beach ball to come up early and often. I looked and I only have 2/ 4 gb used up. Is that a lot ? Can anyone please give me advice how to fix this problem or where I can go to get help! Do I need more memory? ? All help is greatly appreciated. Thanks! (MacRumors 2012). Der Spinning Beach Ball erscheint als eine Dis-Synchronie menschlicher und technischer Zeiten (‚I feel like slowly yet suddenly‘), die den gesamten Prozess der Interaktion mit dem Computer bestimmt (‚all the time now‘). Was hier als Störung und zu lösendes Problem dargelegt wird, erscheint gleichzeitig als verbindendes Element zwischen User und Computer, das beide Entitäten aufeinander bezieht und die Unterbrechung ihres Zusammen-Seins als einen Zwischenraum markiert, den sie sich gemeinsam teilen und die Störung als eine Unterbrechung kennzeichnet, die sie nur gemeinsam überbrücken können (‚Do I need more memory‘). Möglicherweise wird der Stellenwert der Symbolisierung des Interfacings für die Verfertigung einer soziotechnischen Zeitordnung zwischen menschlichen und technischen Zeiten im vollen Umfang erst retrospektiv erkennbar. Es bleibt somit abzuwarten, was geschieht, wenn Apple den Spinning Wait Cursor durch ein neues Wartesymbol ersetzen wird. Denn in der Geschichtlichkeit des World Wide Web erscheint das, was der verzweifelte User als Zumutung darstellt, in einem ganz anderen Licht: Im selben Mac-User-Forum wurde vier Jahre zuvor eine Diskussion mit dem Titel Final goodby for early web icon (Netscape) geführt. Anlass war die Einstellung der Netscape-Browser-Serie, die von 1994 von 1998 (anfangs unter dem Namen Mosaic) von der Firma Netscape betrieben wurde, bevor sie von AOL aufgekauft wurde. Während der Netscape-Quellcode Mozilla bis heute einem Open Source Projekt den Namen gibt, dem auch der Firefox-Browser angehört, beendet AOL den Netscape-Browser am 1. März 2008 (Turnbull 2014). Die Diskussion der Mac-User war geprägt von Nostalgie: „A web browser that gave many people their first experience of the web is set to disappear“, schreibt ein User, der sich edesignuk nennt. „I remember using that browser when it was still called Mosaic back in ’92 or ’93. End of an era. Ah well, technology moves onwards”, entgegnet Cromulent. Im Abgesang auf die endende Netscape-Ära war auch das Interface-Symbol, das untrennbar mit dem legendären Browser verbunden ist, alles andere als ein Ärgernis. Der Meteoritenregen über dem auf einem dunklen Planten vor einem Sternenhimmel ‚stehenden‘ Firmenlogo ‚N‘ ist vielmehr zur Ikone einer Erinnerungskultur geworden: Deutlich zeigte joepunk, dass ‚auf den 132 DDossier Computer Warten‘, egal wie lange es dauern mag, rückblickend zum Vergnügen wird: „I’ll miss that meteor shower. I could watch that for many minutes while a page loaded on my iMac.“ User architect berichtete ähnliches: „I can still remember how exited we were watching that meteor shower“ (MacRumors 2012). Was sich in den Reminiszenzen der User abzeichnet ist die Symbolisierung einer geteilten, kollektiven Zeitordnung von Computern und Menschen, von Software- und Hardware-Prozessen und menschlichen (Warte-)Zeitordnungen, die Zeit als historische Zeit mit einschließt. Der Meteoriten-Throbber - der ein frühes Beispiel von Produsage (Bruns 2008) darstellt, da er aus einem von Netscape unter seinen Usern ausgeschriebenen Wettbewerb hervorgegangen ist - symbolisiert nicht (nur) die Zumutung, sondern die Faszination, auf den Computer zu warten, und somit die (positive) Kehrseite eines Zeitgefüges zwischen menschlichen und technischen Eigenzeiten: Die in der finalen, von den Netscape Graphikern bis ins Detail optimierten Version des Throbbers sanft vom rechten oberen