eJournals lendemains 36/144

lendemains
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Narr Verlag Tübingen
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2011
36144

Die aktuelle Debatte um nationale Identität und die republikanische Konstruktion des Nationalbewusstseins in der Dritten Republik

2011
Hartmut Stenzel
ldm361440005
5 Dossier Hartmut Stenzel (ed.) Un débat franco-français: l’identité nationale Hartmut Stenzel Einleitung: Die aktuelle Debatte um nationale Identität und die republikanische Konstruktion des Nationalbewusstseins in der Dritten Republik I. In einem Rundschreiben an alle Präfekten vom 2. November 2009 verkündete Eric Besson, seinerzeit „ministre de l’Immigration, de l’Intégration, de l’Identité nationale et du Développement solidaire“ vollmundig: 6 Dossier Le grand débat sur l’identité nationale s’ouvre aujourd’hui. Son organisation constitue l’un des engagements souscrits par le Président de la République lors de la campagne présidentielle, repris dans la lettre de mission qu’il m’a adressée, avec le Premier Ministre, le 31 mars 2009.1 Dieser „grand débat“ war einer der vielen, bislang stets gescheiterten Versuche der französischen Regierung, die nachhaltig erschütterte Vertrauensbasis in der Bevölkerung zurückzugewinnen, die sie und insbesondere der Staatspräsident, Nicolas Sarkozy, schon bald nach ihrer triumphalen Wahl im Frühjahr 2007 verloren hatte. Die Terminierung im Vorfeld der für März 2010 angesetzten Regionalwahlen entsprang allen Dementis zum Trotz ebenso offensichtlich einem politischen Kalkül wie der Rückgriff auf eine Thematik, mit der Sarkozy bei seinem Wahlsieg 2007 viele Anhänger des Front national an sich hatte binden können. Nicht einmal ein Jahr später war der Spuk denn auch schon vorbei. Als stimmungs- und wahltaktische Manöver der Regierung Sarkozy hatte die Debatte über nationale Identität nicht den erhofften Erfolg 2 und wurde deswegen im Herbst 2010 mitsamt dem Ministerium, das sie betrieben hatte, stillschweigend beerdigt. 3 Trotz dieser situationsspezifischen Motive kann allerdings auch kein Zweifel daran bestehen, dass es in weiten Kreisen der französischen Bevölkerung eine in den letzten Jahren zunehmend verbreitete identitäre Verunsicherung gibt, die Sarkozy bereits im Wahlkampf für die Präsidentschaftswahlen von 2007 auszunutzen versucht hatte, indem er sich in seinen Reden als Präsident entwarf, der nationale Identität repräsentiert. 4 Wahltaktisches Kalkül ebenso wie die Bedrohung des ‘Ei- 1 Zit. nach: http: / / www.immigration.gouv.fr/ spip.php? page=dossiers_det_res&numrubrique=- =329&numarticle=1450, Circulaire IMIK0900089C du 2 novembre 2009 relative à l’organisation du grand débat sur l’identité nationale, 11.5.2011. 2 Nach einer Umfrage IFOP-Journal du dimanche vom 26. und 27. November 2009 waren zwar 72% der Befragten der Meinung „que ce débat vise des buts électoraux“, zugleich stimmten aber auch 57% der Ansicht zu „qu’il est justifié car il correspond à un sujet qui intéresse les Français“ (Le Monde, 29.11.2009). 3 Bessons Ministerium wurde bei der Regierungsumbildung im November 2010 abgeschafft (stattdessen gibt es jetzt ein Ministerium „des solidarités et de la cohésion nationale“); er selbst wurde in das Industrieministerium abgeschoben (oder, je nach Deutung, mit dem Industrieministerium für seine Linientreue belohnt). Das großangelegte Internetforum www.debatidentitenationale.fr ist mittlerweile abgeschaltet; ich selbst konnte es zum letzten Mal im Juli 2010 benutzen. Die in diesem Artikel daraus zitierten Texte entstammen zuvor von dort herunter geladenen Dateien. 4 Vgl. etwa aus seiner Rede in Rouen am 24. April 2007: „Si un candidat à la présidence de la République française ne parle pas de la France, de quoi devrait-il parler? Et quand on parle de la France, si l’on ne parle pas de son histoire, c’est que l’on ne connaît rien à la France, donc pas qualifié pour la représenter. Voilà la vérité. […] J’ai dit: ‘Il n’y a qu’une seule histoire de France.’ Les socialistes ont protesté qu’il y avait une histoire de France de droite et une histoire de France de gauche. J’ai dit: ‘Il n’y a qu’une seule France.’ La gauche a objecté: ‘Il y a une France de droite et une France de gauche.’“ (zit. nach: http: / / sites.univ-provence.fr/ veronis/ Discours2007/ transcript.php? n=Sarkozy&p=2007-04- 24, 23.4.2011). 7 Dossier genen’ sind auch in der Begründung präsent, mit der Besson die Notwendigkeit der Debatte plausibel machen will: Ce débat répond aussi aux préoccupations soulevées par la résurgence de certains communautarismes, dont l’affaire de la Burqa est l’une des illustrations. Au moment même où l’Union européenne franchit une nouvelle étape de son intégration, et où la crise économique et financière internationale démontre combien la mondialisation rend l’avenir des Nations interdépendant, ce débat a pour objectif d’associer l’ensemble de nos concitoyens à une réflexion de fond sur ce que signifie, en ce début de 21 ème siècle, „être Français“. Die bunte Mischung von Burka, europäischem Einigungsprozess und Problemen der Globalisierung, die hier als Gründe für eine „réflexion de fond“ über das Nationalbewusstsein aufgerufen werden, dessen Bedeutung es sich (neu) zu versichern gelte, appelliert offensichtlich an ein diffuses Unwohlsein, das in Frankreich weit verbreitet ist. Wenn vor kurzem in Umfragen 37% der Befragten der Auffassung zustimmten: „On ne se sent vraiment plus chez soi en France“, 5 und wenn zwei Drittel der Meinung waren, die nationale Identität verliere an Integrationskraft, 6 so sind dies Indizien für eine verbreitete Verunsicherung. Diese identitäre Desorientierung ist für die französische Gegenwartskultur deshalb so charakteristisch, weil dem Nationalbewusstsein in den politischen und medialen Diskursen wie im Selbstverständnis eines guten Teils der Bevölkerung nach wie vor große Bedeutung zukommt. 7 Die Intensität der Reaktionen auf den letztlich gescheiterten Versuch der Regierung, eine hegemoniale Position in den für die Frage der nationalen Identität relevanten Diskursen zu besetzen, zeigt zumindest, dass das Diskursfeld selbst, auf das er zielt, für die Gesellschaft und die Kultur Frankreichs höchst virulent war und ist . 8 Von der Bedeutung des Algerienkriegs für die Krise nationaler Identität über ihre Verhandlung in Schulbüchern bis hin zu der Konzeption der Cité nationale de l’histoire de l’immigration untersuchen die in diesem Themenschwerpunkt von Lendemains versammelten Beiträge an unterschiedlichen Gegenständen aus den letzten Jahrzehnten die Bedeutung dieses Diskursfeldes und der Konflikte, die darin ausgetragen werden. Dabei steht nicht die politische Konjunktur des Begriffs „identité nationale“ selbst im Zentrum, sondern das ihr sowie der aktuellen Diskussion 5 Le Monde, 15.1.2010. 6 Zit. nach: http: / / www.debatidentitenationale.fr/ IMG/ pdf/ 100205_-_Debat_Identité_Nationale_-_Etude_TNS_Sofres.pdf, 22.4.2010. 7 Vgl. dazu die Ergebnisse der in der vorherigen Anmerkung angeführten Umfrage, die allerdings auch darauf angelegt ist, Bessons „grand débat“ zu legitimieren. Zu einer genaueren Analyse der Identitätsdiskussion vgl. meinen Beitrag „Identität als politische Strategie und als ‘Plastikwort’: Zur französischen Diskussion um die „identité nationale“, Lendemains Nr. 141/ 2011, 91-108. 8 Nach den Statistiken der BnF wurden in Frankreich seit 2000 nicht weniger als 30 Bücher veröffentlicht, die den Begriff „identité nationale“ im Titel verwenden - doppelt so viele wie im vorhergehenden Jahrzehnt (Le Monde, 6.11.2009). 8 Dossier um den Begriff zu Grunde liegende Problemfeld. Es geht um unterschiedliche Aspekte der in Frankreich in den letzten Jahrzehnten als Bedrohung empfundenen Erosion und Krise des kollektiven Bewusstseins und der Reaktionen auf sie. In dieser Entwicklung wird „identité nationale“ überhaupt erst zu einem politisch und medial wirksamen Begriff, dessen Ursprünge in bezeichnender Weise mit dem Erstarken des Front national in Zusammenhang stehen, 9 und dessen plakativer Gebrauch mehr auf mediale Wirksamkeit als auf analytische Präzision zielt. 