eJournals lendemains 36/144

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Narr Verlag Tübingen
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2011
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Balzac und die Volkssouveränität

2011
Stephan Leopold
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13: 05: 42 93 Arts & Lettres Stephan Leopold Balzac und die Volkssouveränität. Chronotopien des Politischen im Cycle Vautrin I In seiner Studie Formen der Zeit im Roman ist Michail Bachtin von der grundlegenden Annahme ausgegangen, daß Zeit im Roman räumlich vermittelt wird, Zeit und Raum im Roman mithin eine Verschränkung in einer spezifischen Raum-Zeit, einem Chronotopos, erfahren. Wesentlich ist dabei, daß Chronotopoi Zeit nicht nur räumlich konfigurieren, sondern ihrerseits der Zeitlichkeit unterworfen sind, in unterschiedlichen Epochen also je unterschiedliche Chronotopoi zum Tragen kommen. Bachtins Ausgangspunkt ist hier der sog. ,Chronotopos des Weges‘. Dieser schlägt sich im romanesken Roman der Antike in einer ‚Abenteuerzeit‘ nieder, die sich gerade dadurch auszeichnet, daß sie von der ‚biographischen Zeit‘ der Figuren entkoppelt ist und nicht auf deren charakterliche Beschaffenheit einzuwirken vermag. 1 Dient der Chronotopos des Weges im hellenistischen Roman damit einer Bestätigung des Unveränderlichen, so gewinnt er im christlichen Abendland eine nunmehr deutlich teleologische Komponente, die zuallererst im Ritterroman - und näherhin bei Chrestien de Troyes - zur Form gerinnt: Die Raum-Zeit ist nun keine leere Zeit mehr, sondern eine Zeit, in der mit der Verräumlichung des Helden im abenteuerlichen Parcours ein christlicher iter spiritualis einhergeht, der zumeist zweifach - in einem doppelten Kursus mit steigernder Reprise - durchlaufen werden muß und an dessen Ende idealiter die Eingliederung des Helden in die höfische Ordnung steht. 2 Das solchermaßen gegebene Moment des Performativen bedingt eine Reihe von Romantypen, die bis zum Anbruch der Moderne das literarische Feld beherrschen werden: Dem Schelmenroman, dem Konversionsroman und dem Bildungsroman eignen gleichermaßen die Eingliederung des Protagonisten in die gesellschaftliche Ordnung. Der Chronotopos des Weges ist dabei wiederum dem christlichen Modell des iter spiritualis anverwandelt - sei’s im ernsten Modus wie im Konversions- oder Bildungsroman, sei’s im Modus der Parodie wie im Schelmenroman. Mit dem Anbruch der Moderne endet diese Struktur nicht einfach. So ist etwa in Stendhals Le rouge et le noir oder in Balzacs großem Diptychon Illusions perdues und Splendeurs et misères des courtisanes die Figur des 1 Michail M. Bachtin, Chronotopos, übers. v. M. Dewey, Frankfurt/ M.: Suhrkamp 2008, 9-36. 2 Vgl. hierzu den grundlegenden Aufsatz von Hugo Kuhn, „Erec“, in ders. u. Christoph Cormeau (eds.), Hartman von Aue, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1973, 17-48, sowie Rainer Warning, „Formen narrativer Identitätskonstitution im höfischen Roman“, in: Odo Macquart u. Karlheinz Stierle (eds.), Identität (Poetik und Hermeneutik VIII), München: Fink, 1979, 553-589, hier insb. 565. 94 Arts & Lettres Doppelweges durchaus von handlungskonstitutiver Bedeutung, wenngleich das Moment der Integration dort bereits mit umgekehrten Vorzeichen - als gescheiterte Integration - realisiert ist. Was die beiden realistischen Romane jedoch vom Ritterroman und seinen Hypostasen grundlegend unterscheidet, ist der Umstand, daß der Weg hier nicht mehr in räumlicher Extension entworfen, sondern wesentlich in Innenräumen konkretisiert wird. Auf diese Verinnerlichung macht Bachtin in den Schlußbemerkungen zu seiner Chronotopos-Studie aufmerksam, wenn er dort feststellt, daß bei Stendhal und Balzac eine für den Ablauf der Romanhandlung „grundsätzlich neue Lokalität“ dominant werde: der Empfangssalon und mit diesem das Interieur überhaupt. Die solchermaßen gegebenen Chronotopien des Interieurs bedingt nun auch eine neuartige Verdichtung des Zeitlichen: Das wichtigste […] ist die Verflechtung des Historischen und Gesellschaftlich-Öffentlichen mit dem Privaten und sogar höchst Privaten, Intimen; die Verflechtung der privaten Alltagsintrige mit der politischen und finanziellen, des Staatsgeheimnisses mit dem Bettgeheimnis, der historischen Reihe mit der alltäglichen und biographischen. Hier sind die anschaulich sichtbaren Merkmale der historischen wie auch der biographischen Zeit verdichtet, kondensiert und gleichzeitig aufs engste miteinander verflochten, zu einheitlichen Kennzeichen der Epoche zusammengeflossen. Die Epoche wird anschaulich und sujethaft sichtbar. Freilich ist der Empfangssalon bei den großen Realisten - bei Stendhal und Balzac - nicht der einzige Ort, an dem sich die zeitliche und räumliche Reihe überschneiden, an dem sich die Spuren des Zeitablaufs im Raum verdichten. Es ist nur einer dieser Orte. Balzacs Fähigkeit, die Zeit im Raum zu »sehen«, war außerordentlich. Es sei nur daran erinnert, in welch bemerkenswerter Weise er Häuser als materialisierte Geschichte darstellt oder wie er Straßen, eine Stadt, eine Dorflandschaft unter dem Aspekt ihres Geprägtseins von Zeit und Geschichte zeigt.3 Bachtin begreift den Chronotopos des Interieurs in zweifacher Hinsicht: Zunächst sieht er das Interieur als einen Ort der Handlung an - und zwar einer Handlung oder Handlungsfolge, die in engem metonymischen Verhältnis zur historischen Reihe steht. In der Intrige verdichtet sich biographische und historische Zeit, ebenso, wie sich die Epoche selbst im Interieur kondensiert. Der Chronotopos des Interieurs erschöpft sich jedoch nicht darin, daß letzteres den Raum für die zeitgeschichtlich verdichtete Handlung darstellt. Das Interieur kann vielmehr - wie Bachtin im zweiten Absatz unseres Passus ausführt - mit seinen Büchern, Gemälden, Möbeln durchaus schon selbst Verdichtung sein und also einen eigenständigen Chronotopos bilden. Den ersten Typus - den Chronotopos einer im Interieur zeitgeschichtlich verdichteten Handlung - finden wir insbesondere bei Stendhal, den zweiten Typus - den Chronotopos einer im Interieur sedimentierten Zeit - bringt Balzac in vielfältiger Weise zum Einsatz. Dieser letztere Typus wird mich in der weiteren Folge interessieren; denn er dient Balzac nicht allein dazu, eine neue postrevolutionäre Zeitlichkeit räumlich anschaulich werden zu lassen, sondern 3 Bachtin, Chronotopos, 185. 95 Arts & Lettres stellt zugleich auch eine Arena des Politischen dar, in der die Frage von Herrschaft, Macht und Souveränität in völlig neuartiger Weise zum Austrag kommt. II Als Ausgangspunkt soll mir die berühmte Beschreibung des Antikenkabinetts in La peau de chagrin (1831) dienen. Von Spielschulden erdrückt sinnt der junge Raphaël de Valentin auf dem Pont des Arts auf Selbstmord. Da er sich jedoch nicht bei Tageslicht in die winterliche Seine stürzen will, begibt er sich, um die Zeit bis zum Einbruch der Dunkelheit zu überbrücken, in ein am Quai de Voltaire gelegenes Antiquitätengeschäft. Letzteres ist ein Paradebeispiel für eine im Interieur sedimentierte Zeit: Hier sind auf vier Etagen Objekte aus allen geschichtlichen Epochen von den Ägyptern bis zur vorrevolutionären Vergangenheit versammelt, Geschichtlichkeit ist mithin als Drängung des gleichermaßen Diskontinuierlichen wie Unwiederbringlichen präsent. Raphaël bestätigt dieser Chronotopos des Geschichtlichen in seinem Wunsch, alsbald aus dem Leben zu scheiden; denn für ihn bezeugt er nur die allgemeine Todesverfallenheit des Lebens. Etwas differenzierter argumentiert der Erzähler, wenn er das Antikenkabinett zum Anlaß für einen Vergleich mit den naturgeschichtlichen Schriften Cuviers nimmt. Dies kommt nicht von ungefähr, denn Cuvier ist es gewesen, der als erster geschichtliches Werden in seiner ganzen Drastik theoretisiert hat und als eine diskontinuierliche Abfolge von Katastrophen begriff, aus deren Vernichtungskataklysmen das Neue entstand: Vous êtes-vous jamais lancé dans l’immensité de l’espace et du temps, en lisant les œuvres géologiques de Cuvier? Emporté par son génie, avez-vous plané sur l’abîme sans bornes du passé comme soutenu par la main d’un enchanteur? En découvrant de tranche en tranche, de couche en couche, sous les carrières de Montmartre ou dans les schistes de l’Oural, ces animaux dont les dépouilles fossilisées appartiennent à des civilisations antédiluviennes, l’âme est effrayée d’entrevoir des milliards d’années, des millions de peuples que la faible mémoire humaine, que l’indestructible tradition divine ont oubliés et dont la cendre entassée à la surface de notre globe y forme les deux pieds de terre qui nous donnent du pain et des fleurs. Cuvier n’est-il pas le plus grand poète de notre siècle? […] Il réveille le néant sans prononcer des paroles artificiellement magiques, il fouille une parcelle de gypse y aperçoit une empreinte et vous crie: Voyez! Soudain les marbres s’animalisent, la mort se vivifie, le monde se déroule! Après d’innombrables dynasties de créatures gigantesques, après des races de poissons et des clans de mollusques arrive enfin le genre humain, produit dégénéré d’un grandiose type, brisé peut-être par le Créateur. Echauffés par son regard rétrospectif, ces hommes chétifs, nés d’hier, peuvent franchir le chaos, entonner un hymne sans fin et se configurer le passé de l’univers dans une sorte d’Apocalypse rétrograde. En présence de cette épouvantable résurrection due à la voix d’un seul homme, la miette dont l’usufruit nous est concédé dans cet infini sans nom, commun à toutes sphères et que nous avons nommé L E T EMPS , cette minute de vie nous fait pitié. Nous nous demandons, écrasés que nous sommes sous tant d’univers en ruine, à quoi bon nos gloires, 96 Arts & Lettres nos haines, nos amours; et si, pour devenir un point intangible dans l’avenir, la peine de vivre doit s’accepter? 