zum linken unteren Bildrand verlaufenden Meteoritenschweife, die teils vor teils hinter dem Firmenlogo vorbeiziehen, die Szenerie plötzlich hell erleuchten und das Netscape ‚N‘ Schatten auf den dunklen Planeten werfen lassen, gleichen keinen gängigen Kulturtechniken der Zeit, allein schon weil sie die westliche Leserichtung ebenso umkehren wie den Uhrzeigersinn. Sie symbolisieren ein Zeitgefüge, das in den 1990er Jahren noch die Faszination des Neuen und Unbekannten trägt: Die zwischen User-Zeiten und den technischen Eigenzeiten eines weltweiten Informationssystems bestehende Ko-Präsenz, die gerade in ihrer Verfertigung, in den sich aufbauenden Websites, zum Spektakel eines symbolisierten Zusammen-Seins wird. Apple Inc., „User Experience Guidelines“, https: / / developer.apple.com / library / mac/ documentation/ userexperience/ conceptual/ applehiguidelines/ UEGuidelines/ UEGuidelines. html (letztes Update im Oktober 2013, letzter Aufruf 05.08.2014). Barker, Timothy Scott, Time and the Digital. Connecting Technology, Aesthetics, and a Process Philosophy of Time, Hanover, Dartmouth College Press, 2012. Bergson, Henri, Schöpferische Entwicklung, Boston, Adament Media Corporation, 2006. Bruns, Axel, Blogs, Wikipedia. Second Life, and Beyond: From Production to Produsage, New York, Peter Lang, 2008. Caitlin, A Rainbow of Opportunities, or a Spinning Beach Ball of Death? , http: / / www.stratejoy. com/ 2012/ 04/ a-rainbow-of-opportunities-or-a-spinning-beach-ball-of-death (publiziert im April 2012, letzter Aufruf 08.08.2014). Debaise, Didier, Un empirisme spéculatif. Lecture de Procès et Réalité de Whitehead, Paris, Vrin, 2006. Debaise, Didier, „The Emergence of a Speculative Empiricism: Whitehead Reading Bergson”, in: Keith Robinson (ed.), Deleuze, Whitehead, Bergson. Rhizomatic Connections, New York, Macmillan, 2009, 77-88. Deleuze, Gilles, Das Bewegungs-Bild. Kino 1, Frankfurt am Main, Suhrkamp, 1997. Farman, Jason, Mobile Interface Theory. Embodied Space and Locative Media, London, Routledge, 2012. 133 DDossier Galloway, Alexander, The Interface Effect, Cambridge, Polity Press, 2012. Hansen, Mark, „Medien des 21. Jahrhunderts, technisches Empfinden und unsere originäre Umweltbedingung“, in: Erich Hörl (ed.), Die technologische Bedingung. Beiträge zur Beschreibung der technischen Welt, Berlin, Suhrkamp, 2011, 365-409. Harrison, Chris / Brian Amento / Stacey Kuztnesov / Robert Bell, „Rethinking the Progress Bar”, in: Proceedings of the 20th Annual ACM Symposium on User Interface Software and Technology (Newport, Rhode Island, USA, 07.-10.10.2007). UIST '07, New York, ACM, 2007, 115-118, http: / / chrisharrison.net/ projects/ progressbars/ ProgBarHarrison.pdf (letzter Aufruf 05.08.2014). Harrison, Chris / Zhiquan Yeo / Scott Hudson, „Faster Progress Bars: Manipulating Perceived Duration with Visual Augmentations“, in: Proceedings of the 2010 ACM Annual Conference on Human Factors in Computing Systems (CHI 2010), New York, ACM, 2010, 1545-1548. Hayles, Katherine, „Komplexe Zeitstrukturen lebender und technischer Wesen“ in: Erich Hörl (ed.), Die technologische Bedingung. Beiträge zur Beschreibung der technischen Welt, Berlin, Suhrkamp, 2011, 43-64. Heiden, Gregor von der, Wer zu spät kommt, den bestraft der Wartende. Zur Funktion des Wartens in zwischenmenschlicher Verständigung, Aachen, Shaker, 2003. Kittler, Friedrich, „Real Time Analysis - Time Axis Manipulation“, in: Georg Christoph Tholen / Michael Scholl (ed.), Zeit-Zeichen. Aufschübe und Interferenzen zwischen Endzeit und Echtzeit, Weinheim, Acta humaniora, 1990, 363-377. Lay, Neil, „The Rainbowball of Doom (AKA The Spinning Beachball of death)“, Video, 2’30, http: / / www.neillay.co.uk (publiziert 2009, letzter Aufruf 08.08.2014). MacRumors, Forums, „Final goodbye for early web icon (Netscape)“, http: / / forums. macrumors.com/ showthread.php? t=444588 (publiziert im Februar und März 2008, letzter Aufruf 08.08.2014). MacRumors, Forums, „Spinning Beachball of Death! ! ! ! “, http: / / forums.macrumors.com/ showthread.php? t=1326207 (publiziert im Februar 2014, letzter Aufruf 08.08.2014). NamelessPC, „I Wait“, http: / / namelesspcs.com/ ? comic=i-wait (publiziert im März 2014, letzter Aufruf 08.08.2014). Nancy, Jean-Luc, Die undarstellbare Gemeinschaft, Stuttgart, Patricia Schwarz, 1988. Nancy, Jean-Luc, Das gemeinsame Erscheinen, in: Joseph Vogl (ed.), Gemeinschaften. Positionen zu einer Philosophie des Politischen, Frankfurt am Main, Suhrkamp, 1994, 167-204. Nancy, Jean-Luc, „Von der Struktion“, in: Erich Hörl (ed.), Die technologische Bedingung. Beiträge zur Beschreibung der technischen Welt, Berlin, Suhrkamp, 2011, 54-72. Nancy, Jean-Luc, singulär plural sein, Zürich, diaphanes, 2012. Pöhnl, Veronika, „‚Apply for Invitation‘. Exklusion, Inklusion und Individuation durch Praxen der Sichtbarmachung am Beispiel der Internetplattform TED.com“, in: AugenBlick. Konstanzer Hefte zur Medienwissenschaft, 58, 2013, 73-84. Roberts, Kevin / A. G. Lafley, Lovemarks: the Future Beyond Brands, New York, powerHouse, 2005. Seow, Steven C., Designing and Engineering Time. The Psychology of Time Perception in Software, Boston, Prentice Hall, 2008. Shaviro, Steven, Without Criteria. Kant, Whitehead, Deleuze, and Aesthetics, Cambridge, MIT Press, 2009. Stengers, Isabelle, Penser avec Whitehead: une libre et sauvage création de concepts, Paris, Seuil, 2002. TED, „Colin Robertson: A TED speaker’s worst nightmare“, http: / / www.ted.com/ talks/ a_ ted_speaker_s_worst_nightmare#t-37749 (Video gefilmt im März 2012, letzter Aufruf 04.08.2014). 134 DDossier Tholen, Georg Christoph, „Überschneidungen. Konturen einer Theorie der Medialität“, in: Sigrid Schade / Georg Christoph Tholen (ed.), Konfigurationen. Zwischen Kunst und Medien, München, Fink, 1999, 15-34. Tholen, Georg Christoph, Die Zäsur der Medien. Kulturphilosophische Konturen, Frankfurt am Main, Suhrkamp, 2002. Tidwell, Jenifer, Designing Interfaces: Patterns for Effective Interaction Design, Sebastopol, O’Reilly, 2006. Todd, Charlie „Spinning Beach Ball of Death“, http: / / improveverywhere.com/ 2012/ 03/ 09/ spinning-beach-ball-of-death (publiziert im März 2012, letzter Aufruf 04.08.2014). Turing, Alan, Intelligence Service. Schriften, in: Bernhard Dotzler / Friedrich Kittler (ed.). Berlin, Brinkmann u. Bose, 1987. Turnbull, Andrew, „The Andrew Turnbull Mozilla Network: A Visual Browser History, from Netscape 4 to Mozilla Firefox“, http: www.andrewturnbull.net/ mozilla/ history.html (letzte Änderung im November 2013, letzter Aufruf 08.08.2014). Whitehead, Alfred North, Process and Reality. An Essay in Cosmology, New York, Free Press 1978. Wikipedia. The Free Encyclopedia, „Progress indicator“, http: / / en.wikipedia.org/ wiki/ Progress_ indicator (letzte Änderung im Februar 2013, letzter Abruf 05.06.2014. Wikipedia. The Free Encyclopedia, „Spinning pinwheel“, http: / / en.wikipedia.org/ wiki/ Spinning_ pinwheel (letzte Änderung im Juli 2014, letzter Aufruf 04.08.2014). Wikipédia. L’encyclopédie libre, „Spinning wait cursor“, http: / / fr.wikipedia.org/ wiki/ Spinning_ wait_cursor (letzte Änderung im April 2014, letzter Aufruf 04.08.2014). Zawinski, Jamie, “The Secret History of the about: jwz url”, in: Jamie Zawinski (ed.), about: jwz and about: mozilla, http: / / www.jwz.org/ doc/ about-jwz.html (publiziert in 2011, letzter Aufruf: 08.08.2014).