10 Dadurch, dass die Beiträge unterschiedliche Facetten eines globalen Prozesses untersuchen, in dem der Geltungsanspruch des tradierten Nationalbewusstseins verhandelt wird, machen sie zugleich dessen zwar häufig verdrängten, aber doch, wie alle hier behandelten Beispiele zeigen, vielfältig wirksamen Kern sichtbar: den ‚multikulturellen’ Wandel der französischen Gesellschaft. Hinter diesem modischen Begriff stehen, wie in allen Beiträgen deutlich wird, (post)koloniale Mentalitäten und Strukturen der französischen Kultur und Gesellschaft, in denen das verdrängte Erbe der Kolonialzeit in der gegenwärtigen Gesellschaft präsent bleibt. Die historisch verbürgte Einheit Frankreichs, wie sie der „roman national“ als Grundlage nationaler Identität konstruierte, war immer schon eine Fiktion, die, wie der Beitrag von Marcus Otto zeigt, das Erbe der Kolonialzeit ausschließt. Sein Konstruktcharakter wird offensichtlich, wenn es etwa darum geht, die Integration der postkolonialen Immigration in die Einheit der Nation darzustellen. Dies wird in dem Beitrag von Nadine Pippel am Beispiel der problematischen, letztlich den „roman national“ fortführenden Konzeption der Cité de l’histoire de l’immigration dargestellt. Die Folgen der Verdrängung der kolonialen Vergangenheit verdeutlichen exemplarisch die Debatten um die Verbrechen Frankreichs im Algerienkrieg seit der Jahrtausendwende, deren individuelle und kollektive Virulenz für die Identitätsdiskussion Daniel Bogner darstellt. Trotz des legitimatorischen Anspruchs der „mission civilisatrice“, mit der das republikanische Frankreich seiner Kolonialpolitik einen universalistischen Anstrich zu geben versuchte, demontiert eine koloniale Praxis, als deren letztlich konsequente Zuspitzung man Folter und Mord während des Algerienkriegs ansehen kann, die universalistische Fassade nationaler Identität. In weniger spektakulärer Form bleibt dieser Widerspruch für die Identitätsdiskussion der letzten Jahrzehnte konstitutiv. 9 Zu den Anfängen der politischen Verwendung des Begriffs der „identité nationale“ in den 1970er Jahren vgl. Gérard Noiriel, A quoi sert l’identité nationale? , Marseille 2007, 70 ff. 10 Auch die wissenschaftliche Konjunktur dieses Begriffs kann hier nicht näher behandelt werden. Seine problematische Ausweitung in der derzeit florierenden Theoriebildung zur Erinnerungskultur von individuellen auf kollektive Orientierungen thematisiert der Beitrag von Daniel Bogner. - In der einschlägigen Forschung besteht weithin Konsens darüber, dass er nur in einer „durchgehenden Entontologisierung und Entessentialisierung“ sinnvoll verwendet werden kann (so Peter Wagner, „Fest-Stellungen. Beobachtungen zur sozialwissenschaftlichen Diskussion über Identität“, in: Aleida Assmann/ Heidrun Friese (eds.), Identitäten, Frankfurt 1998, 68). Vgl. auch unten, Anm. 18. 9 Dossier Man kann gar nicht nachdrücklich genug darauf insistieren, dass ein universalistischer Überlegenheitsanspruch inklusive seiner implizit oder sogar explizit kolonialistischen Implikationen zusammen mit dem eben erwähnten „roman national“ das in sich widersprüchliche identitätspolitische Erbe der Dritten Republik darstellt. Neben der aktuellen Virulenz der Themen und Debatten, die sie behandeln, kann man den Zusammenhang der hier versammelten Beiträge deshalb auch darin sehen, dass sie mit den unterschiedlichen Facetten der Identitätsdiskussion in der Zeit der Fünften Republik zugleich eine ungelöste identitäre Problematik aufarbeiten, die in der „longue durée“ der französischen Erinnerungskultur seit den Anfängen der Dritten Republik verankert ist. Seine derzeitige Präsenz in der französischen Erinnerungskultur gründet auf dieser langzeitlichen Kontinuität und der widersprüchlichen Begründung des Nationalbewusstseins im republikanischen Diskurs. Diese Widersprüche beginnen bereits mit der wertenden Verbindung, die in der Revolutionszeit zwischen „nation“, „patrie“ und „patriote“ hergestellt wird. 11 Die daraus entstehende „duplication“, der „redoublement interne de sa définition nationale“, 12 in der sich das französische Nationalbewusstsein zugleich auf ein historisch gewachsenes Staatsgebilde, auf den universalistischen Anspruch der Revolution und den diesen legitimierenden Wertekanon bezieht, begründet die spezifische Konfliktlage, in der sich in Frankreich die Diskussion um nationale Identität bewegt. Die Spaltung zwischen der Verpflichtung der Nation auf universelle Werte einerseits und der Konstruktion der historischen Kontinuität (letztlich der die Zeit überdauernden Existenz) der Nation andererseits ist seit der Dritten Republik konstitutiv für das republikanische Nationalbewusstsein geblieben und hat die bis heute wirksamen Grundlagen für den offiziellen Diskurs über die Nation wie für das Nationalbewusstsein gelegt. In Frage gestellt wird diese Tradition zunehmend durch die Auseinandersetzung mit der Immigration, die ja seit nunmehr drei Jahrzehnten ein zentrales gesellschaftliches und kulturelles Konfliktfeld darstellt, die zugleich als Konsequenz des Kolonialismus aber auch ein Produkt der republikanischen Tradition ist. Die explizite oder implizite Arbeit an diesem Konfliktfeld erweist sich in allen Fallstudien als wesentlicher Grund und Bezugspunkt der identitären Probleme. Der ‚multikulturelle’ Wandel der eigenen Lebenswelt und die damit verbundene Relativierung eines traditionell gefestigt erscheinenden Nationalbewusstseins macht die Frage nach der „identité nationale“ zu einem politisch wie medial viel diskutierten Thema. In der Auseinandersetzung damit verbinden sich so aktuelle Konfliktlagen mit langzeitlichen Strukturen und kulturspezifische Mentalitäten. Die politische Funktionalisierung der Identitätsproblematik durch Sarkozy kann man also als Indiz für die langzeitliche Relevanz dieser Thematik in der französischen Gesellschaft und Kultur verstehen. Ihre Brisanz gewinnt diese Diskussion, 11 Vgl. dazu Pierre Nora, Artikel „Nation“ in: Furet/ Ozouf (eds.), Dictionnaire critique de la Révolution française, Bd. 4, Paris 1992, 339-358, insbes. 342 ff. 12 Ebd., 353. 10 Dossier wie in allen hier vorgelegten Beiträgen deutlich wird, durch die Erosion der seit den ersten Jahrzehnten der Dritten Republik bis nach dem Zweiten Weltkrieg unbestreitbar wirkmächtigen Konstruktion nationaler Identität. Bis heute bleiben die Republik und die mit ihr verbundenen Wertvorstellungen ebenso wesentliche Bezugspunkte der Diskussion und Reflexion über das französische Nationalbewusstsein wie eine mythische Konstruktion der Nationalgeschichte. Ein prominenter Beleg hierfür sind Intention und Aufbau von Pierre Noras berühmten Sammelbänden über die Lieux de Mémoire, denen zugleich Bedeutung und Erosion dieser widersprüchlichen Konstruktion zu Grunde liegen - und die mit ihrer Rekonstruktion der nationalen Traditionen die postkoloniale Dimension nationaler Identität fast völlig verschweigen und aus der historischen Kontinuität der Nation ausgrenzen. 13 Das identitäre Erbes der Dritten Republik war auch auf der - mittlerweile nicht mehr zugänglichen - Internetseite www.debatidentitenationale.fr vielfältig präsent, etwa in einer Textsammlung, die unter dem pompösen Titel „Les grands auteurs classiques“ ein Florilegium von Textauszügen ‘großer’ Autoren vorwiegend des 19. Jahrhunderts bietet, oder in einer Sammlung von Begriffen, die zum größten Teil das republikanische Selbstverständnis der Dritten Republik fortschreiben . Dessen Leitideen (etwa die Revolution als Gründungsereignis, der republikanische Universalismus und der in ihr verwurzelte Laizismus, aber auch die als Vorgeschichte der Republik integrierte Monarchie und einige mythische Leitfiguren der französischen Geschichte etc.) dominieren dort fast uneingeschränkt. Sie bilden, wie auch viele Beiträge von Diskussionsteilnehmern auf dieser Internetseite zeigen, einen ebenso vagen wie bis heute unhintergehbaren Ausgangspunkt für das Nachdenken über die Begründung und die historische Dimension der Konstruktion von nationaler Identität, die in dieser Diskussion verhandelt wurde. 