4 Für Balzac ist Cuvier der größte Dichter der Gegenwart und das deshalb, weil dieser es vermag, anhand eines einzigen Gipsabdrucks die graue Vorzeit auferstehen zu lassen. Dem Leser Balzacs so vertraute Orte wie der Montmartre werden auf diese Weise mit einem Mal transparent auf bislang unbekannte historische Tiefen: Schier unendliche Dynastien von Dinosauriern, ausgestorbene Riesenfische und Mollusken stehen vor den staunenden Augen des Lesers wieder auf, und bevor er sich’s versieht, wird er auf diese Weise Zeuge einer neu erzählten Schöpfungsgeschichte. Dieses bis dato unvorstellbare Wissen um die älteste Vergangenheit ist aber nicht nur euphorisch besetzt. Es birgt auch eine in hohem Maße dysphorische Dimension in sich, da es den Menschen, der sich doch bislang als Krone der Schöpfung begreifen durfte, als ein „produit dégénéré d’un grandiose type“ ausweist, und ihn demgemäß als ein im Abschwung begriffenes Wesen entwirft. Damit aber nicht genug: Die historische Perspektive läßt das Zeitalter der Menschen zugleich als ephemer erscheinen. Alles, was der Mensch unternimmt, ist winzig und bedeutungslos angesichts dieses ungeheuren, allumfassenden Wandels. Von den Menschen, ihren Leidenschaften und ihrem Ruhm wird ebensowenig bleiben wie von den untergegangenen Mollusken, den Dinosauriern oder den ausgestorbenen Fischarten. Die unerbittliche Zeit, L E T EMPS in Großbuchstaben, tritt damit an die Stelle jenes Gottes, der einst den Menschen in das Zentrum des Universums gestellt hatte. Die Zeit wird alles vernichten, was ist, nichts wird bleiben. Die Welt ist in steter Revolution. Daß die Revolution, die hier als die eigentliche Ermöglichungsfigur des Geschichtlichen zu Tage tritt, nicht bloß eine allgemeine Konstante des historischen Verlaufs darstellt, sondern insbesondere mit dem großen epistemologischen Bruch der Französischen Revolution zusammenzudenken ist, ließe sich bereits an Cuviers naturgeschichtlichen Schriften belegen, die während der Napoleonischen Ära entstehen und die Foucault bekanntermaßen als ein Paradigma der Episteme der Geschichtlichkeit gelten. 5 Für Balzac selbst stellt die Revolution den degré zéro einer dynamisierten Welt dar, in der, wie es im Avant-propos zur Comédie humaine heißt, „un épicier devient certainement pair de France, et le noble descend parfois au dernier rang social.“ (CH I, 4) Gemäß dieser Grundannahme hat man, wie ich denke, auch Balzacs Chronotopien zu lesen, die als Topologien eines durch die Revolution in Gang gesetzten sozialen Wandels immer auch Zeit-Räume des Politischen sind. 4 Honoré de Balzac, La peau de chagrin, in: La Comédie humaine, Bd. X, hg. v. P.-G. Castex u.a. Paris: Gallimard (Pléiade) 1979, 74f. Ich zitiere, sofern nicht anders gekennzeichnet, alle weiteren Romane Balzacs nach der Pléiade-Ausgabe unter der Sigel CH mit Band- und Seitenangabe. 5 Michel Foucault, Les Mots et les Choses. Une archéologie des sciences humaines, Paris: Gallimard 1966, 275-292. 97 Arts & Lettres Ich kann hier partiell an Michael Lucey anschließen, der gezeigt hat, daß der Comédie humaine ein experimentelles Schreiben in dem Sinne eignet, daß Balzac dort in den einzelnen Romanen anhand von devianten Familien- und Paarbeziehungen gerade solche Formen des Sozialen erprobt, die von den jeweiligen politischen Verfassungen nicht abgedeckt sind. 6 Lucey, der sein Augenmerk vorrangig auf Fragen von Gender und Sexualität richtet, übersieht meines Erachtens allerdings eine wesentliche Bezugsgröße und damit die zentrale Aporie der für Balzac maßgeblichen politischen Verfassungen: Daß nämlich diese Verfassungen ihre Legitimation und Macht aus der Figur der Volkssouveränität beziehen, diese in praxi aber leugnen und gerade auf einem Selektionsprinzip basieren, aufgrund dessen ein Großteil des Volkes von der politischen Mitbestimmung ausgeschlossen ist. 7 Es scheint mir daher auch nötig, Luceys These ein Stück weit anders zu perspektivieren und die bei Balzac auffällige Häufung von deviantem Gender auch als das Symptom der verdrängten Volkssouveränität zu lesen. Ich will diese Überlegung im folgenden am Cycle Vautrin plausibilisieren. Die beiden Chronotopien, die ich dabei einläßlich diskutieren möchte, sind die Beschreibungen der Galeries-de-Bois in Illusions perdues (1837-43) und die der Conciergerie in Splendeurs et misères des courtisanes (1838-47). Erstere stellt eine räumliche Verdichtung der Zeit von 1789-1830 dar und steht im Zeichen eines souverän gewordenen, grotesken Volkskörpers. Letztere ist für uns insofern von Interesse, als Balzac die Conciergerie dort zu einer komplexen Topologie ausphantasiert, in der Souveränität wesenhaft mit dem Gefängnis verschwistert ist und sich als die Einschließung der aus dem politischen Meinungsfindungsprozeß Ausgeschlossenen - also des Volks - darstellt. In engem Zusammenhang mit diesen beiden auf den ersten Blick gegenläufigen Chronotopien steht die Verkehrung der überkommenen Gesellschaftsordnung, wie sie in Le père Goriot (1835), dem ersten Roman der Vautrin-Serie, programmatisch durchgespielt wird. Wir haben es dort mit einer Gegenüberstellung eines in ökonomischem wie sozialem Niedergang begriffenen genealogischen pater familias - des bürgerlichen Revolutionsgewinnlers Goriot - und der Emergenz eines symbolischen Ziehvaters - des homosexuellen Superverbrechers Vautrin - zu tun. Der damit verbundene Ablösungsprozeß wird noch deutlicher in Illusions perdues und Splendeurs et misères, wo die grundlegende Vaterlosigkeit korreliert ist mit der gleichsam absoluten Macht des Gegensouveräns Vautrin, der ganz am Ende von Splendeurs et misères als Polizeipräsident von Paris metonymisch an den Platz des Herrschers tritt. Daß man diese Vaterlosigkeit politisch zu lesen und also auf die Souveränitätsproblematik der restaurierten bzw. der bürgerlichen Monarchie zu beziehen hat, möchte 6 The Misfit of the Family. Balzac and the Social Forms of Sexuality, Durham u. London: Duke UP 2003. 7 Die Wahlberechtigung ist an die Höhe der Steuerzahlung gebunden. 1824 beläuft sich der Zensus auf 300 Franc, was bedeutet, daß nur 1% aller Franzosen wahlberechtigt ist. Vgl. Guillaume de Bertier de Sauvigny, La Restauration, Paris: Flammarion 1955, 295ff. 98 Arts & Lettres ich im folgenden Abschnitt an der Verhaftung Vautrins in Le père Goriot beleuchten; denn dort wird in aller Deutlichkeit der Brückenschlag vom verbrecherischen Ziehvater zum Träger der Volkssouveränität geleistet. III Die Volkssouveränität geht aus der Revolution als eine politische Größe hervor, deren Problematik erstmals Sade in seinem 1795 - also im Jahr der ersten republikanischen Verfassung - erschienen Dialogroman La philosophie dans le boudoir konsequent Rechnung getragen hat. In dem in den fünften Dialog eingeschobenen Pamphlet „Français, encore un effort si vous voulez être républicains“ entwirft Sade die Volkssouveränität topologisch, und zwar in Form von Institutionen, in denen der Bürger seine durch die Revolution erlangte „petite souveraineté“ in eroticis despotisch ausagieren kann: [N]ous devons donc […] établir toute la sûreté nécessaire à ce que le citoyen, que le besoin rapproche des objets de luxure, puisse se livrer avec ces objets à tout ce que ses passions lui prescrivent, sans jamais être enchaîné par rien, parce qu’il n’est aucune passion dans l’homme qui ait plus besoin de toute l’extension de la liberté que celle-là. Différents emplacements sains, vastes, proprement meublés et sûrs dans tous les points, seront érigés dans les villes; là, tous les sexes, tous les âges, toutes les créatures seront offerts aux caprices des libertins qui viendront jouir, et la plus entière subordination sera la règle des individus présentés; le plus léger refus sera puni aussitôt arbitrairement par celui qui l’aura éprouvé, je dois encore expliquer ceci, le mesurer aux mœurs républicaines; j’ai promis partout la même logique, je tiendrai parole. Si, comme je viens de le dire tout à l’heure, aucune passion n’a plus besoin de toute l’extension de la liberté que celle-là, aucune sans doute n’est aussi despotique; c’est là que l’homme aime commander, à être obéi, à s’entourer d’esclaves contraints à le satisfaire; or, toutes les fois que vous ne donnerez pas à l’homme le moyen secret d’exhaler la dose de despotisme que la nature mit au fond de notre cœur, il se rejettera pour l’exercer sur les objets qui l’entourent, il troublera le gouvernement. Permettez, si vous voulez éviter ce danger, un libre essor à ces désirs tyranniques qui, malgré lui, le tourmentent sans cesse; content d’avoir pu exercer sa petite souveraineté au milieu du harem d’icoglans ou de sultanes que vos soins et son argent lui soumettent, il sortira satisfait et sans aucun désir de troubler un gouvernement qui lui assure aussi complaisamment tous les moyens de sa concupiscence; exercez, au contraire, des procédés différents, imposez sur ces objets de la luxure publique, les ridicules entraves jadis inventées par la tyrannie ministérielle et par la lubricité de nos sardanapales: l’homme bientôt aigri contre votre gouvernement, bientôt jaloux du despotisme qu’il vous voit exercer tout seul, secouera le joug que vous lui imposez et las de votre manière de le régir, en changera comme il vient de le faire.8 8 D. A. F. de Sade, La philosophie dans le boudoir ou les instituteurs immoraux. Dialogues destinées à l’éducation des jeunes demoiselles, in: Œuvres complètes, Bd. III, hg. v. M. Delon, Paris: Gallimard (Pléiade) 1998, 130f. 99 Arts & Lettres Entscheidend ist hier zunächst der Gedanke, daß der Bürger, indem er mit dem Sturz des Ancien Régime körperlicher Teilhaber an der zuvor durch die Zwei Körper des Königs legitimierten Souveränität geworden ist, 9 zugleich auch die absolute, also jenseits der Gesetze stehende Verfügungsgewalt über seinen Mitmenschen inne haben müsse. 10 In den zur Ausübung dieser souveränen Verfügungsgewalt von der Regierung bereitzustellenden Institutionen soll der Bürger nun seine despotischen Triebregungen - die der Sexualität - völlig ungehindert ausleben können. Die Institutionen werden damit ihrerseits zu Topologien der Souveränität, da ja in ihnen die absolute Herrschaft des Bürgers mit der absoluten Unterworfenheit des Bürgers zusammenfällt. Das ist die erste Pointe von Sades Topologie der Volkssouveränität: Der Bürger kann hier seine tyrannische Begierde souverän ausagieren, die Objekte dieser Handlungen sind indes ihrerseits Bürger. Das damit verbundene Paradoxon ist mit Bedacht gewählt; denn worauf Sade mit seinem Pamphlet zielt, ist weniger die Volkssouveränität als solche, als vielmehr deren Repräsentation durch die Regierung. Letztere hat Rousseau im Contrat social ausdrücklich abgelehnt, da sie die Souveränität, mit der jeder Bürger körperlich verbunden sei, an eine Körperschaft entfremde und damit genau genommen aufhebe. 11 Sades zweite Pointe besteht nun darin, daß er die von der Regierung einzurichtenden sado-masochistischen Institutionen bewußt als kompensatorische Heterotopien für die an die Regierung entfremdete Volkssouveränität ausstellt. 