eJournals lendemains 36/141

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Narr Verlag Tübingen
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2011
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"Mentir ou mourir“. Raymond Federman (1928–2009)

2011
Reinhard Krüger
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132 In memoriam Reinhard Krüger „Mentir ou mourir“. Raymond Federman (1928-2009) Am 16. Juli 1942, nur zwei Tage nach den nur noch äußerst verhalten begangenen Feierlichkeiten zum Jahrestag der Französischen Revolution, veranstalteten die deutschen und französischen Faschisten in Frankreich und so auch in Paris die sogenannte Jour de La Grande Rafle oder Rafle du Vél d’Hiv, den Tag, an dem alleine in Paris und Umgebung 13.152 Juden - so der Bericht der Pariser Polizei - verhaftet und sofort in die Vernichtungslager deportiert wurden. Dies geschah auch in Montrouge, einem Vorort von Paris, in dem die Familie Federman, Marguerite die Mutter, Simon der Vater, Sarah und Jacqueline, die Töchter und Raymond Federman selbst lebten. Im Hause lärmten schon die Gehilfen der Gestapo, worauf Raymonds Mutter ihren Sohn in einem Wandschrank versteckte und ihm mit einem energischen „Chut! “ zu schweigen befahl. Während die Familie verhaftet, nach Auschwitz deportiert und dort ermordet wurde, überlebte Raymond Federman, damals 14-jährig, kam zunächst bei Verwandten unter und, nachdem auch diese deportiert wurden, bei Bauern in Monflanquin im unbesetzten Südwestfrankreich, wo er sich als Landarbeiter- und Erntegehilfe verdingen konnte. - Dies tat übrigens zur gleichen Zeit auch der 22 Jahre ältere Résistance-Kämpfer Samuel Beckett, nachdem er im Jahre 1942 aus dem besetzten Paris fliehen mußte. - Kaum daß Frankreich befreit war, machte sich Raymond Federman, der während der Okkupationszeit an einem Kindertransport über Marseille nach Amerika wegen seines Alters nicht teilnehmen durfte und den nichts in Europa mehr hielt als der unendliche Schmerz des Verlusts seiner Familie, im Jahre 1947 auf den Weg in die USA, um ein neues Leben zu beginnen. Wie überlebt jemand, der so entwurzelt wurde in der riskanten US-amerikanischen Gesellschaft nach dem 2. Weltkrieg? Einer Gesellschaft, von der er selbst überzeugt ist, daß man es dort nicht lange aushalten kann. Von Gesinnung her Kommunist und damit die Phantasie von einer anderen Gesellschaft im Herzen, fühlte er immer mehr, daß letztlich nur ein Leben als Künstler und für die Kunst für ihn lebenswert sein könnte. Und man muß noch weiter gehen: Es wurde für ihn ein Überleben und ein Leben durch die Kunst. „Mentir ou mourir - to lie or to die“, das ist die emblematische Parole, unter der Raymond Federman sein Leben neu erringen konnte. Neu geboren in ein zweites Leben, nachdem ihn die Mutter im Wandschrank versteckt hatte, konnte dieses Leben nur noch gelebt werden, in dem es als Suche nach der verlorenen eigenen sozialen Identität geführt wurde, und dieser Identität näherte sich Raymond Federman auf zahlreichen erzählerischen Wegen in immer wieder neuen Varianten. Das Schweigen, das ihm die Mutter gebot, mußte gebrochen werden und konnte aber nur gebrochen werden, indem er nach 133 In memoriam den historischen Lebensumständen fragte, aus denen er als entwurzelter junger Mann hervorgegangen war. Zunächst hatte dies noch keine Sprache, sondern es war vor allem der Strom des Atems, den er in das Saxophon fließen ließ und aus dem er erste Artikulationen seines Daseins gewinnen konnte. Als leidenschaftlicher Verehrer von Charlie Parker, den er gegen Ende der 1940er Jahre einmal in einem Chicagoer Jazzclub bat, sein Saxophon benutzen zu dürfen, erkannte Raymond Federman hier eine Möglichkeit, die verlorene Sprache in Gestalt der gleichsam parasprachlich wirkenden Phrasen des Tenorsaxophons wiederzufinden oder sich ihr