14 13 Dies zeigt sich schon in der Begriffstrias „La République-La Nation-Les France“, in der die Beiträge zu Les lieux de mémoire gruppiert werden. Diese Abfolge impliziert strukturell einen (dialektischen? ) Dreischritt, der vom republikanisch-revolutionären Universalismus über die historische Dimension der Nation zu einer Pluralisierung von deren Identitätskonstruktionen führt. Das koloniale Erbe allerdings spielt in dieser Pluralisierung keine Rolle, abgesehen von einem einzigen Beitrag - Charles-Robert Agerons Artikel: „L’exposition coloniale de 1931“, in: Pierre Nora (ed.): Les lieux de mémoire, Bd. 1, Paris 1997, 493-515. Er findet sich zwar im ersten Teil, „La République“, aber eingeordnet in den Abschnitt „Commémorations“, zusammen mit den Hundertjahrfeiern der Revolution oder von Voltaire und Rousseau, damit jedenfalls sorgfältig getrennt von der historischen Perspektive, die die Artikel des zweiten Teils, „La nation“, entwerfen. - Vgl. dazu den Beitrag von Marcus Otto, der argumentiert, dass diese Einbindung der kolonialen Vergangenheit über die Erinnerung an die Kolonialausstellung die kolonialistische Perspektive aufrechterhält. 14 Vgl. dazu meine Untersuchung der Bedeutung historischer Mythen in der Identitätsdiskussion: „Eine postmoderne nationale Identität? Die Banalisierung des historischen Gedächtnisses in der aktuellen Debatte in Frankreich“, in: Frankreich Jahrbuch 2010: Frankreichs Geschichte: Vom (politischen) Nutzen der Vergangenheit, Berlin 2011, 75-89. 11 Dossier Exemplarisch wird diese Tradition in einem programmatischen Beitrag aufgerufen, den der Premierminister François Fillon auf dieser Internetseite eingestellt hat (oder hat einstellen lassen). Er beruft sich darin auf eine historische Kontinuität, als deren Bekräftigung und Erneuerung er die Identitätsdiskussion hinstellt: Nous sommes les héritiers d’une Histoire exceptionnelle dont nous n’avons pas à rougir. […] Notre nation n’a jamais cessé de se bâtir, de s’agrandir, de s’unifier, fédérant des provinces rebelles, orchestrant des religions aux cultes distincts, recevant des vagues d’immigrants aux cultures dissonantes. Par la force de l’Etat, par la communion de la langue et la marque du droit, par le prix du sang et par la flamme de la mémoire et des mythes, sous le sceau enfin d’une République démocratique et laïque, l’identité française s’est faite pas à pas. C’est cette longue trajectoire avec nous-mêmes, c’est ce roman national, que nous devons prolonger et actualiser.15 Mit dem Begriff des „roman national“ verweist Fillon explizit auf die bereits erwähnte, Einheit stiftende Funktionalisierung der Nationalgeschichte in der Dritten Republik, auf die ich noch eingehen werde. 16 Bezeichnend ist jedoch, dass er entgegen der einschlägigen historiographischen Diskussion den Begriff in einem affirmativen Sinn verwendet, als Inbegriff einer „Histoire exceptionnelle dont nous n’avons pas à rougir“, in der die Nation als ein dem historischen Wandel vorhergehendes, immer schon existentes Subjekt der Geschichte gedacht wird („Notre nation n’a jamais cessé de se bâtir […]“ ). Die „Histoire“ mit Majuskel, die Fillon nicht etwa reflektieren oder gar kritisch beleuchten, sondern fortschreiben will, ist die teleologische Geschichtserzählung, die den seit der Dritten Republik in Frankreich zweifellos massenwirksamen Patriotismus mit begründet hat. 17 Viele Aspekte der jüngsten Identitätsdebatte legen die Deutung nahe, dass die Regierung sie auf diese lange Zeit relativ stabile, gesellschaftlich weithin akzeptierte Konstruktion nationaler Identität lenken wollte. Jedenfalls verhandelt das gescheiterte Projekt mit seinem strategischen (und vielleicht ja auch nostalgischen) Rückgriff auf die Identitätspolitik der Dritten Republik eine Reihe von grundsätzlichen Problemen und Widersprüchen, die seit den ersten Jahrzehnten der Dritten Republik für die Begründung der republikanischen Konstruktion nationaler Identität konstitutiv sind und die die Intensität wie die Apo- 15 Zit. nach: http: / / www.debatidentitenationale.fr/ actualites/ contribution-du-jour-francois.html, 22.3.2010. 16 Vgl. unten, Abschnitt III. - Detaillierte Analysen dieser Geschichtsmythologie haben u. a. Christian Amalvi, De l’art et la manière d’accommoder les héros de l’histoire de France, Paris 1988 und Suzanne Citron, Le mythe national. L’histoire de France revisitée, Paris 2008 ( 1 1987) vorgelegt. Zur kritischen Bedeutung des Begriffs „roman national“ in der historiographischen Diskussion vgl. Christian Delacroix u.a., Les courants historiques en France. XIX e -XX e siècles, Paris 1999, 236 ff.; zu seiner affirmativen Verwendung in jüngster Zeit Nicolas Offenstadt, L’Histoire bling-bling. Le retour du roman national, Paris 2009. 17 Vgl. dazu S. Citron, op. cit., 31 ff. sowie Pierre Nora, „Lavisse, instituteur national. Le ‘Petit Lavisse’, évangile de la République“ in: ders. (ed.), Les lieux de mémoire, Neuausgabe Paris 1997, Bd. 1, 239-275. 12 Dossier rien des französischen Nationalbewusstseins bis in die Gegenwart bestimmen. Jenseits der politischen Aktualität kann man die aktuelle Diskussion in dem langzeitlichen Zusammenhang mit ihren historischen Ursprüngen als aufschlussreiche Konsequenz aus den Dilemmata verstehen, in denen das republikanische Frankreich sich durch die Begründung eines Nationalbewusstseins konstituiert und konsolidiert hat. Deshalb sollen hier einleitend einige Facetten der Konflikte dargestellt werden, in denen sich in den ersten Jahrzehnten der Dritten Republik das republikanische Nationalbewusstsein herausgebildet hat. Dessen Grundlagen wie sein konstitutiver Widerspruch zwischen nationaler Besonderheit und universalem Anspruch antworten zunächst natürlich auf die Auseinandersetzungen, in denen sich die Republik konstituiert hat; sie bleiben aber trotz dieser historischen Besonderheit ihrer Entstehung bis in die Gegenwart wirksam. II. Die Entstehung der Dritten Republik ist in der tiefsten Krise der französischen Geschichte des 19. Jahrhunderts angesiedelt. Ebenso banal wie grundlegend ist die Feststellung, dass die Republik sich einer nationalen Katastrophe verdankt: ohne Sedan hätte es nicht den 4. September gegeben. Mit dem kurz zuvor (im Mai 1870) noch durch ein triumphales Plebiszit gefestigt erscheinenden Kaiserreich bricht nach der Niederlage im Deutsch-Französischen Krieg nicht nur eine kurzlebige, aber prestigeträchtige Dynastie zusammen, sondern auch eine Konstruktion nationaler Identität, 18 die die Tradition der Revolution mit einer Mythologie der napoleonischen Siegeszüge verbindet. Napoleon III., der als Erbe seines Onkels beide Bezugspunkte repräsentieren wollte, 19 erscheint nun, im Lichte dieser Niederlage, in gewichtigen Stimmen der zeitgenössischen Deutung als der letzte Repräsentant eines nationalen Niedergangs, der das gesamte 19. Jahrhundert bestimmt und dessen Erbe die Republik antritt. 18 Zur begrifflichen Klarstellung sei darauf erwiesen, dass die Begriffe „nationale Identität“ bzw. „identité nationale“ vor den 1980er Jahren kaum verwendet werden. Ihre Karriere beginnt erst in Folge der Konjunktur des Identitätsbegriffs zunächst in der Sozialpsychologie und dann in der Soziologie (vgl. zu den Problemen von Begriffsgeschichte und -verwendung etwa: Lutz Niethammer, Kollektive Identität: heimliche Quellen einer unheimlichen Konjunktur, Reinbeck 2000 sowie Peter Wagner, „Fest-Stellungen. Beobachtungen zur sozialwissenschaftlichen Diskussion über Identität“, in: Aleida Assmann/ Heidrun Friese (eds.), Identitäten, Frankfurt 1998 sowie für seine Funktion in der aktuellen Debatte meinen Anm. 5 zitierten Aufsatz, 106 f.). In den ersten Jahrzehnten der Dritten Republik werden für die heute mit diesen Begriffen verhandelten kollektiven Identitätsangebote bzw. -anforderungen Begriffe wie „idée de patrie“, „patriotisme“ oder „sentiment national“ verwendet. 