12 Der Grund, weshalb die Regierung gehalten sei, diese Heterotopien einzurichten, ist nämlich der, daß auf diese Weise der Bürger seine Souveränität gerade nicht mehr politisch einfordern und damit das Handlungsmonopol der Regierung nicht in Frage stellen werde. 9 Die Vorstellung einer körperlich gedachten Volkssouveränität geht auf Rousseau zurück. Im Contrat social heißt es diesbezüglich von der volonté générale: „Chacun de nous met en commun sa personne et toute sa puissance sous la suprême direction de la volonté générale; et nous recevons en corps chaque membre comme partie indivisible du tout“. Du Contrat social, I.4, in: Œuvres complètes, Bd. III, hg. v. B. Gagnebin u. M. Raymond, Paris: Gallimard (Pléiade) 1951, 361. Kurs. i. Orig. 10 Zur Zwei-Körper-Lehre s. grundlegend Ernst H. Kantorowicz, The King’s Two Bodies. A Study in Mediaeval Political Theology, Princeton/ N.J.: Princeton UP 1957. Die sich aus der Zwei-Körper-Lehre ableitende Verfügungsgewalt über den Körper des Untertanen hat Michel Foucault anhand der öffentlichen Marter unter Ludwig XV. belegt. Vgl. Surveiller et punir. Naissance de la prison, Paris: Gallimard 1975, 37ff. 11 Unter der Überschrift „La souveraineté est inaliénable“ bringt Rousseau diesen Aspekt folgendermaßen zum Ausdruck: „Je dis donc que la souveraineté n’étant que l’exercice de la volonté générale ne peut jamais s’aliéner, et que le souverain, qui n’est qu’un être collectif, ne peut être représenté que par lui-même.“ Rousseau, Contrat social, II.1, 368. 12 Den Begriff der „hétérotopie […] de compensation“ hat Michel Foucault ursprünglich an der Kolonie entwickelt, da diese mit ihrer perfekten in sich abgeschlossenen Ordnung für das chaotische und unkontrollierbare Moment des besetzten Landes aufkommt. Vgl. „Des espaces autres“ (1984), in: Dits et écrits II, 1976-1988, hg. v. D. Defert u. F. Ewald, Paris: Gallimard (Quarto) 2001, 1570-1581. Hier 1580. 100 Arts & Lettres Wie man sieht, benennt Sade in seinem Pamphlet zwei wesentliche Problemlagen der Volkssouveränität: Zum einen das Verhältnis des Bürgers zur Souveränität, die man als Spitze gegen den Rousseauschen Korporationsoptimismus lesen darf, 13 zum anderen das Verhältnis des souveränen Bürgers zu einer Regierung, die diese Souveränität repräsentatorisch inne hat. Der Verbrecher, wie ihn Balzac mit der Figur des Vautrin entwirft, ist hier in beiderlei Hinsicht relevant; denn indem er über den Körper seiner Mitbürger verfügt, stellt er das Gewaltmonopol der Regierung in Frage. Er ist mithin ein Bürger, der seine „petite souveraineté“ nicht an eigens für ihn eingerichteten Enklaven ausagieren will, sondern sich in seinem Tun in der Tat gegen die Regierung richtet. Dies gilt umso mehr als der Verbrecher gemeinhin der proletarischen Klasse entstammt und damit eben jener großen sozialen Schicht angehört, die aufgrund ihres Mangels an Besitz weder über passives noch aktives Wahlrecht verfügt und demzufolge von jeder Teilhabe am Politischen ausgeschlossen ist. Wir begegnen Jacques Collin alias Vautrin erstmals in Le père Goriot, wo er in der Pension der Madame Vauquer unter der Maske des braven Bürgers und Rentiers im Geheimen seinen Geschäften nachgeht. Collin ist schon deshalb mehr als ein Verbrecher, weil er als Bankier und General seiner inhaftierten Kollegen fungiert. Er verwaltet deren Beute, organisiert Fluchten und - was noch wichtiger ist - er ist der absolute Herr über Leben und Tod. Seinen Anhängern gilt er daher auch als „leur drapeau, leur soutien, leur Bonaparte enfin“ (CH III, 208). Bedenkt man, daß Le père Goriot während der Restauration angesiedelt ist, wird dieser Dreischritt umso sinnfälliger: Als Bonaparte des Verbrechens ist Vautrin der Statthalter einer Flagge, hinter der sich unschwer die Trikolore erkennen läßt. Der gleichsam souveränen Macht dieses Bonaparte des Verbrechens muß nun der Aufsteiger Rastignac gewärtig werden; denn Vautrin bietet dem jungen Mann eine seinen Aufstiegsplänen gemäße Ehe mit der verstoßenen Tochter des unermeßlich reichen Monsieur de Taillefer an. Damit nun aber Mademoiselle de Taillefer als Erbin ihres Vaters eingesetzt werden kann, muß dessen Sohn zuerst sterben. Vautrin läßt daher den arroganten jungen Mann in ein Duell locken, das diesen das Leben kostet, und Rastignac könnte jetzt - würde er den Bund mit Vautrin eingehen - auf einen Schlag ein gemachter Mann sein. Doch soweit kommt es nicht. Zwei in der Pension Vauquer untergebrachte Polizeispitzel verraten Vautrin, und noch am Nachmittag des Duells wird er verhaftet. Von Interesse ist für uns in diesem Zusammenhang nun die Demaskierung Vautrins, die aus einer doppelten Perspektive heraus erfolgt. Zunächst kommt der Erzähler zu Wort, der im Modus der Nullfokalisierung über Collin alias Vautrin folgendes zu sagen hat: 13 Sade rekontextualisiert hier das Rousseausche Vernunftprinzip unter Abzug der vertu. Vgl. hierzu Contrat social I.7, 363: „Or le Souverain n’étant formé que des particuliers qui le composent n’a ni peut avoir d’intérêt contraire au leur; par conséquent la puissance Souveraine n’a nul besoin de garant envers les sujets, parce qu’il est impossible que le corps veuille nuire à tous ses membres, et nous verrons ci-après qu’il ne peut nuire à aucun en particulier. Le Souverain, par cela seul qu’il est, est toujours tout ce qu’il doit être.“ 101 Arts & Lettres Le bagne avec ses mœurs et son langage, avec ses brusques transitions du plaisant à l’horrible, son épouvantable grandeur, sa familiarité, sa bassesse, fut tout à coup représenté […] par cet homme, qui ne fut plus un homme, mais le type toute d’une nation dégénérée, d’un peuple sauvage et logique, brutal et souple. En un moment Collin devint un poème infernal où se peignirent tous les sentiments humains, moins un seul, celui du repentir. Son regard était celui d l’archange déchu qui veut toujours la guerre. (CH III, 219) Wenn das Gefängnis und dessen Insassen hier im Zeichen von „brusques transitions du plaisant à l’horrible“ entworfen werden, so weist dies unmißverständlich auf Hugos romantisches Theaterkonzept in der Préface de Cromwell (1827) zurück, wo ja die Wirklichkeit als unausgesetztes Wechselspiel von Sublimem und Groteskem begriffen wird. Das Moment des Grotesken bei Hugo ist dabei insofern von politischer Sprengkraft, als es sich gegen die sublimen, geschlossenen Formen der Kunst des Ancien Régime und damit implizit gegen die Wiedererrichung des Absolutismus in der zweiten Phase der Restauration unter Karl X. richtet. Das Groteske, das Hugo in der volkstümlichen Literatur und Kunst des Mittelalters erkennt, ist aber nicht nur die dialektische Antithese zum Sublimen der vom Absolutismus geprägten französischen Klassik, sondern zugleich auch Ausdruck des Göttlichen: Wo das Sublime in seiner eindimensionalen Schönheit nur die beschränkte menschliche Ordnung abzubilden vermag, überschießt das Groteske und Häßliche durch seine unvorhersehbare Vielfältigkeit die menschliche Ordnung und verweist solchermaßen auf die göttliche Schöpfung selbst. 14 Hugos romantisches Theaterkonzept ist ein Gegenentwurf zu Chateaubriands aristokratisch-restauratorischer Naturromantik; denn wo dieser die Abtei von Saint Denis und damit die Weihestätte der französischen Monarchie mitsamt dem Gottesgnadentum wiedererrichtet sehen will, 15 geht es jenem um eine strategische 14 „Le beau n’a qu’un type; le laid en a mille. C’est que le beau, à parler humainement, n’est que la forme considérée dans son rapport le plus simple, dans sa symétrie la plus absolue, dans son harmonie la plus intime avec notre organisation. Aussi nous offre-t-il toujours un ensemble complet, mais restreint comme nous. Ce que nous appelons le laid, au contraire, est un détail d’un grand ensemble qui nous échappe, et qui s’harmonise non pas avec l’homme, mais avec la création tout entière. Voilà pourquoi il nous présente sans cesse des aspects nouveaux, incomplets.“ Victor Hugo, Théâtre complet, Bd. I, Paris: Gallimard (Pléiade) 1963, 420f. 15 Vgl. in diesem Sinne das Vorwort zur zweiten Ausgabe des Génie du christianisme (1826): „Ce fut donc, pour ainsi dire, au milieu des débris de nos temples que je publiai le Génie du christianisme, pour rappeler dans ces temples les pompes du culte et les serviteurs des autels. Saint Denis était abandonné […]. Remplis des souvenirs de nos antiques mœurs, de la gloire et des monuments de nos rois, le Génie du christianisme respirait l’ancienne monarchie tout entière: l’héritier légitime était pour ainsi dire caché au fond du sanctuaire dont je soulevais le voile, et la couronne des Saint-Louis, suspendue audessus de l’autel du Dieu de Saint-Louis. Les Français apprirent à porter avec regret leur regard sur le passée; les voies de l’avenir, et des espérances presque éteintes se ranimèrent.“ François René de Chateaubriand, Essai sur les révolutions/ Le Génie du christianisme, hg. v. M. Regard, Paris: Gallimard (Pléiade) 1978, 459f. 102 Arts & Lettres Sakralisierung des Grotesken und damit um eine Legitimation des Volkstümlichen als antithetischer Kraft zur aristokratischen Ordnung. In diesem Sinne ist nun auch Balzacs Gefängnisbeschreibung romantisch. Die „brusques transitions du plaisant à l’horrible“ sowie die mit „bassesse“ gemischte „épouvantable grandeur“ des Gefängnisses sind für sich genommen bereits Ausdruck grotesker Antithetik. Darüber hinaus stellt das Gefängnis aber zugleich auch eine groteske Exklave dar: Es ist zum einen ein Ort der Ausschließung, an dem das in der restaurierten Ordnung nicht Assimilierbare stillgestellt werden soll, zum anderen ist es aber auch ein Überschuß, der in seiner tausendfältigen Häßlichkeit - dies eine Formulierung Hugos - auf groteske Weise antithetisch zu der gleichermaßen eindimensionalen wie begrenzten Ordnung des restaurierten Absolutismus steht. 