anzunähern. Die Erfahrung des Jazz und des Atemrespektive Stimmrhythmus des Saxophons ist eines der bemerkenswertesten Strukturierungsmerkmale der späteren Texte von Raymond Federman geworden. In beständigen Variationen und freien Improvisationen über ein einmal gefundenes Thema bewegen sich Atem, Stimme und Text auf kein Ziel hin, sondern bieten mögliche dynamische Zustände über ein vorgegebenes Thema zu Gehör und zur Lektüre dar. Ohne Perspektive verdingt sich Raymond Federman nach den ersten Jahren in den USA im Jahre 1951 als Fallschirmspringer in der US-Army, die gerade auf dem Weg ist, den Krieg in Korea zu führen. Über einen ersten Absprung und einen Flug nach Tokio kommt Raymond Federman jedoch nicht hinaus, denn er bleibt in Tokio aufgrund seiner Französischkenntnisse als Angehöriger einer Dolmetscherkompanie vom weiteren Kriegsgeschehen ausgenommen. Nach Ableistung des Dienstes erhält er nunmehr als US-amerikanischer Staatsbürger ein Stipendium, mit dem es ihm möglich ist, Literatur zu studieren. Beeindruckt von den Werken Allen Ginsburgs und William S. Burroughs fühlt er mit einigen anderen ebenso dem Schreiben zugeneigten Kollegen die Berufung, „the great American poet“ zu werden. Nach Abschluß seiner Literaturstudien promoviert er im Jahre 1963 in einer Zeit, in der schon Martin Esslins problematische These vom ‘absurden Theater’ Samuel Becketts kursierte, an der University of California/ Los Angeles mit einer sprachphilosophisch und poetologisch angelegten Dissertation über Samuel Becketts frühe Prosa (Journey to Chaos, 1965). Beckett, den er im Zuge dieser Arbeiten kennenlernt, blieb Zeit seines Lebens ein enger Freund. Raymond Federman wurde schließlich Professor an der State University of New York/ Buffalo und hielt von dort aus Kontakt zu allen wichtigen französischen Intellektuellen der 60er und 70er Jahre. So lud er Jacques Derrida, Michel Foucault, Roland Barthes, Alain Robbe-Grillet und viele andere zu Gastvorträgen nach Buffalo ein und kehrte selbst immer wieder nach Frankreich zurück, um dort, bspw. noch unter der Leitung von André Breton, im Jahre 1965 gemeinsam mit Roland Barthes und anderen das Problem der ‘écriture’ zu diskutieren. Im Jahre 1971 folgte dann nach einigen kleineren Gedichtbänden die Publikation eines ersten Romans, diesmal noch in englischer Sprache: Double or Nothing, bei der Little Swallow Press in Chicago publiziert, wurde als eines der herausragenden literarischen Ereignisse des Jahres 1971 gefeiert. Der Roman ist ein typographisch-experimenteller Text, eine concrete novel, wie Raymond Federman 134 In memoriam selbst diese Textsorte in Anlehnung an die Konkrete Poesie bezeichnete, in dem er als Schreibmaschinentext und in den Formen der daktylographischen Type den gesamten lebenswirklichen Metatext der Verfertigung eines Romans vorführt: 365 Tage hat er Zeit, in einem New Yorker Zimmer den Roman zu schreiben und beginnt den zu schreibenden Text damit, die Anzahl der Nudelpackungen, der erforderlichen Tomatensoße und der anderen Dinge, wie bspw. einer mit einem Pegasus-Motiv bedruckten Tapete, zu kalkulieren, derer er bedarf, um den Roman zu schreiben, den er schreiben will. Es handelt sich, so wird erkennbar, um die Geschichte eines jungen Mannes, der von seiner Mutter im Wandschrank versteckt die Verfolgung durch die Gestapo überlebt, in die USA auswandert, um dort ein neues Leben zu führen. Gigantisch sieht man auf den Romanseiten u.a. das Ideogramm eines typographisch gestalteten Schiffs in den Hafen New Yorks einfahren. Wie einer der frühen Amerikaentdecker gelangt der Protagonist somit in sein Eldorado, das jedoch nicht nur süß und golden, sondern auch voller Bitternis ist: „amer Amérique“, das „amer“ bereits im Namen des Kontinents Amerika enthalten, oder Amer Eldorado, bitteres Amerika und El Dorado zugleich also, so