19 Vgl. dazu Michel Winock, „La poussée démocratique“ in: ders./ S. Berstein (eds.), L’invention de la démocratie, 1789-1914, Paris 2002, 166 ff. 13 Dossier In der bekannten Geschichtskonstruktion der Origines de la France contemporaine, die Hyppolite Taine unter dem Eindruck der Niederlage entwirft (der erste Teil erscheint 1876), hat dieser Verfall nationaler Größe seinen Ursprung schon im Ancien Régime, insoweit dieses die Revolution vorbereitet habe. 20 Taines Deutung im unvollendeten letzten Teil seines Werks, Le Régime moderne, zufolge hat Napoleon I. als Erbe des vom Ancien Régime eingeleiteten Traditionsbruchs dadurch die Grundlagen des modernen Frankreichs gelegt, dass er eine Auflösung aller traditionellen kollektiven Bindungen befördert habe, die einen nationalen Zusammenhalt ermöglichen könnten. Die Republik steht in dieser Perspektive am Ende eines Zerfallsprozesses kollektiver Identität, der das gesamte 19. Jahrhundert durchzieht und als dessen bei Taine nur indirekt präsenter Höhepunkt der Deutsch- Französische Krieg gelten kann. Diese Diagnose steht derjenigen nahe, die Ernest Renan, eine andere intellektuelle Leitfigur der zweiten Jahrhunderthälfte stellt. Während Taine sich scheinbar neutral auf eine distanzierte Beobachterposition zurückziehen will, 21 entwirft Renan unter dem Eindruck der Niederlage Frankreichs im Deutsch-Französischen Krieg in seiner Abhandlung La réforme intellectuelle et morale de la France (1871) eine Vision des Zusammenbruchs aller Identität stiftenden Bezugspunke der Nation, die er selbst als apokalyptisch charakterisiert: Tout a croulé comme en une vision d’Apocalypse, la légende même s’est vue blessée à mort. Celle de l’Empire a été détruite par Napoléon III; celle de 1792 a reçu le coup de grâce de M. Gambetta; celle de la Terreur […] a eu sa hideuse parodie dans la Commune; celle de Louis XIV ne sera plus ce qu’elle était depuis le jour où le descendant de l’électeur de Brandebourg a relevé l’empire de Charlemagne dans la salle des fêtes de Versailles.22 Dass der liberale Geschichtsphilosoph von diesem Katastrophenszenario zu dem doch recht banal anmutenden Reformvorschlag einer konstitutionellen Monarchie des Hauses Orléans kommt, 23 ist aufschlussreich für die aus der nationalen Krise resultierende Desorientierung Renans, aber auch für die Berührungspunkte zwischen republikanischen und antirepublikanischen Rekonstruktionen nationaler 20 „Dans l’organisation que la France s’est faite au commencement du siècle, toutes les lignes générales de son histoire contemporaine étaient tracées, révolutions politiques, utopies sociales, divisions des classes, rôle de l’Eglise, conduite de la noblesse, de la bourgeoisie et du peuple, développement, direction ou déviation de la philosophie, des lettres et des arts. C’est pourquoi, lorsque nous voulons comprendre notre situation présente, nos regards sont toujours ramenés vers la crise terrible et féconde par laquelle l’Ancien Régime a produit la Révolution, et la Révolution le Régime nouveau.“ Vorwort zu Les Origines de la France contemporaine, Bd. 1: L’Ancien Régime, Paris 1901, VII-VIII. 21 „Qu’est-ce que la France contemporaine? Pour répondre à cette question, il faut savoir comment cette France s’est faite, ou, ce qui vaut mieux encore, assister en spectateur à sa formation“ (ebd.). 22 Œuvres complètes d’Ernest Renan, éd- H. Psichari, Paris 1947, Bd. I, 334 f. 23 Ebd., 377 ff. 14 Dossier Identität nach 1870. 24 Jedenfalls steht am Ausgangspunkt von Renans Frage nach der Erneuerung Frankreichs wie bei Taine die Überzeugung, dass der Zusammenbruch des Kaiserreichs den Abschluss einer Entwicklung darstelle, in der die französische Gesellschaft zugunsten der in der Republik triumphierenden Partikularinteressen ihren Zusammenhalt verloren habe. Am Ende dieser Entwicklung situiert Renan eine Art identitären Nullpunkt, da die mythischen Grundlagen für die Konstruktionen des Nationalbewusstseins, die die französische Geschichte für die ganze Bandbreite unterschiedlicher politischer Positionen bereitstelle, sich allesamt durch den Zusammenbruch des Kaiserreichs als untauglich erwiesen hätten. Renan wie Taine unterscheiden sich in ihren Überlegungen zur Situation des postimperialen Frankreich allenfalls in Nuancen von militant konservativen Deutungen der Niederlage, die die Revolutionstradition und die darauf aufbauende Republik als verantwortlich für die nationale Katastrophe und damit als endgültig diskreditiert ansehen. So konstatiert Emile de Montégut, Großkritiker der konservativen Revue des deux mondes: „[…] la banqueroute de la révolution française est désormais un fait accompli, irrévocable“. Und er diagnostiziert fast zeitgleich mit Renan ähnlich entschieden den Zusammenbruch aller historisch verbürgten identitären Orientierungen, als deren Inbegriff ihm das in der Semaine sanglante zerstörte Pariser Rathaus gilt: Quinze siècles d’efforts, de travaux, de génie, sont là déshonorées par la flamme. La France ancienne, la France nouvelle, frappées également par des mains brutales qui ne distinguent pas, gisent couchées dans la même poussière.25 Mit einer deutlich anklingenden Nostalgie für das Ancien Régime formuliert Montégut aus diesem Befund die radikal pessimistische Diagnose einer insbesondere seit der Revolution immer weiter fortschreitenden Zerstörung des Nationalbewusstseins: Voyez un peu le spectacle que présente la France au bout de quatre-vingt ans de révolutions; ce n’est pas assez dire, selon la métaphore depuis si longtemps en usage déjà, que c’est une société nivelée jusqu’au ras du sol, il faut ajouter que ce sol lui-même a été retourné, hersé, broyé jusqu’au tuf. Tous les éléments sociaux, c’est à dire ce qui donne à un pays fixité et continuité, ont été tour à tour déracinés; il n’y a plus rien qu’un amas de poussière humaine désagrégée et impuissante.26 Nicht anders als in der Sichtweise Taines oder Renans partizipieren auch für Montégut Revolution und Republik gleichermaßen an einer Auflösung tradierter kollektiver Bindungen, an deren Stelle der „isolement égoïste“, der „intérêt écono- 24 Vgl. die Bilanz, die Claude Digeon in seiner grundlegenden Darstellung La Crise allemande de la pensée française. 1870-1914, Paris 2 1992 zieht: „[…] le sursaut patriotique de la guerre fait de Rena un doctrinaire de droite, anti-républicain, mais les partis monarchiques le déçoivent au point de le rapprocher […] des idées républicaines“ (211). 25 Emile de Montégut, „Où en est la révolution française. Simples notes sur la situation actuelle“, Revue des deux mondes, Bd. 94, 1871, 872-896, 874 f. 26 In der Fortsetzung des eben zitierten Aufsatzes „La Démocratie et la révolution. - Les transformations de l’idée de patrie“, Revue des deux mondes, Bd. 96, 1871, 415-442, 433. 15 Dossier mique“ der Individuen getreten seien. 27 Der Sturz der Monarchie sei die Folge der Zerstörung des Patriotismus durch den Universalismus der Revolutionsideen: „Le jour même où la France sacrifia l’idée de patrie à l’idée d’humanité, l’ancienne monarchie tomba.“ 28 Der für die Position Montéguts grundlegenden Gegensatz von „idée de patrie“ und „idée d’humanité“ wird die Diskussion über eine Neubegründung kollektiver Identität in den folgenden Jahrzehnten bestimmen. In Hinblick auf die Frage nationaler Identität sind so die wesentlichen Positionen bereits kurz nach Kriegsende markiert, die konservative Nationalisten und insbesondere natürlich die antirepublikanische Opposition in den folgenden Jahrzehnten immer wieder formulieren wird. Diesen Kreisen erscheint die Identitätspolitik der Republik, die Erneuerung nationaler Identität auf der Grundlage der „idée d’humanité“, als Bedrohung oder gar Zerstörung der Grundlagen eines aus einer historischen Kontinuität gewachsenen Nationalbewusstseins, der „idée de patrie“, die von der Republik negiert werde. Gibt es in den ersten Jahrzehnten der Republik noch einen verbreiteten Konsens, in dem der Konflikt zwischen konservativen und liberalen Konstruktionen nationaler Identität zumindest im republikanischen Lager durch den Kampf um die Etablierung der Republik und den Revanchegedanken verdeckt werden, 29 so spitzen sich die Auseinandersetzungen mit der Festigung der Republik sowie im Zuge der Dreyfus-Affäre und ihrer Folgen auch hinsichtlich der Begründung des Nationalbewusstseins zu. Diese Auseinandersetzung ist zunehmend geprägt von dem mit der provisorischen Beilegung der Dreyfus-Affäre keineswegs beendeten, um die Jahrhundertwende viel diskutierten Konflikt der „deux France“, 30 der nicht zuletzt in den Auseinandersetzung um rivalisierende Begründungen nationaler Identität ausgetragen wird. Der eben zitierte Gegensatz zwischen der „idée de patrie“ und der „idée d’humanité“ impliziert aus konservativer Sicht eine entschiedene Absage an ein auf die Tradition der Revolution zurückgehendes Selbstverständnis, das auf den Wert- 27 Ebd., 434. 