16 Eben diese Antithetik wird nun von Vautrin in gleichsam kondensierter Form verkörpert. Er ist das absolute Andere: Nicht nur stellt sein Gesicht einen „poème infernal“ dar; auch wird er selbst dem gefallenen, sich mit Gott in dauerhaftem Kriegszustand befindlichen Erzengel Luzifer anverwandelt. Verkörpert er ferner - und das führt uns zu der oben diskutierten Cuvier-Stelle zurück - eine groteske „nation dégénérée“, so ist damit das von der absoluten Monarchie abgefallene, republikanische Frankreich gemeint, welches hier - wiederum über die metonymische Bezugsetzung zu Vautrin - im Zeichen des Sündenfalles angesiedelt wird. Die Gegenspieler sind auf diese Weise einigermaßen klar benannt: Auf der einen Seite Gott, der König, das Gesetz - und also die auf dem Gottesgnadentum neu errichtete Monarchie -, auf der anderen Seite Vautrin, ein zweiter Luzifer und Bonaparte des Verbrechens. Kurz: absolute Monarchie und Volkssouveränität. Wenn der Erzähler damit eine auf den ersten Blick mit den Werten der Restauration konforme Sicht vertritt, so ist es an Vautrin selbst, diese Sicht durch die eigene Position zu konterkarieren. Dies tut er, indem er sich auf die Solidarität der von jeder politischen Teilnahme Ausgegrenzten bezieht und sein verbrecherisches Tun expressis verbis in die Nachfolge Rousseaus rückt: Là-bas, ils vont tous se mettre l’âme à l’envers pour faire évader leur général, ce bon Trompe-la-Mort! Y a-t-il un de vous qui soit, comme moi, riche de plus de dix mille frères prêts à tout faire pour vous? demanda-t-il avec fierté. […] Il fit une pause en contemplant les pensionnaires. - Etes-vous bêtes, vous autres! n’avez-vous jamais vu de forçat? Un forçat de la trempe de Collin, ici présent, est un homme moins lâche que les autres, et qui proteste contre les profondes déceptions du contrat social, comme dit Jean-Jacques, dont je me glorifie d’être l’élève. Enfin je suis seul contre le gouvernement avec son tas de tribunaux, de gendarmes, de budgets, et je les roule. (CH III, 220) Vautrin begreift sich hier als ein Volksheld, der sich des absoluten Gehorsams seiner „dix-mille frères“ sicher sein kann. Als General der Infamen ist er zugleich ein Mann, der sich nicht feige in die bestehenden Verhältnisse fügt, sondern mit seinem Tun gegen den enttäuschenden postrevolutionären Gesellschaftsvertrag protestiert. Als Schüler Rousseaus tritt er gegen die Regierung und ihre Organe an 16 Vgl. Anm. 14. 103 Arts & Lettres und entwirft sich auf diese Weise als die Verkörperung eines Volks, das sich gegen die Abtretung der Souveränität an den „gouvernement“ wendet. Vautrin wird damit zu einem Gegensouverän, der der auf Klassenerhalt zielenden Politik der Regierung den Krieg erklärt hat. Sein Werdegang wird diese Dynamik bestätigen. IV Nun weiß man, daß Balzac Legitimist gewesen und also durchaus für die zur Entstehungszeit des Père Goriot bereits abgesetzte Bourbonen-Monarchie eingetreten ist. Dieser biographischen Dimension, die sich auch immer wieder in den Erzählerkommentaren der Comédie humaine niederschlägt, stehen - auch das ist hinlänglich bekannt - die Texte selbst insofern entgegen, als sie soziale Mobilität und nicht zuletzt das Verbrechen als Ausprägungen exzessiven Vitalismus literarisch feiern. 17 Für die uns hier beschäftigende Frage nach den Chronotopien des Politischen ist in diesem Zusammenhang jene in Illusions perdues eingelassene, sich über gut zehn Seiten erstreckende Beschreibung der Galeries-de-Bois von besonderem Interesse. Es handelt sich bei den Galeries-de-Bois um eine aus hölzernen Buden bestehende Galerie, die sich bis 1830 im Palais Royal an jener Stelle befand, wo heute eine Kolonnade den Innenhof des Palasts vom Garten abtrennt. Für den Plot von Illusions perdues sind die Galeries-de-Bois schon deshalb von Bedeutung, weil sich dort neben Modegeschäften, Kuriositätenkabinetten und Buchhandlungen mit der Librairie Ladvocat auch ein Zentrum des Verlagswesens befindet, in dem der junge Dichter Lucien Chardon alias de Rubempré seine Werke anbieten will. Ist der Besuch der Galeries-de-Bois damit handlungslogisch motiviert, so überschießt die extensive Beschreibung der Lokalität dennoch deutlich ihre handlungslogische Motivation. Die Beschreibung stellt einen von der Handlung entkoppelten Text dar, der seiner Funktion nach ein Chronotopos sedimentierter Zeit ist. Dies zeigt sich bereits zu Beginn der Schilderung: A cette époque les Galeries-de-Bois constituaient une des curiosités parisiennes les plus illustres. Il n’est pas inutile de peindre ce bazar ignoble; car, pendant trente-six ans, il a joué dans la vie parisienne un si grand rôle, qu’il est peu d’hommes âgés de quarante ans à qui cette description incroyable pour les jeunes gens, ne fasse encore plaisir. En place de la froide, haute et large galerie d’Orléans, espèce de serre sans fleurs, se trouvaient des baraques, ou, pour être plus exact, des huttes en planches, assez mal couvertes, petites, mal éclairées sur la cour et, sur le jardin par des jours de souffrances appelés croisées, mais qui ressemblaient aux plus sales ouvertures des guinguettes hors barrière. Une triple rangée de boutiques y formait deux galeries, hautes d’environ douze pieds. Les boutiques sises au milieu donnaient sur les deux gale- 17 Vgl. hierzu Rainer Warning, „Der Chronotopos Paris bei den ,Realisten‘“, in: ders., Die Phantasie der Realisten, München: Fink 1999, 269-312. Hier 283. Sowie Thomas Stöber, Vitalistische Energetik und literarische Transgression im französischen Realismus-Naturalismus. Stendhal, Balzac, Flaubert, Zola, Tübingen: Narr, 2006. Hier insb. 11-27. 104 Arts & Lettres ries dont l’atmosphère leur livrait un air méphitique, et dont la toiture laissait passer peu de jour à travers des vitres toujours sales. […]. (CH V, 355f.) Die Schilderung wird hier auf zweierlei Weise begründet: Zum einen über die geschichtliche Bedeutung der Galeries-de-Bois, zum anderen aufgrund deren Untergangs. Geschichtlich bedeutend sind die Galeries-de-Bois, weil sie vom Revolutionsjahr 1789 bis zur Julimonarchie existierten und in dieser Zeit „un si grand rôle“ spielten. Den Untergang der Galeries-de-Bois scheint der Erzähler zu bedauern, doch steht dieses Bedauern zunächst in augenfälligem Gegensatz zu der Charakterisierung des „bazar ignoble“. Es ist vor allem das Wortfeld des Häßlichen und Schändlichen, das hier in paradigmatischer Reihung aktiviert wird. Die solchermaßen ostentativ vollzogene Negativierung verkehrt sich jedoch in ihr Gegenteil, wenn es von der noch heute im Palais befindlichen, nach 1830 im klassischen Stil errichteten Galerie d’Orléans heißt, sie sei „froide, haute“ und eine „espèce de serre sans fleurs“; denn damit werden die Galeries-de-Bois gegenüber der gleichermaßen steinernen wie sterilen Galerie d’Orléans implizit als vitale Örtlichkeit aufgewertet. Man hat daher, wie ich meine, das den Galeries-de-Bois beigestellte Epitheton „ignoble“ nicht nur im Sinne von Häßlichkeit und Schändlichkeit zu lesen, sondern auch in einem etymologischen Sinne als ,nicht aristokratisch‘ zu verstehen. Die Vitalität der Holzgalerien speist sich gerade aus ihrem plebejischen Ursprung, während die dem Namen nach aristokratische, ursprünglich mit einem hohen Glasdach versehene Galerie d’Orléans zwar wie ein Treibhaus aussieht, indes keine Blüten treibt. Bedenkt man schließlich, daß das Wappen des Hauses Orléans ebenso wie das der Bourbonen von Lilien geziert ist, so wird man die Absenz von Blumen in der Galerie d’Orléans nicht zuletzt auch als die Sterilität der Julimonarchie zu deuten haben. 18 Letzteres gilt umso mehr, als im Umfeld der Galeries-de-Bois eine völlig neue Fauna gedieh: Là donc, se trouvait un espace de deux ou trois pieds où végétaient les produits les plus bizarres d’une botanique inconnue à la science, mêlés à ceux de diverses industries non moins florissantes. Une maculature coiffait un rosier, en sorte que les fleurs de rhétorique étaient embaumées par les fleurs avortées de ce jardin mal soigné, mais fétidement arrosé. Des rubans de toutes les couleurs ou des prospectus fleurissaient dans les feuillages. Les débris de modes étouffaient la végétation: vous trouviez un nœud de rubans sur une touffe de verdure, et vous étiez déçu dans vos idées sur la fleur que vous veniez admirer en apercevant une coque de satin qui figurait un dahlia. Du côté de la cour, comme du côté du jardin, l’aspect de ce palais fantasque offrait toute ce que la saleté parisienne a produit de plus bizarre: des badigeonnages lavés des plâtras refaits, de vielles peintures, des écriteaux fantastiques. Enfin le public parisien salissait énormément les treillages verts, soit sur le jardin, soit sur la cour. Ainsi, des deux côtés, une bordure infâme et nauséabonde semblait défendre l’approche des 18 Zur monarchischen Dimension des Blumenbildes bei Balzac vgl. Judith Frömmer, „Blüten, die das Leben treibt, oder: wie die Lilie vom Tal ins Knopfloch wanderte“, in: Stephan Leopold/ Dietrich Scholler (eds.), Von der Dekadenz zu den neuen Lebensdiskursen. Französische Literatur und Kultur von Sedan bis Vichy, München: Fink 2010, 99-124. Hier insb. 103ff. 105 Arts & Lettres Galeries aux gens délicats; mais les gens délicats ne reculaient pas plus devant ces horribles choses que les princes des contes de fées ne reculaient pas plus devant les dragons et les obstacles interposés par un mauvais génie entre eux et les princesses. (CH V, 356) Wir haben uns zwischen den Rückseiten der Galerie und den grünen Gittern eine Art Vorgarten, einen „jardin mal soigné“ vorzustellen, der zwar mit Abwässern gegossen wird, jedoch einige Elemente des Gartens - „végétation“, „feuillages“, „une touffe de verdure“, ja sogar „un rosier“ aufweist. Auf diesen Elementen der Natur ,wachsen‘ nun Reste - „débris“ - der Kultur. Abfallstoffe zieren wie ein Hut den Rosenbusch, ebenso wie die „fleurs rhétoriques“ der Literatur von den abgetriebenen Blumen des Vorgartens gleichsam einbalsamiert zu werden scheinen. Prospekte und Bänder aller Farben blühen auf dem Blattwerk, Modereste ersticken die Vegetation, und so mancher mag im Vorbeigehen eine Seidenschleife für die Blüte einer Dahlie halten. Die Beschreibung der Vorgärten ist für uns nicht nur deshalb interessant, weil sich hier Natur und Kultur in einer grotesk-romantischen coincidentia oppositorum befinden. Es ist der Abfall, der entscheidend ist: Die in den Vorgärten angelagerten Modereste, Bücherseiten, Warenprospekte sind Abfall der kapitalistischen Kulturrevolution und als solcher bereits ein Indikator für die chronotopische Funktion der Galeries-de-Bois. 19 Hier sedimentieren sich nicht mehr wie noch im Antikenkabinett Gegenstände von kulturgeschichtlichem Wert, sondern solche Dinge, die in der kapitalistischen Ökonomie keinen Wert mehr haben. Der Hinweis auf die wertlosen „fleurs rhétoriques“ ist in diesem Zusammenhang von mehrfacher Bedeutung. Zunächst wird damit deutlich, daß Literatur nicht mehr, wie noch im Ancien Régime, ein Bildungsgut ist, das man in Bibliotheken sammelt und also auf Überzeitlichkeit abstellt, sondern als Gebrauchs- und Verbrauchsliteratur ein Produkt darstellt, dem sein Verfallsdatum immer schon eingeschrieben ist. Die zweimalige Nennung des „ruban“ scheint mir dabei nicht dem Zufall geschuldet. Es wachsen so nämlich nicht nur Bänder auf Blattwerk, es ist auf diese Weise auch der von Lucien ersehnte aristokratische Name de Rubempré in depravierter Form angespielt. Nimmt man hinzu, daß Lucien in den Galeries-de-Bois einen Gedichtband mit Namen Marguerites an den Mann bringen will, so gewinnt die Beschreibung der Vorgärten eine gleichsam proleptische Dimension: Als „fleurs rhétoriques“ werden die Marguerites diesen Vorgarten zieren und der ersehnte, durch den Dichterruhm 19 Ich entlehne den Begriff der kapitalistischen Kulturrevolution Fredric Jameson, der davon ausgeht, daß diese für die Herausbildung des Realismus insofern verantwortlich ist, als mit ihr die vorgängigen, ,feudalen‘ Symbolregister zusammenbrechen: „We will […] suggest that realism is to be grasped as a component in a vaster historical process that can be identified as no other than the capitalist […] cultural revolution itself […]: namely the moment in which an entire last surviving feudal “world” (power, culture, economic production, space, the psychic subject, the structure of groups, the Imaginary) is systematically dismantled in order for a radically different one to be set in place“. „The Existence of Italy“, in: ders., Signatures of the Visible, London u.a.: Routledge 1992, 155-229. Hier 164. 