heißt eine französische Version von Double or Nothing, die im Jahre 1974 erscheint. Von der Presse als das literarische Ereignis des Literaturherbstes 1974 gefeiert, geht dieser ebenfalls typographisch experimentelle Roman mit seinem Verlagshaus, den Editions Stock, nach deren Verkauf an die Gruppe Hachette noch im Jahre 1974 unter und verschwindet bis auf wenige erhaltene Exemplare, die nicht eingestampft wurden, von der Bildoberfläche. Raymond Federman versuchte wenigstens als französischer Dichter wieder nach Frankreich zurückzukehren, ist damit aber zunächst gescheitert. Stattdessen wird er durch die zahlreichen deutschen Übersetzungen seiner zunächst auf Englisch geschriebenen Romane und Essaybände in Deutschland viel bekannter und ist ständig gesehener Gast in Buchhandlungen, auf Lesungen oder bei Rundfunkproduktionen des Bayerischen Rundfunks in München und anderen. Erst zu Beginn des neuen Jahrtausends wächst wieder das Interesse an diesem auch französischen Autor, dessen Werke mittlerweile ins Chinesische, Japanische, Türkische, Rumänische, Serbische, Spanische, Ungarisch und in viele andere Sprachen übersetzt sind. Der Versuch, seinen vergessenen französischen Erstling Amer Eldorado aus dem Vergessen hervorzuholen, mündet in einer re-écriture des Romans mit dem Ergebnis, daß Raymond Federman die erheblich erweiterte und veränderte Fassung Amer Eldorado 2/ 001 vorlegen kann. Der Roman erscheint zunächst in Deutschland auf Französisch, dann aber in Großauflage in Frankreich und führt zur Rückkehr Raymond Federman in seine Heimat als Dichter. Es handelt sich bei diesem Roman um eine andere Version seines Textes und seines Lebens, A Version of My Life - The Early Years (Chicago 1990), so wie er einen seiner Romane betitelte, und so wie er sich immer wieder mit dem Mittel der Stimme und der Sprache einer durch das „Chut! “ der Mutter ausgelöschten Erinnerung zu nähern trachtete. Insgesamt entstehen so mehr als 40 englische Bücher und mehr als 20 französische aus seiner Feder, die zahlreichen Übersetzungen nicht gerech- 135 In memoriam net. „Mentir ou mourir“, es ist ihm damit gelungen, das dichterische ‘Lügen’ wenn schon nicht als Heilmittel, so doch als Überlebensration gegen das Vergessen und den Tod zu betreiben. Jede seiner Lebensäußerungen, jede Frau, die er liebte, jedes Kind, das er zeugte, jedes Glas Champagner, das er trank, jeden Käse, den er zum Rotwein genoß, jedes Gespräch mit Freunden über neue Bücher, all dies waren immer wieder gerne und mit Leidenschaft ausgestreckte „Big Fingers“ gegen die Gestapo und ihre französischen Helfer, die ihm im Jahre 1942 nach dem Leben trachteten. Er liebte François Rabelais, der ihn lehrte, die Widrigkeiten des Lebens als Dummheiten gegen das Leben zu verlachen und damit zu vernichten. Gegen die letzte Widrigkeit seines Lebens, einen Nierenkrebs, den man im Jahre 2008 bei ihm entdeckte, nachdem er vor zwanzig Jahren schon einen anderen überstanden hatte, waren weder das Lachen noch das Schreiben von letzten Büchern (so ein Buch über Samuel Beckett: The Sam Book) ein geeignetes Heilmittel. Seine Tochter Simone las ihm in den letzten Stunden seines Lebens die von ihm bilingual geschriebene Geschichte The Voice in the Closet/ La voix dans le cabinet de débarras (1979), die Erzählung der von seiner Mutter verordneten Gefangenschaft, seinem Überleben und seiner Wiedergeburt im Wandschrank des von der Gestapo heimgesuchten elterlichen Hauses, vor. Er starb nach 67 Jahren dieses zweiten von seiner Mutter geschenkten, mit allen Sinnen genossenen Lebens am 6. Oktober 2009 ganz in der Nähe seines geliebten Golfplatzes in San Diego. „There will be no more books by Samuel Beckett“ schrieb Raymond Federman anläßlich des Todes seines Freundes vor zwanzig Jahren, und heute heißt es „Il n’y aura plus de livres de Raymond Federman.“