28 Ebd., 436. 29 Die Bedeutung des Revanchedenkens für die ersten beiden Jahrzehnte der Republik charakterisiert Jacques Droz folgendermaßen: „C’est autour de l’idée militaire, autour de l’armée, que s’est maintenu entre 1871 et 1890 environ, l’unité de ce pays vaincu qu’était la France.“ (Les relations intellectuelles franco-allemandes de 1871 à 1914, Paris 1967, 14). 30 Vgl. den historischen Aufriss von Paul Seippel, Les deux France et leurs origines historiques, Paris 1905. Seippel sieht in diesem Konflikt eine Konstante der französischen Geschichte, die mit dem Gegensatz zwischen römischer Tradition und „esprit gaulois“ beginne und sich seit den Anfängen der Republik mit den beiden Lagern der „France de l’Eglise“ und der „France de la Révolution“ fortsetze. Seippel deutet den Konflikt der „deux France“ zugleich als die Auseinandersetzung der beiden Lager um entgegengesetzte Konstruktionen eines Nationalbewusstseins angesichts der Säkularisierungstendenzen der Republik (vgl. 269 ff.). - Der Begriff „deux France“ findet sich bereits in Chateaubriands Deutung der Revolution in den Mémoires d’outre-tombe, wird aber erst um 1900 zu einer gängig gebrauchten Bezeichnung für die beiden Lager der Dreyfus-Affäre und allgemein für den Gegensatz zwischen republikanischen und antirepublikanischen Kräften. 16 Dossier setzungen der Menschenrechtserklärung und zunehmend auf dem republikanischen Laizismus aufbaut. In den Jahrzehnten um die Jahrhundertwende wird in einer Flut an Büchern, Broschüren und Reden eine intensive Kontroverse um die Begründung nationaler Identität ausgetragen. 31 Seit den 1880er Jahren belegen Verbände wie Déroulèdes Ligue des patriotes, im Zuge der Dreyfus-Affäre dann die Ligue de la patrie française sowie der Comité d’action française 32 die Intensität der Auseinandersetzung, in der politische Optionen sich mit rivalisierenden Konstruktionen nationaler Identität verbinden. 33 Aus diesen Kontroversen wird kein Kompromiss zwischen den beiden Lagern der „deux France“ hervorgehen, im Gegenteil, er wird bekanntlich zumindest bis hin zur Vichy-Regierung unvermindert andauern. Wohl aber sind sie der Kontext sowohl für die Entstehung als auch für die Widersprüche einer republikanischen Identitätskonstruktion, die bis hin zu den Diskussionen nach der Jahrtausendwende wirksam bleiben wird. Der Historiker und spätere Akademiker Georges Goyau stellt die Kontroverse der beiden Lager kurz nach der Jahrhundertwende in einer umfangreichen Abhandlung dar, deren Titel die beiden gegensätzlichen Bezugspunkte anführt, denen wir schon bei Montégut und bei den beiden 1898 entstandenen rivalisierenden Ligen begegnet sind: L’idée de patrie et l’humanitarisme. 34 Goyau markiert mit diesen Leitbegriffen, deren Gegensatz er als Widerstreit zwischen einem historischpatriotischen Nationalbewusstsein und einem dieses negierenden universalistischen Denken begreift, den Gegensatz der „deux France“. Eine „France historique, traditionnelle“ stehe einer „France abstraite“ gegenüber, eine Identitätsfindung durch die Konstruktion der Nation als historische Konstante einer Identitätsfindung in humanistischen Werten. 35 Der Kern des Konflikts ist damit klar umrissen. Es geht um die Frage, ob und wie nach den Erfahrungen von 1870/ 71 (neben Sedan natürlich die Commune, die ja den zentrale Bezugspunkt der oben zitierten Position Montéguts bildet) die Revolution als Gründungsereignis gelten kann, ob das republikanische Frankreich sich als aus den Werten der Revolution begründete Nation begreifen kann bzw. soll. Für Goyau ist ein Nationalbewusstsein nur in einer ungebrochenen historischen Kontinuität möglich, als das einer „France […] qui cherche dans son propre 31 Eine historisch systematisierende Darstellung der dabei verhandelten „lois du patriotisme“ unternimmt Louis Legrand, L’idée de patrie, Paris 1898. 32 Beide 1898 gegründet und als antirepublikanische Gruppierungen der „antidreyfusards“ gegen die gleichzeitig gegründete, universalistisch orientierte Ligue pour la défense des droits de l’homme gerichtet. 33 Vgl. dazu die eingehende Analyse von Zeev Sternhell, La droite révolutionnaire. Les origines du fascisme français, Paris 1978, Kap. 2 sowie Jean-Pierre Rioux, Nationalisme et conservatisme. La Ligue de la patrie française, Paris 1977. 34 Paris 1902, 4 1913. 35 Ebd., 372 f. 17 Dossier passé des maximes de conduite et des leçons de vertu et qui les y trouve à profusion.“ 36 Noch die Kolonialpolitik der Republik gilt Goyau im Sinne dieses historischen Kohärenzpostulats als eine Fortführung des Erbes der Monarchie. 37 Seiner Ansicht nach wird die Nation jedoch zunehmend durch die Auflösung eines historisch kohärenten Nationalbewusstseins gefährdet, das allein Ordnung und Identität stiften könne: La France, à son tour - vieille France de Jeanne d’Arc ou jeune France de Gambetta - se lasserait bientôt d’elle-même et finirait par lasser l’humanité, si, faisant bon marché de sa ‘rigidité’ nationale, elle s’abandonnait au rêve ‘fluide’ de devenir la cité du genre humain au lieu de rester, avant tout, la patrie de tous les Français […].38 Nationale Identität, so folgt aus dieser Überlegung, kann nur mit eindeutigen Grenzziehungen begründet werden, und diese Grenzziehungen würden durch eine universalistische Wertorientierung in Frage gestellt. Die Metaphorik der „rigidité“ und des „rêve fluide“ transportiert eine Furcht vor der Auflösung tradierter Ordnungen, die sich um die Jahrhundertwende ohnehin in vielen Bereichen von Gesellschaft und Kultur vollzieht und die man auf die Revolution als Beginn dieser Auflösung zurückbeziehen kann. 39 Diese Metaphorik wird als Abwehr einer Übertragung des von der Revolution in Gang gesetzten Prozesses einer Auflösung tradierter Strukturen auf das Nationalbewusstsein verstehbar, als eine Affirmation vergangener historischer Größe. Es vermag dabei nur auf den ersten Blick zu verwundern, dass der überzeugte Republikaner Gambetta in dem eben angeführten Zitat mit Jeanne d’Arc, der mythischen Figur eines traditionsorientierten Nationalbewusstseins parallel gesetzt wird. Bei Guyau wie bei vielen anderen konservativen Nationalisten in den ersten Jahrzehnten der Dritten Republik wird Gambetta nach seinem frühen Tod - vor allem gegen die pazifistischen Tendenzen der radikalen Republikaner - als Vertreter eines entschiedenen, eine Absage an den republikanische Universalismus implizierenden Revanchedenkens geschätzt, das sich auf die Geschichte Frankreichs als „grande nation“ beruft um die Forderung nach der Revanche als notwendig zu begründen. 40 Entscheidend für diese Tendenzen einer Begründung bzw. Neubegründung eines traditionsorientierten Nationalbewusstseins ist jedoch die Annahme, dass dieses nur durch die Konstruktion einer historischen Kontinuität der Nation legitimiert und stabilisiert werden kann, während seine Begründung in universalistischen 36 Ebd., 373 37 Ebd., 288 ff. 38 Ebd., 387. 39 Schon in seinen einleitenden Überlegungen stellt Guyau die „histoire traditionelle de notre grandeur“ und das damit verbundene Konzept der „patrie“ als ein „élément d’ordre […] indispensable“ dar (ebd., XXI f.). 40 Vgl. dazu ebd., IX f. und 197 ff. sowie allgemein aus traditionsorientierter Sicht Jean de Viguerie, Les deux patries. Essai historique sur l’idée de patrie en France, Bouère 1998, 132 ff., das Zitat dort 134. 18 Dossier Wertsetzungen den Zusammenhalt der Nation als abgegrenztes Kollektiv in Frage stelle (sozusagen ‚verflüssige’, wenn man Goyaus Metaphorik aufnehmen will). Ziel der auf historische Kontinuität rekurrierenden Identitätskonstruktion ist es (paradoxerweise), eine Basis für nationale Identität zu entwerfen, die keinem Wandel unterliegt. Noch grundsätzlicher als Goyau formuliert Ferdinand Brunetière eine solche Konstruktion, der Leiter der Revue des deux mondes und, bevor er von Barrès und Maurras rechts überholt wird, einer der Vordenker der gemäßigten (republikanischen) nationalkatholischen Rechten. 41 In einer 1896 gehaltenen Rede über die „Idée de patrie“, die zunächst als Broschüre und dann in der Sammlung Discours de combat veröffentlicht wurde, 42 verbindet er eine Naturalisierung der Nation mit ihrer historischen Essentialisierung und Sakralisierung. 