106 Arts & Lettres zu erwirkende Name de Rubempré am Ende nichts als wertlose Bänder auf stinkendem Blattwerk sein. 20 In der kapitalistischen Ökonomie der Galeries-de- Bois haben die Residuen des Ancien Régime - sei’s die hohe Literatur, sei’s ein aristokratischer Name - nur noch Platz auf dem Abfallhaufen. Folglich sind auch die „gens délicats“ nicht mehr delikat, sondern mischen sich unter jene „foule“, die sich an den „horribles choses“ der Buden ergötzt. Läßt sich bereits jetzt erkennen, daß die Galeries-de-Bois einen Chronotopos der kapitalistischen Kulturrevolution darstellen, so markieren ihr Anfang - „la Révolution de 1789“ - und ihr Ende - „la Révolution de 1830“ - (CH V, 357) einen Zeitraum des Wandels und der Diskontinuität. Die räumliche Situierung dieses Chronotopos der Diskontinuität ist dabei maßgeblich; denn der 1627-29 im Auftrag von Richelieu erbaute Palais Royal stellt für sich genommen ein Monument absolutistischer Kontinuität dar. Es bildet jedoch in unserer Beschreibung nur noch den Rahmen für die Galeries-de-Bois, die - als „république“ (CH V, 358) ausgewiesen - den einstmals abgeschlossenen königlichen Innenraum in eine öffentliche Sache verwandeln. In diesem Zusammenhang ist es nur sinnfällig, wenn sich die Börse gleich gegenüber dem Palais befindet und die Spekulanten sich zu ihren Geschäftsabschlüssen vorzugsweise in den Galeries-de-Bois treffen: Die Börse ist nicht nur der Motor des Industriekapitalismus, sondern eben auch die Ermöglichungsstruktur jenes sozialen Wandels, der die Stratifikation der aristokratischen Ordnung untergräbt. Dessen Beiprodukt sind die „filles de joie“, die in Massen in das expandierende Paris strömen und am Abend die Galeries-de-Bois besiedeln. Als filles publiques stehen sie metonymisch zur Republik des Geldes: Sie sind eine öffentliche Sache und gehören jedem, der sie bezahlt. Sie sind es auch, die das königliche Palais gänzlich demokratisieren; bezeichnen sie doch ihre nächtliche Tätigkeit im Sinne einer Aneignungsformel als „faire son Palais“: La poésie de ce terrible bazar éclatait à la tombée du jour. De toutes rues adjacentes allaient et venaient grand nombre de filles qui pouvaient s’y promener sans rétribution. De tous les points de Paris, une fille de joie accourait faire son Palais. Les Galeries-de- Pierre appartenaient à des maisons privilégiées qui payaient le droit d’exposer des créatures habillées comme des princesses, entre telle ou telle arcade, et à la place correspondante dans le jardin; tandis que les Galeries-de-Bois étaient pour la prostitution un terrain public, le Palais par excellence, mot qui signifiait alors le temple de la prostitution. Une femme pouvait y venir, en sortir accompagnée de sa proie, et l’emmener où bon lui semblait. Ces femmes attiraient donc le soir aux Galeries-de-Bois une foule si considérable qu’on marchait au pas, comme à la procession ou au bal masqué. Cette lenteur, qui ne gênait personne, servait á l’examen. Ces femmes avaient une mise qui n’existe plus; la manière dont elles se tenaient décolletées jusqu’au milieu du dos, et très bas aussi par devant; leurs bizarres coiffures inventées pour attirer les regards. Celle-ci en Cauchoise, celle-là en Espagnole; l’une bouclée come un caniche, l’autre en bandeaux lisses; leurs jambes serrées par des bas blancs et montrées on ne sait comment, mais toujours à propos, toute cette infâme poésie est perdue. La licence des 20 Zur proleptischen Funktion von Beschreibungen s. Philippe Hamon, „Qu’est-ce qu’une description“, in: Poétique 12 (1972), 465-485. Hier insb. 483. 107 Arts & Lettres interrogations et des réponses, ce cynisme public en harmonie avec le lieu ne se retrouve plus, ni au bal masqué, ni dans les bals si célèbres qui se donnent aujourd’hui. C’était horrible et gai. La chair éclatante des épaules et des gorges étincelait au milieu des vêtements d’hommes presque toujours sombres, et produisait les plus magnifiques oppositions. Le brouhaha des voix et le bruit de la promenade formaient un murmure qui s’entendait dès le milieu du jardin, comme une basse continue brodée des éclats de rires des filles ou des cris de quelque rare dispute. Les personnes comme il faut, les hommes les plus marquants y étaient coudoyés par des gens á figure patibulaire. Ces monstrueux assemblages avaient je ne sais quoi de piquant, les hommes les plus insensibles étaient émus. Aussi tout Paris est-il venu là jusqu’au dernier moment; il s’y est promené sur le plancher de bois que l’architecte a fait au-dessus des caves pendant qu’il les bâtissait. Des regrets immenses et unanimes ont accompagné la chute de ces ignobles morceaux de bois. (CH V, 360f.) Wenn die Beschreibung der Galeries-de-Bois mit dieser Feier der nächtlichen Prostitution schließt, wird das kapitalistische Paris einem riesigen Bordell anverwandelt und in seiner Diskontinuität zur Gegenwart emphatisch bejaht. Mehr noch: Wenn der Gegensatz von dunkler Männerkleidung und weißen Frauenschultern und -Büsten „les plus magnifiques oppositions“ hervorbringt und diese Antithetik im Hugoschen Sinne als „horrible et gai“ ausgewiesen wird, dann erweist sich der Chronotopos der Diskontinuität, als der die Galeries-de-Bois hier modelliert sind, auch als ein Zeit-Raum des Romantischen. Allerdings nicht jenes rückwärtsgewandten Romantischen, für das Lucien mit seiner Margaritendichtung und seinem Walter Scott nachempfundenen Roman L’archer de Charles IX steht. Die chronotopische Schilderung der Galeries-de-Bois gehorcht vielmehr einem Romantikverständnis, das der ewig neuen Mischung der dynamisierten Gesellschaft Rechnung trägt und diese Mischung euphorisch feiert. Diese Mischung - der vitale, groteske Volkskörper, der keine Klassengrenzen mehr kennt - steht in diametralem Gegensatz zu den kalten steinernen Mauern des absolutistischen Palais Royal. Als metonymische Metapher für die Regierungsform der Restaurationszeit stellt der Palais Royal den Rahmen für die Galeries-de- Bois dar, doch vermag dieser sublime Rahmen den grotesken Volkskörper nicht mehr zu bändigen. In diesem Sinne eignet der Gegenüberstellung von Palais Royal und den republikanischen Holzgalerien denn auch die gleiche Antithetik, wie ich sie an der Rede Vautrins in Le père Goriot zu zeigen versucht habe. Wie Vautrin steht die Welt der Holzgalerien im Zeichen des Sündenfalls und ebenso wie dort ist dieser Sündenfall mit Republik und Volkssouveränität verschwistert. Der Verbrecher, die filles publiques und das Geld der Börse bilden dabei eine semantische Reihe, da sie auf je unterschiedliche Weise die Klassengrenzen nivellieren. An der Börse kann jeder reich werden, mit einer fille publique kann jeder schlafen; zugleich eignet sich die fille publique im Gestus des faire son Palais aber den einst der Aristokratie vorbehaltenen Ort in dem Maße an, wie sich der Verbrecher nach Belieben fremder Wertgegenstände bemächtigt. Verbrecher, Börsengeld und Prostituierte sind austauschbare Signifikanten eines stetigen, enthierarchisierenden Austausches, einer Dynamik latenter Entropie. Es ist dies aber gerade nicht 108 Arts & Lettres diejenige Entropie, wie sie Sade in seinem Pamphlet „Français, encore un effort si vous voulez être républicains“ entworfen hat. Die Galeries-de-Bois sind keine sadomasochistische Topologie der Volkssouveränität, keine Enklave. Vor allem aber sind sie keine Heterotopie, die kompensatorisch für einen Mangel in der Homotopie aufkommen muß. Zwar stellen sie einen zur Homotopie der Stadt gegenläufigen heterotopischen Erfahrungsraum dar, doch greifen sie auf die Homotopie und deren Ordnung insofern aus, als sie diese affizieren, unterminieren und letzen Endes aufheben. 21 Das faire son Palais der Prostituierten ist in diesem Sinne ein performativer Sprechakt, der für die Galeries-de-Bois als ganzes gilt. Umso größer ist das Bedauern des Erzählers über das Verschwinden der Galeries-de-Bois. Die Dysphorie des Erzählers richtet sich auf die Gegenwart der Julimonarchie. Die Galerie d’Orléans ist kalt und steril und damit eben um jenen Vitalismus gebracht, der die Jahre von der Revolution bis 1830 kennzeichnet und der die Revolution von 1830 erst ermöglicht hat. Aus dem Bedauern des Erzählers über die vertane revolutionäre Chance spricht mithin eine ähnliche Enttäuschung wie diejenige, die Vautrin bei seiner Verhaftung im Père Goriot zum Ausdruck gebracht hat. 22 In diesem Sinne wird man die Schilderung der für immer untergegangenen Galeries-de-Bois letzten Endes wohl auch als eine literarische Heterotopie begreifen müssen: Sie ist ein Ort, den es nicht (mehr) gibt und den es nur in Balzacs Roman gibt. Als „espace autre“ ist sie ein Ort auktorialer Glückserfahrung 23 : Hier kann Balzac die Hugosche Poetik ausphantasieren, hier besitzt er die erzählerische Macht, ein souveränes Volk zu entwerfen, das im Begriff ist, die Residuen absolutistischer Herrschaft zu überwinden. V Lassen sich die Galeries-de-Bois als ein heterotopischer Chronotopos der Volkssouveränität lesen, so besteht der Chronotopos, dem ich mich abschließend zuwenden möchte, in der Verschränkung von monarchischer Souveränität und Gefängnis. Gemeint ist die Conciergerie, deren Beschreibung und historische Situierung in der zweiten Hälfte von Splendeurs et misères des coutrisanes großen Raum einnimmt. Balzac kommt auf sie erstmals zu Beginn des III. Buchs in einer Reihe von Kapiteln zu sprechen, die unter den hyperbolischen Titel „Histoire historique, archéologique, biographique, anecdotique et physiologique du Palais de 21 Sie bergen damit auch jenes Moment in sich, das Jurij M. Lotman als ,ereignishaft‘ und also revolutionär bezeichnet hat. Zur ereignishaften Tilgung eines Teilraumes A durch einen Teilraum B vgl. „Zur Metasprache typologischer Kulturbeschreibung“, in: ders., Aufsätze zur Theorie und Methodologie der Literatur und Kultur, Kronberg: Scriptor 1974, 338-377. 