43 Die Nation sei einerseits die naturgegebene Fortführung menschlicher Kollektivbildung (insbesondere der Familie), andererseits Resultat eines historischen Prozesses: […] l’histoire, en faisant de nous les ouvriers de la même œuvre, a fait de nous la race française. Grâce à notre histoire, grâce aux épreuves subies en commun et aux épreuves volontairement subies, grâce aux exemples et aux leçons de quelques grands hommes, s’il y a dans le monde, pour user d’un mot à la mode, une patrie qui soit vraiment un organisme, je veux dire quelque chose de merveilleusement divers, d’harmonieusement complexe […], c’est la patrie française.44 Brunetière denkt die Geschichte als zugleich einheitlichen und einheitsstiftenden Prozess, letztlich nach dem theologisch-teleologischen Modell der Heilsgeschichte. Weil die französische Geschichte eine so bewundernswerte organische Einheit hervorgebracht hat, beweist sie für Brunetière in einem Zirkelschluss, dass sie nur als die Geschichte dieser besonderen Nation verstanden werden kann. In ihr zeige sich eine „intention générale […] identique à elle-même depuis plus de dix siècles; et c’est ce qui achève de vivifier l’idée de patrie.“ 45 Mit dieser historischen Kontinuität soll ganz ähnlich wie bei Goyau die Unveränderlichkeit und die Schicksalhaftigkeit des nationalen Zusammenhangs begründet werden - gegen jeden Versuch, die Grundlagen nationaler Identität zu relativieren oder sie gar in Frage zu stellen. Dazu sakralisiert Brunetière den Patriotismus, die „religion de la patrie“, indem er ihn im Rekurs auf Pascal für höher denn alle Vernunft erklärt. 46 Nun ist offensichtlich, dass die eben zitierten Formulierungen Brunetières gar nicht so weit entfernt sind von den Grundlagen des oben bereits angesprochenen 41 Vgl. Antoine Compagnon, Connaissez-vous Brunetière? Essai sur un antidreyfusard et ses amis, Paris 1997. 42 Paris 1900, 119-157. 43 Vgl. ebd., 128: „[….] l’idée de patrie a d’abord un fondement naturel et, pour ainsi parler, une base physiologique ou physique; - elle a une base traditionnelle, un fondement historique; - et elle a enfin, ne craignons pas de le dire, une base ou un fondement mystique, sans lequel elle [ne pourrait pas être] la chose sainte et sacrée qu’elle est.“ 44 Ebd., 145. 45 Ebd., 145 f. 46 Ebd., 153 f. 19 Dossier „roman national“, der ja ebenfalls in den Jahrzehnten um die Jahrhundertwende konstruiert wird. Diese Nähe liegt daran, dass der Geschichtsmythos, den die Dritte Republik in ihren Schulen popularisieren wird, selbst schon Bestandteil der Kompromisse ist, mit denen eine republikanische Konstruktion nationaler Identität akzeptabel gemacht und die Konflikte um die Orientierung der Republik - insbesondere nach der Boulanger- und der Dreyfus-Affäre beigelegt werden sollten. Ich werde auf diese Dimension der republikanischen Konstruktion nationaler Identität, die problematischen Kompromisse, aus denen sie entstanden ist, gleich noch zurückkommen. Brunetière selbst polemisiert in diesem Kontext insbesondere gegen Renans historisch relativierende Bestimmung der Nation in seinem berühmten Vortrag „Qu’est-ce qu’une nation“ von 1882. 47 Renans Position „entraînait l’idée de patrie dans la ruine commune de la religion et de la morale“, 48 lautet sein zentraler Einwand, der auf den - rationalistisch und mit dem historischen Wandel begründeten - Verzicht auf eine unabänderlichen Basis für das Nationalbewusstsein in Renans Argumentation zielt. 49 Dabei übersieht oder übergeht Brunetière allerdings den Umstand, dass seine Position in Hinblick auf die historische Begründung der Nation derjenigen Renans gar nicht so fern ist. Wenn Renan die Nation als „l’aboutissant d’un long passé d’efforts, de sacrifices et de dévouements“ begreift, wenn er schreibt „les ancêtres nous ont fait ce que nous sommes“, 50 dann bezieht er in seine Begriffsbestimmung durchaus die historische Dimension - und mit den Begriffen „sacrifices“ und „dévouements“ auch die nationalgeschichtliche Emphase - mit ein, die bei Brunetière ebenfalls präsent ist. Was er allerdings ablehnt, sind die „abstractions métaphysiques et théologiques“, 51 mit denen Brunetière sein Geschichtsbild auflädt. Entscheidend ist also für die traditionsorientierte Position die Frage, welche Bedeutung der Konstruktion einer historischen Dimension der Nation zugeschrieben wird: Renan geht von einer von der Geschichte nicht determinierten freien Willensbekundung des Individuums aus, 52 während Brunetières metaphysische Konzep- 47 Henriette Psichari (ed.), Œuvres complètes de Ernest Renan, Paris 1947, Bd. 1, 887-906; hier insbes. 903 f., vgl. auch 905: „Les nations ne sont pas quelque chose d’éternel. Elles ont commencé, elles finiront.“ 48 „L’idée de patrie“, 155. 49 Vgl. auch ebd., 156: „[…] si l’idée de patrie n’était fondé qu’en «raison», on pourrait toujours concevoir un progrès nouveau de la raison dans le triomphe duquel cette idée périrait à son tour.“ 50 „Qu’est-ce qu’une nation“, 904. 51 Ebd., 905. 52 Dies ist der Sinn der vielzitierten Formulierung „L’existence d’une nation est […] un plébiscite de tous les jours“ (ebd., 904). Es ließe sich lange darüber diskutieren, inwieweit in dieser radikal voluntaristischen Formulierung ein taktisches Kalkül eine Rolle spielt, verweist sie doch implizit auf das von Bismarck abgelehnte Plebiszit über die Annexion von Elsass-Lothringen, wie auch die Weiterführung dieser Formulierung deutlich macht: „Dans l’ordre des idées que je vous soumets, une nation n’a pas plus qu’un roi le droit de 20 Dossier tion geschichtlicher Prozesse dafür keinen Spielraum lässt. In dieser Hinsicht bereitet er Barrès’ Konzeption nationaler Identität als Einsicht in eine unauflösliche Schicksalsgemeinschaft vor, die dieser in der Formulierung „Nationalisme est acceptation d’un déterminisme“ 53 kondensieren wird. Nationale Identität wird in dieser Konstruktion der Nation als dem Wollen der Individuen vorausliegend und ihrer Entscheidung entzogener historischer Zusammenhang gedacht, dem man sich nicht entziehen kann (und darf), den man nur erkennen und annehmen kann: „Un nationaliste, c’est un Français qui a pris conscience de sa formation.“ 54 Mit seiner berühmten Formulierung „la terre et les morts“ entwirft Barrès eine mythische Dimension der Geschichte als Grundlage nationaler Identität, die nur die Einsicht in die Notwendigkeit ihrer fraglosen Geltung für die Gegenwart zulässt. In Auseinandersetzung mit diesen einflussreichen Stimmen und mit dem Geschichtsbild, das sie propagieren, muss die Republik sich positionieren. III. In die Neuauflage eines älteren Sammelbandes fügt der oben bereits zitierte Emile de Montégut 1888 einen Artikel über „La démocratie et la patrie“ ein, in dem er seine kritische Sicht des nachrevolutionären Nationalbewusstseins zu der drastischen Diagnose zuspitzt: „Une sorte d’émulation patricide règne dans le camp de la démocratie.“ 55 Dieses harsche Urteil verdeutlicht den Legitimationsdruck, unter dem die Identitätspolitik der Republik gegenüber einer nationalistischen Kritik stand, die ihr grundsätzlich die Fähigkeit abspricht, den Zusammenhalt der Nation zu gewährleisten. Insbesondere nachdem einerseits die Republik sich seit 1879 zunehmend nachhaltig in der Traditionslinie der Revolution situiert hatte (etwa mit der heftig umstrittenen Einführung des Nationalfeiertags 56 und dann mit der Inszenierung der Hundertjahrfeier der Revolution), und nachdem andererseits die gemeinsame nationalistische Orientierung am Revanchegedanken seine Bedeutung dire à une province: «Tu m’appartiens, je te prends.» Une province, pour nous, ce sont ses habitants; si quelqu’un en cette affaire a droit d’être consulté, ce sont les habitants.“ Jedenfalls hat Renans liberale Konzeption des Nationalbewusstseins viel mit der Erfahrung des Verlusts von Elsass-Lothringen zu tun und steht der nationalistischen Position Brunetières näher, als dieser wahrhaben will. Zur teilweisen Gemeinsamkeit nationalistischer und republikanischer Konstruktionen des Nationalbewusstseins vgl. auch Zeev Sternhell, La droite révolutionnaire, 85 ff. 53 Scènes et doctrines du nationalisme (1902), in: Philippe Barrès (ed.), L’œuvre de Maurice Barrès, Paris 1966, Bd. V, 17-466, hier: 25. 54 Ebd. 55 Libres opinions morales et historiques, Paris 2 1888, 367. 56 Vgl. zu dieser Kontroverse die Textauszüge, die Antoine de Baecque in Pour et contre la Révolution, Paris 2002, 397 ff. zusammengestellt hat. 21 Dossier verloren hatte, wird die nationalistische Position zunehmend zu einer zugleich antirepublikanischen. Diese Gegensätze werden dadurch verschärft, dass auf der republikanischen Linken - von den Sozialisten einmal ganz abgesehen 57 - viele Stimmen auf eine Neubegründung des Nationalbewusstseins allein durch humanistische Wertvorstellungen und die Überwindung seiner nationalistischen Grenzziehungen in einer übernationalen Zusammenarbeit drängen. Die konsolidierte Republik steht sozusagen zwischen zwei gegensätzlichen Lagern der Rechten und der Linken und muss ihre Identitätskonstruktion in der Auseinandersetzung mit ihnen entwickeln. Ein Skandal aus dem Jahr 1891 verdeutlicht schlaglichtartig diese Konfliktlage. Im April veröffentlicht der Schriftsteller Remy de Gourmont in dem von Autoren der literarischen Avantgarde neu begründeten Mercure de France einen Artikel mit dem provokanten Titel „Le joujou patriotisme“, in dem er mit dem Revanchedenken abrechnet, das er einem überholten Patriotismus zuschreibt. 58 Den Gegenstand seiner Kritik charakterisiert er als […] ce virus nouveau, dénommé: Patriotisme. Nouveau, oui, sous sa forme épaisse qu’il assume depuis vingt ans, car son vrai nom est vanité: nous sommes la Civilisation, les Allemands sont la Barbarie.59 Gourmont wird nach diesem heftig umstrittenen Plädoyer für eine Annäherung an den ‚Erbfeind’ und seiner Absage an den Patriotismus als „sottise suprême“ 60 von seinem Posten an der Bibliothèque nationale entlassen. Seine Position wird deshalb so heftig attackiert, weil sie symptomatisch für eine in Kreisen der Avantgarde und der republikanischen Linken verbreitete Tendenz zur Überwindung eines Nationalbewusstseins ist, dessen Konstruktion nationaler Identität auf der als historische Gegebenheit gedachten Rivalität zwischen den Nationen aufbaut und das Nationalbewusstsein aus deren Alterität begründet. In ihrer radikalen Form formuliert eine solche Perspektive Alfred Naquet, einer der aktivsten parlamentarischen Vertreter der republikanischen Linken (er hat maßgeblich zur Verabschiedung des Gesetzes über die Ehescheidung von 1884 beigetragen) und trotz seiner politischen Wendungen im Umfeld des Boulangismus ein überzeugter Pazifist. In einer umfangreichen Abhandlung mit dem programmati- 57 Zu deren Position vgl. etwa Augustin Hamon, Patrie et internationalisme, Paris 1896 oder Gustave Hervé, Leur patrie, Paris 1906. Dort findet sich beispielsweise die für den sozialistischen Internationalismus kennzeichnende Formulierung: „Par quelle aberration, les parias des diverses patries se jettent-ils à la gorge les uns les autres? C’est le patriotisme qui accomplit ce miracle“ (37). 58 Die Hohlheit des Revanchedenkens ironisiert Gourmont folgendermaßen: „La question, du reste, est simple: l’Allemagne a enlevé deux provinces à la France, qui elle-même les avait antérieurement chipées. Vous voulez les reprendre? Bien. En ce cas, partons pour la frontière. Vous ne bougez pas? Alors foutez-nous la paix.“ (Remy de Gourmont, Le joujou patriotisme, éd. etc. Jean-Pierre Rioux, Paris 1967, 60). 59 Ebd., 62. 60 Ebd., 65 f. 22 Dossier schen Titel L’humanité et la patrie entwirft er ein am Aufklärungsdenken geschultes Tableau vom Fortschritt des menschlichen Geistes und des nationalistischen Denkens, das in einem programmatischen Kapitel mit dem Titel „La patrie moderne“ gipfelt. 61 Darin erscheint als Zielvorstellung die Aufhebung nationaler Gegensätze in einer nationenübergreifenden gemeinsamen Wertorientierung, in der die Leitvorstellungen „justice“ und „progrès“ an der Stelle territorialer Bindungen einen kollektiven Zusammenhang begründen: Elle [la patrie] tend chaque jour davantage à s’affranchir de ce qu’il pouvait y avoir de territorial en elle pour revêtir de plus en plus un caractère moral. Elle est aujourd’hui la cité idéale constituée par les intelligences issues de la Révolution qui poursuivent sur tous les points du monde une réalisation de justice et de progrès […] Quiconque aime la liberté, la justice et se sent fils de la Révolution lui appartient.62 Eine solche ‚Entgrenzung’ nationaler Identität („la patrie s’étend partout ou des cœurs d’hommes battent pour le même idéal“ 63) ist auch unter den radikalen Republikanern sicherlich nicht die Regel, doch werden in vielen Texten um die Jahrhundertwende Positionen vertreten, die zumindest insofern mit Naquets humanistischem ‚Internationalismus’ vergleichbar sind, als sie nationale Identität mit einer entsprechenden Wertorientierung begründen. Ein Beispiel hierfür sind die einschlägigen Artikel in den großen liberalen Enzyklopädien der Zeit. In Larousses Grand dictionnaire universel du XIX e siècle etwa wird im Artikel „Patrie“ die Frage aufgeworfen: „Pourquoi ne doit-on pas […] sacrifier la patrie à l’humanité? “, die zunächst zu dem Eingeständnis führt: „[…] il n’y a rien, absolument rien à répondre, dans le domaine de la théorie, à un tel argument.“ 64 Dieses theoretische Dilemma wird dann in dem folgenden Kompromiss aufgelöst: En pratique, rappelons les services rendus par le patriotisme. Ajoutons encore que quiconque combat pour la liberté, dans les limites même d’une patrie définie, lutte en réalité pour la liberté du genre humain.65 Diese Formulierung ist charakteristisch für die universalistische Dimension der Konstruktion nationaler Identität, die in der Dritten Republik formuliert wird. Der Larousse entwickelt sie in einer weitgehend rationalistischen Argumentation, in deren Licht eine territoriale Begründung des Nationalbewusstseins „une superstition 61 „A mesure que l’homme progresse, que l’intelligence s’élève, que la morale s’épure, l’idée de patrie s’élargit“ (L’humanité et la patrie, Paris 1901, 207). 62 Ebd., 220. 63 Ebd., 222. 64 Die im Folgenden zitierte Grande Encyclopédie stellt eine entsprechende Position am Ende des Artikels „Nation“ ganz unkommentiert dar: „Pour certains démocrates, le principe des nationalités n’a qu’une utilité provisore. […] la nation est, à leurs yeux, une organisation transitoire qui devra disparaître pour faire place à l’union des peuples“ (Bd. 24, 832). 65 Artikel „Patrie“, Bd. XV,1, 406 f. 23 Dossier indigne d’un esprit sérieux“ wäre und in der die einzige historische Referenz die Revolution darstellt. Noch ausgeprägter ist die rationalistische Grundstruktur in dem entsprechenden Artikel der Grande Encyclopédie, der unter anderem in Auseinandersetzung mit Brunetières Konzeption historischer Schicksalhaftigkeit eine rein vernunftorientierte Begründung des Patriotismus entwickelt. 66 Diese Argumentation führt zu dem Gedanken, dass das nationale Erbe „une partie déterminée de l’œuvre d’intelligence et de justice que l’espèce humaine a pour mission d’accomplir“ sei, der je nationalspezifische Patriotismus also zugleich im allgemeinen Horizont der Menschheit „telle ou telle forme déterminée de l’idéal“ darstelle. 67 Im Lichte dieser Überlegungen erscheint dann das französische Nationalbewusstsein als Verbindung von nationaler und humanistischer Orientierung: Parce que notre patrie a proclamé par le monde la liberté des individus et la fraternité des peuples, l’amour de notre patrie est sans doute celui qui s’accorde le mieux avec le respect de la personne et le culte de l’humanité. Les idées rationalistes, individualistes et humanitaires, voilà l’âme de la patrie française.68 Diese Position impliziert eine eindeutige Absage sowohl an den nationalistischen Geschichtsdeterminismus wie auch an den damit verbundenen Revanchegedanken. 