22 Auf die Analogie zwischen Balzac und Vautrin ist ausführlich Alfred Glauser eingegangen, dies jedoch ohne den politischen Sinngehalt dieser Analogie näherhin zu beleuchten. Vgl. „Balzac/ Vautrin“, in: Romanic Review 79,4 (1988), 585-610. 23 Vgl. hierzu Rainer Warning, „Erschriebenes Glück: Rousseaus fünfte Rêverie“, in: ders., Heterotopien als Räume ästhetischer Erfahrung, München: Fink 2009, 43-62. 109 Arts & Lettres Justice“ rubriziert sind. 24 Ich fasse die wichtigsten Aspekte zusammen: Die bereits zu Balzacs Zeiten mit dem Palais de Justice verwachsene Conciergerie ist nicht irgendein Gefängnis; denn sie befindet sich auf der Ile de la Cité just an jenem Ort, wo Ludwig der Heilige im 13. Jahrhundert seinen Pariser Stadtsitz inne hatte. Das ist für uns schon deshalb von Bedeutung, weil die Conciergerie Teile des gotischen Palastes in sich birgt und in einem der Innenhöfe des Justizpalastes auch die prächtige Hofkirche Ludwigs des Heiligen, die Sainte-Chapelle, steht. Die Conciergerie ist aber nicht nur ein Chronotopos sedimentierter Zeit. Als ehemaliger Palast Ludwigs des Heiligen und späteres Staatsgefängnis stellt sie vielmehr insofern einen Chronotopos der französischen Monarchie dar, als dort während der Terreur fast alle Mitglieder der Familie Ludwigs XVI. inhaftiert waren und sich also an jenem Ort, wo königlicher Palast und Gefängnis ununterscheidbar geworden sind, die absolute Macht des Souveräns gegen ihn selbst gekehrt hat. Die damit gegebene Reversibilität von Palast und Gefängnis begreift Balzac nun allerdings nicht als ein einmaliges Ereignis, sondern als Teil einer Serie, in der Palast und Gefängnis immer schon austauschbare Orte waren. Von der Dynastie der Valois heißt es in letzterem Zusammenhang: „Charles V, le premier, abandonna le Palais […] sous la protection de la Bastille […]. Puis, sous les derniers Valois, la royauté revint de la Bastille au Louvre, qui avait été sa première bastille.“ (CH VI, 707). Hinzu kommt, daß die bauliche Ununterscheidbarkeit von Palast und Gefängnis, wie sie die Conciergerie charakterisiert, ihrerseits auf die grundlegende Problematik monarchischer Souveränität verweist. Diese hat Giorgio Agamben als eine im doppelten Sinne „auschließende Einschließung“ 25 theoretisiert und unter Rückgriff auf eine Figur des römischen Rechts dafürgehalten, daß mit souveräner Macht als deren Gegenstück und Beglaubigung immer die Figur des gleichermaßen sakralisierten wie straflos tötbaren homo sacer einher gehe. 26 Man muß diese These nicht in toto unterschreiben. Für die Epoche des französischen Absolutismus ist sie jedoch mehr als nur illustrativ, stellt doch der Souverän spätestens seit Bodins Six livres de la Republique (1576) eine politische Größe dar, die, wie es Carl Schmitt formuliert hat, „außerhalb der geltenden Rechtsordnung“ steht und „doch zu ihr“ gehört. 27 Dem Souverän eignet die juristische Figur der ,ausschließenden Einschließung‘ also dergestalt, daß er legibus solutus handeln kann, und dieses Handeln jenseits der Gesetze vermittels seiner sakralisierten Sonder- 24 Ich beziehe mich hier auf die Ausgabe von Pierre Barbéris, Paris: Gallimard (folio) 1973, der die in der Pléiade-Ausgabe getilgten Kapitelüberschriften wieder eingefügt hat. Hier 367ff. Dies entspricht CH VI, 705ff. 25 Giorgio Agamben, Homo sacer. Die Souveränität der Macht und das nackte Leben (1995), übers. v. H. Thüring, Frankfurt/ M.: Suhrkamp, 117. 26 Daher folgende Definition: „Souverän ist die Sphäre, in der man töten kann, ohne einen Mord zu begehen und ohne ein Opfer zu zelebrieren, und heilig, das heißt tötbar und nicht opferbar, ist das Leben, das in diese Sphäre eingeschlossen ist.“ Ebd., 93. 27 Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität (1922), Berlin: Duncker & Humblot 8 2004, 14. 110 Arts & Lettres stellung, des Gottesgnadentums, rechtlich-theologisch legitimiert ist. 28 Im Umkehrschluß ist der Untertan, da er potentiell der souveränen Dezision unterworfen ist, seinerseits durch eine ‚ausschließende Einschließung‘ in die Rechtsordnung charakterisiert. Als Untertan gehört er zur geltenden Rechtsordnung, als ein der souveränen Dezision ausgesetztes ‚nacktes Leben‘ ist er von eben dieser Rechtsordnung ausgeschlossen und mithin homo sacer. Der Umstand, daß der Conciergerie historisch ein erster Umschlag von Palast zum Gefängnis eignet, ist in diesem Zusammenhang insofern sinnfällig, als das Gefängnis im Ancien Régime einen Ort souveräner Dezision darstellt, an den man ohne vorherige Anhörung auf unbestimmte Zeit verbracht werden kann, dem Gefängnis mithin eben jene ,ausschließende Einschließung‘ zugrunde liegt, die konstitutiv ist für souveräne Macht. 29 Besteht ferner der Palast des Souveräns im Gefängnis fort, so wird damit nicht nur das Bezugsverhältnis von Souveränität und Gefängnis baulich augenfällig, sondern die Conciergerie ihrerseits zu einem Chronotopos der Souveränität. Letzteres gilt nicht minder für ihren postrevolutionären Aggregatzustand; denn in dem Maße wie die Conciergerie nunmehr untrennbar mit dem Palais de Justice verbunden ist, fällt auch die ,ausschließende Einschließung‘ in die Rechtsordnung mit der Rechtsordnung selbst zusammen. Die Inhaftierung der königlichen Familie, auf die der Erzähler bei seiner Schilderung der Conciergerie wiederholt abhebt, ist gerade hier von zentraler Bedeutung: Indem nämlich das Subjekt souveräner Dezision in die Rechtsordnung hineingeholt wird, wird es zum Objekt einer Souveränität, die jetzt mit der Rechtsordnung konkomitant ist. 30 Zu- 28 Bodin äußert sich hierzu folgendermaßen: „Pvis qu’il n’y rien plus grand en terre apres Dieu, que les Princes souuerains, & quils [s]ont establis de luy com[m]e ses lieutenans, pour comma[n]der aux autres hommes, il est besoin de prendre garde à leur qualité, à fin de respecter, & reuerer leur maiesté en toute obeissance, sentir & parler d’eux en tout honneur: car qui meprise son Prince souuerain, il meprise Dieu, duquel il est l’image sur terre.“ Vgl. Les six livres de la Republique de I. Bodin Angeuin. Ensemble vne Apologie de Rene Herpin, Paris: Iaques du Puis 1583 [Ed. faks, Darmstadt: Scientia Aalen 1961], 131. 29 Aufschlußreich ist in diesem Zusammenhang die rechtliche Stellung des Hôpital général, das nicht nur eine analoge Funktion zum Gefängnis hatte, sondern kraft des souveränen Willens Ludwigs XIV. auch einen Ort ‚ausschließender Einschließung‘ in die Rechtsordnung darstellt. In dem 1661 - also im Jahr der prise du pouvoir - gedruckten und verbreiteten Gründungsedikt bestimmt Ludwig die Amtsbefugnisse der Direktoren folgendermaßen: „Auront pour cet effet les directeurs: poteaux, carcans, prisons et basses fosses dans ledit Hôpital général et lieux qui en dépendant comme ils aviseront, sans que l’appel puisse être reçu des ordonnances qui seront par eux rendues pour le dedans du dit Hôpital; et quant à celles qui interviendront pour le dehors, elles seront exécutées pour leur forme et teneur nonobstant oppositions ou appellations quelconques faites ou à faire et sans préjudices d’icelles, et pour lesquelles nonobstant toutes défenses prises à partie ne sera différé.“ Zit. n. Michel Foucault, Histoire de la folie à l’âge classique, Paris: Gallimard 1972, 60f. 30 Vgl. in diesem Sinne auch Jules Michelet, Histoire de la révolution française (1847-1853), Bd. II, Paris: Gallimard (Pléiade) 1952, 7-16. 111 Arts & Lettres gleich vollzieht sich damit aber auch eine flächendeckende ‚ausschließende Einschließung‘ in die Rechtsordnung, die ihren historischen Ausdruck in der Terreur gefunden hat und die in der Conciergerie, wo königlicher Palast, Gefängnis und Justizpalast ununterscheidbar geworden sind, chronotopisch verdichtet ist. Ohne auf Balzac einzugehen, jedoch mit Blick auf die oben diskutierte Sade- Stelle, vertritt Agamben nun die These, daß mit der Französischen Revolution und der Erklärung der Menschenrechte die vormals königliche Souveränität auf die Nation übergehe und der Bürger gleichsam körperlich der Souveränität unterworfen sei. 31 Diese These ließe sich unschwer mit der Schilderung der Conciergerie zusammendenken, und das umso mehr, als die Conciergerie in der zweiten Hälfte von Splendeurs et miseres nicht nur der zentrale Schauplatz der Romanhandlung, sondern zugleich auch derjenige Raum ist, in dem Vautrin im IV. Buch schließlich seine, wie es heißt, „dernière incarnation“ zum Polizeichef von Paris erlebt. Letzteres ist insofern bedeutsam, als Balzac, wie wir oben gesehen haben, mit der Figur des Vautrin gerade keinen Bürger im Blick hat, der einer mit der Rechtsordnung konkomitanten Souveränität untersteht. Vautrin ist nicht Objekt einer ‚ausschließenden Einschließung‘ in den Staat, sondern indem er jenseits der Rechtsordnung handeln kann, deren Subjekt. Er verkörpert mithin eine der monarchischen Souveränität analoge Form dezisionistischer und absoluter Souveränität. Es ist demnach auch nicht bloßer Metaphorik geschuldet, wenn er im Verlauf von Splendeurs et misères lexikalisch immer wieder in das Wortfeld souveräner Macht eingerückt wird und der Erzähler ganz zum Schluß explizit von einer „suprême puissance“ (CH VI, 934) Vautrins spricht. 32 Auf der Handlungsebene schlägt sich diese legibus soluta potestas dahingehend nieder, daß Vautrin willkürlich über das Leben seiner Mitbürger verfügt. Die topologische Dimension dieses Handelns zeigt sich insbesondere bei Esther, der infamen jüdischen Geliebten seines Protegés Lucien de Rubempré. Für sie hat Vautrin ein streng bewachtes Appartement eingerichtet, in dem sie unter ständiger Todesdrohung lebt: Cet appartement sera votre prison, ma petite. […] Le jour où qui que ce soit au monde, dit-il avec un terrible accent accompagné d’un plus terrible regard, saurait que Lucien est votre amant ou que vous êtes sa maîtresse, ce jour serait l’avant dernier de vos jours! (CH VI, 481f.) Von ihrer Mutter in jungen Jahren an eine Bordellbetreiberin verkauft, ist Esther - anders als die mobilen filles publiques, die nachts die Galeries-de-Bois bevölkern - von Anfang an eine Gefangene, mit der jeder (fast) alles machen kann, was ihm beliebt. Sie ist ein von Genealogie und Rechtsordnung ausgeschlossenes, auf den nackten Körper reduziertes Leben, das im Machtbereich Vautrins nunmehr zu ei- 31 Agamben, Homo sacer, 137-144. 32 Vgl. hierzu Bodins berühmte Minimaldefinition der Souveränität: „La souveraineté est la puissance absoluë [...], c’est à dire, la plus grande puissance de commander.“ Bodin, Les six livres de la Republique, 122. 112 Arts & Lettres nem straflos tötbaren Leben wird. Sie wird mithin in dem Maße zu einem homo sacer, wie Vautrin qua seiner „suprême puissance“ performativ die legibus soluta potestas ausübt. Vor diesem Hintergrund muß es nicht Wunder nehmen, wenn gerade der Freitod Esthers die Verbringung Vautrins und Luciens in die Conciergerie bewirkt. Denn auf diese Weise verkehrt sich das Bezugsverhältnis von Gegensouverän und homo sacer dergestalt, daß Esther indem sie den einzigen ihr möglichen souveränen Akt verübt, den Einschluß des Gegensouveräns in den Bereich der Souveränität bewirkt. 33 Bevor ich jedoch auf die damit verbundenen Implikate zu sprechen komme, möchte ich noch einmal zu Balzacs Schilderung der Conciergerie zurückkehren, und das deshalb, weil sich darin nicht nur eine für unseren Zusammenhang wesentliche Reflektion über das chronotopische Verhältnis von Palast und Gefängnis befindet, sondern Balzac dort auch eine, wie ich denke, zentrale Ironie ausspielt, aus der sich die unterschiedlichen Schlußfügungen des Lucien-Strangs und des Vautrin-Strangs speisen. Die für uns relevante Stelle befindet sich am Ende des ersten Kapitels der „Histoire historique, archéologique, biographique, anecdotique et physiologique du Palais de Justice“. Der Erzähler stellt dort die intrikate Verbindung von Palast und Gefängnis als eine lange, bedauernswerte Verfallsgeschichte dar und gibt schließlich einige Ratschläge, wie man den Palast Ludwigs des Heiligen in seinem ursprünglichen Glanz restaurieren, wie man also die Geschichtlichkeit, die dem Chronotopos der Conciergerie eingeschrieben ist, tilgen könne: Hélas! la Conciergerie a envahi le Palais des rois. Le cœur saigne à voir comment on a taillé des geôles, des réduits, des corridors, des logements, des salles sans jour ni air dans cette magnifique composition où le byzantin, le roman, le gothique, ces trois faces de l’art ancien, ont été raccordés par l’architecture du XII e siècle. Ce palais est à l’histoire monumentale de la France des premiers temps ce que le château de Blois est à l’historie monumentale des seconds temps. Du même qu’à Blois […], dans une cour vous pouvez admirer le château des comtes de Blois, celui de Louis XII, celui de François I er , celui de Gaston; de même à la Conciergerie vous retrouvez dans la même enceinte, le caractère des premières races, et dans la Sainte-Chapelle, l’architecture de saint Louis. Conseil municipal, si vous donnez des millions, mettez aux côtés des architectes un ou deux poètes, si vous voulez sauver le berceau de Paris, le berceau des rois, en vous occupant de doter Paris et la cour souveraine d’un palais digne de la France! C’est une question à étudier pendant quelques années avant de rien commencer. Encore une ou deux prisons de bâties, comme celle de la Roquette, et le Palais de saint Louis sera sauvé. (CH VI, 708f.) Die pathetische Exclamatio „Hélas! la Conciergerie a envahi le Palais des rois“ bezieht sich explizit auf den Palast Ludwigs des Heiligen. Implizit bezieht er sich auf die französische Monarchie, die wie der Palast auf so unheilvolle Weise mit dem Gefängnis verstrickt ist, daß man ihren ursprünglichen Glanz nur noch mit Mühe erahnen kann. Der Vorschlag des Erzählers, man möge doch den Palast unter Mit- 33 Vgl. hierzu Anm. 37. 113 Arts & Lettres hilfe von Dichtern wieder in seiner ehemaligen Pracht restaurieren, zielt daher immer auch auf die Wiederherstellung einer „cour souveraine“, wie sie in ihren Ursprüngen Bestand hatte und wie sie Frankreichs auch zukünftig würdig wäre. Ob man diesen Vorschlag ernst zu nehmen hat, steht allerdings wohl spätestens dann zu bezweifeln, wenn der Erzähler behauptet, es bedürfe zu dessen Umsetzung nur der Errichtung einiger Gefängnisse im Stile der 1830 unter Louis-Philippe in Betrieb genommenen, panoptischen Prison de la Roquette. Zwar würde die Verlegung der Gefangenen in neuartige Gefängnisse eine bauliche Umgestaltung der Conciergerie ermöglichen, doch hätte sich damit am Wechselverhältnis von Monarchie und Gefängnis kaum etwas geändert. Es ist im Gegenteil so, daß die Prison de la Roquette gerade deshalb nötig wurde, weil unter Louis-Philippe die Zahl der Strafgefangenen immer stärker anstieg. Hinzu kommt, daß zeitgenössische Autoren nicht nur den Sinn dieser massiven Einschließung in Frage gestellt, sondern die Gefängnisse auch dafür verantwortlich gemacht haben, daß sie den Delinquenten erst eigentlich zu einem kriminellen Subjekt und Staatsfeind werden ließen. 34 Ich denke daher, daß man die vom Balzacschen Erzähler vertretene Ansicht, man könne den Palast Ludwigs des Heiligen nur durch den vermehrten Bau von Gefängnissen retten, im Sinne affichierter Rede und mithin als ironisch zu verstehen hat. Aber nicht erst der Lösungsvorschlag, bereits das Projekt selbst ist von Ironie getragen. Diese ergibt sich, wenn der Erzähler die Conciergerie mit dem Schloß von Blois vergleicht und auf diesem Vergleich seine Forderung nach der Wiederherstellung des ursprünglichen Palastes aufbaut. Das Schloß von Blois ist nämlich gerade kein ursprünglicher Palast, sondern seinerseits ein Chronotopos, in dem die sukzessiven Bauphasen - „le château des comtes de Blois, celui de Louis XII, celui de François I er , celui de Gaston“ - derart ineinandergreifen, daß schon in einem einzigen Hof die Geschichte Frankreichs verdichtet ist. Ich würde daher auch meinen, daß Balzac hier auf dialogische Weise zwei unterschiedliche Umgangsweisen mit dem Geschichtlichen inszeniert. 35 Die Forderung, den Palast Ludwigs des Heiligen wieder auferstehen zu lassen, entspricht einer revisionistischen Sehnsucht, wie wir ihr bei Chateaubriand begegnen; 36 die Freude an dem chronotopischen Schloß von Blois entspringt hingegen einer Affirmation des Geschichtlichen, die wir bereits vom Antikenkabinett am Quai Voltaire und in noch stärkerem Maße von der Schilderung der Galeries-de-Bois her kennen. Diese Vermutung wird auf der Ebene der Figuren bestätigt. Die erste, restauratorische Position vertritt Lucien, der alles daran setzt, mit dem aristokratischen Mädchennamen seiner Mutter zugleich ein vorrevolutionäres, der Geschichtlichkeit 34 Vgl. Foucault, Surveiller et punir, 309ff. 35 Ich beziehe mich hierbei auf Bachtins weithin bekanntes Dialogizitätsmodell. Vgl. „Die Redevielfalt im Roman“, in: ders., Die Ästhetik des Wortes (1919-74), hg. u. übers. v. R. Grübel, Frankfurt/ M.: Suhrkamp 1979, 192-219. Hier insb. 213. 36 Vgl. Anm. 15. 114 Arts & Lettres enthobenes Selbst zu restaurieren. Als er diesen Plan nach seiner Verbringung in die Conciergerie endgültig begraben muß, will er auch seinem Leben ein Ende setzen. 37 Kurz bevor er dies jedoch tut und sich an einem Fensterkreuz erhängt, geht für ihn der Wunsch des Erzählers in Erfüllung. Vor seinem inneren Auge erlebt er die Wiederauferstehung des gotischen Palastes: A la hauteur où Lucien se trouvait, son regard prenait en écharpe cette galerie et les détails du corps de logis qui réunit la tour d’Argent à la tour Bonbec, il voyait les toits pointus des deux tours. Il resta tout ébahi, son suicide fut retardé par son admiration. Aujourd’hui les phénomènes de l’hallucination sont si bien admis par la médicine, que ce mirage de nos sens, cette étrange faculté de notre esprit n’est plus contestable. L’homme sous la pression d’un sentiment arrivé au point d’être une monomanie à cause de son intensité, se trouve souvent dans la situation où le plongent l’opium, le haschisch et le protoxyde d’azote. Alors apparaissent les spectres, les fantômes, alors les rêves prennent du corps, les choses détruites revivent alors dans leurs conditions premières. Ce qui dans le cerveau n’était qu’une idée devient une créature animée ou une création vivante. […] Lucien vit le Palais dans toute sa beauté primitive. La colonnade fut svelte jeune, fraîche. La demeure de saint Louis reparut, telle qu’elle fut, il en admirait les proportions babyloniennes et les fantaisies orientales. Il accepta cette vue sublime comme un poétique adieu de la création civilisée. En prenant ses mesures pour mourir, il se demandait comment cette merveille existait inconnue dans Paris. Il était deux Lucien, un Lucien poète en promenade dans le Moyen Age, sous les arcades et sous les tourelles de saint Louis, et un Lucien apprêtant son suicide. (CH VI, 793f.) 37 Die Handlungslogik ist hier nicht ohne Interesse, wenn man bedenkt, daß es gerade das mobile jüdische Geld ist, das Luciens chute bewirkt. Esthers Suizid nach der ersten Liebesnacht mit Nucingen funktioniert in diesem Zusammenhang ähnlich einer ,Fehlleistung‘: Wenn sie Lucien als ihren Alleinerben einsetzt und sich danach vergiftet, so geschieht dies mit der erklärten Intention, Lucien auf diese Weise den Erwerb des Stammsitzes der Rubempré und damit verbunden eine aristokratische Eheschließung zu ermöglichen. Esther ahnt jedoch nicht, daß sie zu diesem Zeitpunkt bereits die Alleinerbin des riesigen Vermögens ihres Vaters, des soeben verstorbenen jüdischen Geldverleihers Gobseck, ist. Ebenfalls nicht wissen kann sie, daß Lucien, dem dieses Erbe in der Folge ihres Todes zufällt, des Mordes aus Habgier verdächtigt und zusammen mit Vautrin verhaftet wird. Damit bewirken die beiden souveränen Akte Esthers - die Bestimmung ihres Erben und ihr Freitod - nicht nur den Einschluß des Gegensouveräns in den Bereich der Souveränität, sondern verhindern zugleich die Restauration des Stammsitzes der Rubempré. Nimmt man hinzu, daß Esther als Jüdin und Kurtisane ihrerseits mit dem mobilen Geld verschwistert ist, so ließe sich sagen, daß Esther als Teil einer dezidiert postrevolutionären ökonomischen Dynamik immer schon antithetisch zu Luciens restaurativem Begehren steht. Es scheint mithin gerade die ‚moderne‘ Dimension des jüdischen Geldes zu sein, die als verborgene Vektorialität Esthers erklärte Intention stört. Zur ‚Modernität‘ des jüdischen Kapitals vgl. Maurice Samuels, „Metaphors of Modernity: Prostitutes, Bankers, and Other Jews in Balzacs Splendeurs et misères des courtisanes“, in: Romanic Review 97, 2 (2006), 169-184. Hier insb. 182f. Zur ,Fehlleistung‘ s. Sigmund Freud, „Die Fehlleistungen“, in: Studienausgabe, Bd. I, hg. v. A. Mitscherlich u.a., Frankfurt/ M.: Fischer 1969, 41-100. 115 Arts & Lettres Was hier als Halluzination ausgewiesen wird, hat seinen mediengeschichtlichen Begründungszusammenhang in den sog. Phantasmagorien, mit denen der Belgier Etienne-Gaspar Robertson im Paris der 1790er Jahre große Erfolge feierte. Die Phansmagorien beruhen technisch im wesentlichen auf der laterna magica; ihr Novum besteht darin, daß auf nächtlichen Plätzen historische Personen - etwa Ludwig XVI. - derart geschickt auf Rauchschwaden projiziert werden, daß sie gleichsam lebendig wirken. Dieser medialen Simulation eignet damit insofern eine kompensatorische Funktion, als sie auf spektrale Weise die Vergangenheit - und insbesondere die jüngste Vergangenheit - wieder aufleben läßt und so ein in die materialistische Lebenswelt hineinreichendes Jenseits suggeriert, durch das die Drastik des Geschichtlichen abgefangen wird. 38 In diesem phantasmagorischen Sinne erlebt nun auch Lucien die Wiederauferstehung des Palastes: „[L]es spectres, les fantômes, alors les rêves prennent du corps, les choses détruites revivent alors dans leurs conditions premières“. Bezeichnend ist dabei, daß die Schau des Untergegangenen mit jenem Terminus belegt ist, der bei Hugo auf die Welt des Ancien Régime bezogen war: Es ist eine „vue sublime“. Wenn Lucien schließlich als gespalten geschildert wird, so versteht sich die Spaltung dergestalt, daß der poetische Lucien mit dieser Schau des Sublimen verschränkt wird, der andere, in der zeitgenössischen Wirklichkeit verhaftete Lucien indes Selbstmord begeht. Erweist sich Lucien als eine Figur, die der Geschichtlichkeit nicht Stand hält, so ist sein Ziehvater Vautrin ganz dieser Geschichtlichkeit verpflichtet. Vautrin will kein verlorenes aristokratisches Selbst restaurieren, sondern beansprucht für sich performativ eine Souveränität, von der er als Plebejer ausgeschlossen ist. Es ist also durchaus bezeichnend, wenn er sich in einem Gefängnis wiederfindet, wo Souveränität und Rechtsordnung bereits baulich konkomitant geworden sind; denn er verkörpert eine in dieser Rechtsordnung exzessive Form von Souveränität. Nicht minder bezeichnend ist es, daß er sich damit zugleich an jenem Ort befindet, wo vor ihm die königliche Familie ihrer Hinrichtung entgegengesehen hat, ist doch auch die absolute Souveränität in dem Maße exzessiv geworden, wie Rechtsordnung und Souveränität zusammengefallen sind. Die Analogie von absolutem Souverän und Gegensouverän scheint mir dabei umso sinnfälliger, als Balzac dadurch erst das entscheidende differentielle Moment auszuspielen vermag: Mit der Hinrichtung Ludwigs hat sich ein irreversibler Umschlag von einer genealogisch-dynastischen Zeit der Monarchie zu einer diskontinuierlichen Zeit individueller Performanz vollzogen und eben letzteres bringt es mit sich, daß sich die Geschichte nicht wiederholt. Absoluter Souverän und Gegensouverän stehen also gerade deshalb nicht im Marxschen Verhältnis von Tragödie und Farce, weil sich die königliche Familie nur einer Rolle gemäß - der ihr genealogisch angemessenen - verhal- 38 Vgl. hierzu Maurice Samuels, The Spectacular Past. Popular History and the Novel in Nineteenth-Century France, Ithaca/ N.Y.: Cornell UP 2004. Hier insb. 26ff. Samuels bezieht sich immer wieder auf Balzac, jedoch erstaunlicherweise nicht auf die für sein Argument äußerst tragfähige Palasthalluzination in Splendeurs et misères. 116 Arts & Lettres ten konnte, während Vautrins Souveränität auf Performanz und Verstellungskunst beruht. 39 Der Gegensouverän entgeht dem Schicksal der königlichen Familie mithin, weil er ein Mann der Zeit ist. Vautrin ist aber nicht nur ein Mann der Zeit, sondern, wie wir gesehen haben, zugleich ein Mann des Volkes. So kommt es, daß der Erzähler immer wieder von der eigentlichen Vautrin-Handlung abschweift und sich der Schilderung von dessen in der Conciergerie gefangen gehaltenen „frères“ zuwendet. Wie zuvor hat man es hier wiederum mit weitgehend von der Handlung entkoppelten Schilderungen zu tun, deren Funktion darin besteht, uns das Verhältnis von Monarchie und Gefängnis näherhin vor Augen führen. So heißt es etwa in dem diesbezüglich einschlägigen Kapitel „Le préau de la Conciergerie“: Les deux premières arcades de la côté du préau, qui fait face à la magnifique galerie byzantine, seul vestige de l’élégance du Palais de saint Louis, sont prises par un parloir où confèrent les avocats et les accusés, et où les prisonniers parviennent au moyen d’un guichet formidable, composé d’une double voie tracée par des barreaux énormes et comprises dans l’espace de la troisième arcade. […] L’homme des classes moyennes étant là l’exception, et la honte retenant dans leurs cellules ceux que le crime y envoie, les habitués du préau sont généralement mis comme les gens de la classe ouvrière. (CH VI, 823f.) Die byzantinische Galerie des Palastes Ludwigs des Heiligen begrenzt zur einen Seite hin den Hof der Gefangenen, auf der anderen Seite befindet sich eine mehrfach vergitterte Arkade, durch die die Gefangenen in den Hof eingelassen werden. Das ist schon deshalb interessant, weil so der von Lucien als sublim erfahrene mittelalterliche Palast ebenjenen Raum bedingt, worin die Gefangenen sich bewegen. Auf diese Weise wird aber nicht nur erstmals der Palast Ludwigs des Heiligen direkt mit dem Leben der Gefangenen korreliert. Auch erfahren wird nun, welcher Schicht diese Gefangenen hauptsächlich enstammen: Jener Arbeiterklasse, die aufgrund ihres Mangels an Besitz nicht wählen darf und dennoch in das Politische eingeschlossen ist. Hierauf, so scheint mir, hat Balzac in seinen Schilderungen der Conciergerie hingearbeitet: Die von der politischen Mitbestimmung Ausgeschlossenen sind als Gefangene in den Bereich der Souveränität eingeschlossenen und bilden in dem Maße das konstitutive Andere der Souveränität, wie Palast, Gefängnis und Rechtsordnung nunmehr zusammengefallen sind. Es geht hier denn auch um jene Aporie, der gerade die bürgerliche Monarchie nicht entkommen kann, wenn sie ihre Legitimation aus der Nation als Ganzes bezieht, indes dem Großteil der Bevölkerung die politische Mitbestimmung verwehrt. Diese bürgerliche Monarchie hatte Balzac in der euphorischen Schilderung der Galeries-de-Bois metonymisch an die 39 Ich entlehne die Opposition hier Marxens bekannter Gegenüberstellung von Napoleon I. und Napoleon III. Vgl. „Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte“, in: Marx/ Engels, Werke, Bd. VIII, Berlin: Dietz 1960, 111-207. Hier 115. Zur Performativität Vautrins s. einläßlich Sandy Petrey, Realism and Revolution. Stendhal, Balzac and the Performances of History, Ithaca/ N.Y.: Cornell UP 1988, 83-121. 117 Arts & Lettres unter Louis-Philippe errichtete Galerie d’Orléans gebunden und den als „république“ ausgewiesenen, infamen Holzbuden solchermaßen ein steriles Treibhaus gegenübergestellt. In eben diesem Sinne findet das sterile Treibhaus der Juli-Monarchie im Hof der Conciergerie sein typologisches Gegenstück, denn wo jenes den vitalen Volkskörper aus der res publica ausgrenzt, schließt dieser den bedrohlichen Volkskörper in den Bereich der Souveränität ein. Der vitale Volkskörper, auf dem das Konzept der Nation beruht, ist damit in der bürgerlichen Monarchie auf paradoxale Weise Konstituens und Anderes in einem, ein- und ausgeschlossen zugleich. Welche Sympathie Balzac dem vitalen und in seinen „plus magnifiques oppositions“ vor allem auch grotesken Volkskörper entgegenbringt, haben wir an den Schilderungen der nächtlichen Galeries-de-Bois gesehen. Dies gilt in keinem geringeren Maße für das groteske (Verbrecher-)Volk und zeigt sich insbesondere in dem auf die Schilderung des Gefangenenhofes folgenden „Essai philosophique, linguistique et littéraire sur l’argot, les filles et les voleurs“. In dieser Abhandlung zur Gaunersprache holt Balzac eine aus dem Französischen ausgegrenzte Sprache in den Roman hinein und läßt ihr eine gleichsam wissenschaftliche Aufmerksamkeit angedeihen, deren Inhalt und Länge in keinem Verhältnis zur Romanhandlung stehen. Das von der politischen Mitbestimmung ausgegrenzte und sprachpolitisch inexistente Volk bekommt auf diese Weise eine eigene Stimme. Und mehr noch: Indem Balzac dem Volk diese Stimme verleiht, kehrt er das souveräne Paradoxon von Ausschluß und Einschluß um und schließt in den Roman das bislang aus ihm Ausgeschlossene ein. Es muß in diesem Zusammenhang daher auch nicht Wunder nehmen, wenn mit der Apologie des Argots die „dernière incarnation de Vautrin“ einher geht. Eingeleitet wird diese letzte Inkarnation Vautrins dadurch, daß es ihm gelingt, gegen die Rechtslage die Begnadigung eines zum Tode verurteilten früheren Geliebten zu erwirken und er in der Folge auch alle Rechtsorgane überstimmt und frei kommt. Die Gnade und das rechtskräftige Handeln jenseits des Gesetzes sind - ich werde es nicht mehr eigens zu erwähnen haben - seit Bodin die wesentlichen Charakteristika der Souveränität. 40 In diesem Sinne hat man es auch zu verstehen, wenn Vautrin am Ende des Romans schließlich Chef der sûreté geworden ist; denn damit hat der Gegensouverän nicht nur den höchsten Ort der Exekutive erobert, sondern ist als Chef der Polizei auch in der Lage, zwischen der Welt der Verbrecher und der Welt des Gesetzes zu vermitteln. Wie man sich diese Brückenstellung zwischen Monarchie und Gefängnis vorstellen muß, bleibt freilich elliptisch. Die Figur eines Vermittlers zwischen Monarchie und Gefängnis ist nichtsdestoweniger Balzacs Alternative zur Wiedererrichtung des Palastes Ludwigs des Heiligen, wie sie Lucien kurz vor seinem Selbstmord vorschwebt. 1847, im Erscheinungsjahr von Splendeurs et misères, ist sie darüber hinaus nachgerade prophetisch; denn schon im Folgejahr wird das von der politischen Mitbestimmung ausgeschlossene Proletariat den Bürgerkönig vertreiben und die II. Republik begründen. 40 Bodin, Les six livres de la Republique, 236f.