69 Sie formuliert in zugespitzter Form eine Konstruktion nationaler Identität, die auf einer Wertorientierung aufbaut, allerdings ohne das Nationalbewusstsein als zu überwindende Vorstufe eines humanistischen Ideals zu relativieren, wie dies Naquet tut. Wie vage auch immer die Werte erscheinen mögen, auf die diese Konstruktion sich beruft, sie soll Frankreich auf eine Moderne öffnen, die diese Werte im Sinn einer aufklärerischen Fortschrittsvorstellung verkörpert. In diesem Sinn formuliert Ferdinand Buisson, der theoretisch wie praktisch wichtigste Begründer des laizistischen Schulwesens hinter und unter Jules Ferry, 70 um die Jahrhundertwende die Alternativen, vor denen Frankreich steht: Que sera la France? Sera-t-elle la nation croyante qui continue sous sa forme moderne, sous la forme progressiste et socialiste au sens large du mot son rôle séculaire 66 Artikel „Patrie“, Bd. 19, 99-101. Der Verfasser ist Célestin Bouglé, zusammen mit Durckheim einer der Begründer der französischen Soziologie, der ähnlich wie viele andere Autoren der namentlich gezeichneten Artikel dieser Enzyklopädie den liberalen Geist der seit 1880 neu strukturierten Sorbonne vertritt. 67 Ebd., 100. 68 Ebd. 69 Ähnlich sieht etwa auch ein Artikel der liberalen Revue bleue zur Weltausstellung die Zukunft der französischen Nation nicht im „prestige de nos armes“, sondern im „éclat doux, pacifique et tout puissant de la France riche, sereine et heureuse, étonnant et instruisant le monde par ses merveilles de travail et d’esprit“ (zit. nach Cl. Digeon, op. cit., 360). 70 Vgl. dazu Vincent Peillon, Une religion pour la République. La foi laique de Ferdinand Buisson, Paris 2010. 24 Dossier d’initiatrice d’idées, de prophète de la liberté, de soldat de Dieu et de l’humanité, ou bien sera-t-elle la nation sage et lasse qui se replie et s’enferme sur elle-même? 71 Auch Buisson geht es im Grunde um eine Überwindung der Grenzziehungen gegenüber anderen Nationen, mit denen das traditionsorientierte Nationalbewusstsein begründet wird, um die Transformation nationaler Besonderheit in eine Orientierung, die die Identität der Nation mit einem humanitären Idealismus begründet. Diese Verbindung, grundlegend für das Selbstverständnis der radikalen Republikaner, will den Patriotismus selbst nicht aufheben, ihn aber auf eine letztlich pazifistische Grundlage stellen, in der das Revanchedenken keinen Platz mehr hat. 72 Um die Jahrhundertwende konturieren sich so Elemente einer republikanischen Identitätskonstruktion, die bis in die Gegenwart von Bedeutung bleiben werden. Die große Abwesende in den zuletzt angeführten universalistischen Konzeptionen nationaler Identität ist jedoch die Geschichte Frankreichs, der bereits mehrfach erwähnte „roman national“. Um dessen Integration in die republikanische Konzeption der Nation zu verstehen, muss man zum einen die bereits mehrfach erwähnte Legitimationsproblematik der Republik einbeziehen. Durchaus vergleichbar mit der zeitgenössischen Ausgrenzung der deutschen Sozialdemokratie werden die Republikaner in einer Flut von Abhandlungen und Broschüren als ‚vaterlandslose Gesellen’ angegriffen, die im Namen humanistischer Ideen die historischen Wurzeln der Nation verleugneten und ihr damit zugleich die Möglichkeit nähmen, als einheitliches und seiner Einheit bewusstes Kollektiv zu handeln. 73 Die Integration des „roman national“ in das republikanisch orientierte Nationalbewusstsein kann man zunächst als Antwort auf diese insbesondere im Umfeld der Dreyfus-Affäre militant formulierte Kritik an dem mangelnden Traditionsbewusstsein des radikalen Flügels der Republikaner verstehen. 74 Zugleich aber ist die Entwicklung des „roman national“ ein wesentlicher Bestandteil des Prozesses der „inneren Staatsbildung“, in dem Frankreich im 19. Jahr- 71 Le devoir présent de la jeunesse, Paris 1899, 25 f. 72 In einer 1916 veröffentlichten Sammlung seiner Aufsätze zu den Konflikten der Jahrhundertwende mit dem bezeichnenden Titel Quand les Français ne s’aimaient pas zieht Maurras eine rückblickende Bilanz, in der er den „culte de la défaite“ zu einem wesentlichen Grundzug der Position seiner republikanischen Gegner erklärt (Paris 1916, XVI). 73 Eine Sammlung einschlägiger Vorwürfe, unter anderem mit harschen Invektiven gegen Buisson (der zu den „meurtrières tentatives des internationalistes contre les patriotes“ beitrage), findet sich etwa bei Emile Bocquillon, La crise du patriotisme et l’école, Paris 1905 (Zitat 81). Noch kurz vor den Ersten Weltkrieg reiht Paul Pilant, Le patriotisme en France et à l’étranger, Paris 1912, die Republikaner pauschal in den „parti antipatriotique“ ein, den er in den 1890er Jahren entstehen sieht (55 ff.). 74 Vgl. etwa die einschlägigen Artikel Barrès, der wegen des republikanischen Mangels an Traditionsbewusstsein von einer „France dissociée et décérebrée“ spricht (Scènes et doctrines du nationalisme, 87 und 99). 25 Dossier hundert überhaupt erst wirtschaftlich und gesellschaftlich zu einer Nation wird. 75 Es geht dabei zunächst natürlich um die Entwicklung der materiellen Voraussetzungen für nationale Verbindungs- und Austauschprozesse, doch ist diese „innere Staatsbildung“ auch mentalitätsgeschichtlich ein entscheidender Einschnitt. Erst in diesem Prozess wird der lokale oder allenfalls regionale Bewusstseinshorizont der großen Mehrheit seiner Bewohner sich nach und nach in einen nationalen verwandeln. Erst in diesem Prozess gewinnt die Frage nationaler Identität, die zuvor im Wesentlichen die Angelegenheit der städtischen Mittel- und Oberschichten war, eine landesweite Bedeutung. 76 Die Vermittlung und Durchsetzung eines Nationalbewusstseins wird zugleich zu einer wesentlichen Bedingung für die Verankerung der Republik im kollektiven Bewusstsein und damit für deren dauerhafte Existenz selbst. Die wesentliche Vermittlungsinstanz, mit der die Dritte Republik sich derart im Bewusstsein der breiten Masse der Bevölkerung verankern kann, ist bekanntlich das laizistische Schulwesen. Dessen wesentliches Instrument sind die Schulbücher, seit den 1880er Jahren in Millionenauflagen verbreitet und auch im überwiegenden Teil der Familien präsent, häufig als einziges gedrucktes Medium. 77 Mit der Alphabetisierung insbesondere der Landbevölkerung vollzieht sich über die Schule wie über ihre Manuels eine „révolution culturelle qui fait pénétrer le livre dans toutes les couches de la société après 1870“ .78 In diesem Kontext gewinnt eine mythische Nationalgeschichte, eben der „roman national“ nach und nach wesentliche Bedeutung. Es liegt auf der Hand, dass in der schulischen Vermittlung die rationalistische Abstraktheit des republikanischen Universalismus schwer umzusetzen ist. Dennoch ist es bemerkenswert, dass eines der ersten und erfolgreichsten Schulbücher, Le Tour de la France par deux enfants, eine ganz auf die Vermittlung eines Nationalbewusstseins ausgerichtete Mischung aus Geographie-, Wirtschaftskunde- und Lesebuch, zwar auch Elemente der Nationalgeschichte enthält, diese aber 75 Zu diesem Begriff und zu seiner Bedeutung für die Entwicklung Frankreichs im 19. Jahrhundert vgl. die differenzierte Darstellung von Heinz Gerhard Haupt, Sozialgeschichte Frankreichs seit 1789, Frankfurt 1989, insbes. 80 ff. 76 Vgl. dazu die bedeutenden regionalgeschichtlichen Studien von Eugène Weber mit dem programmatischen Titel Peasants into frenchmen, Stanford 1976 (frz. La fin des terroirs. La modernisation de la France rurale 1870-1914, Paris 1983). Weber zeigt an vielfältigen Beispielen, wie wenig bis in die ersten Jahrzehnte der Dritten Republik bei der Landbevölkerung (bis ins 20. Jahrhundert die überwiegende Mehrheit der französischen Bevölkerung) Elemente eines Nationalbewusstseins existieren, bis hin zu einer völligen Unkenntnis des Begriffs ‚France’ oder - außerhalb der betroffenen Regionen im Norden und Osten - eines so einschneidenden Ereignisses wie des Deutsch-Französischen Kriegs (102 ff. etc.). 77 Vgl. dazu Jacques und Mona Ozouf, „Le Tour de la France par deux enfants“, in: Pierre Nora, éd., Les lieux de mémoire, 3 Bde., Paris 1997, Bd. I, 277-301. 78 Jean-Yves Mollier, „Le manuel scolaire et la bibliothèque du peuple“, in: Romantisme, no. 80/ 1993, 75-93, hier 81. 26 Dossier nicht als identitäre Orientierung anbietet. Der Plot des Buchs, die Geschichte zweier lothringischer Kinder, die im Deutsch-Französischen Krieg Waisen geworden sind, Franzosen bleiben wollen und deshalb quer durch Frankreich reisend ihren Onkel suchen, ist ganz auf den Neubeginn ausgerichtet, den Wiederaufbau des Landes nach der Niederlage. Das nationale Identitätsangebot, das der Text vielfach entwirft, bezieht sich auf diesen Neuanfang, etwa, wenn eine Figur den beiden Kindern erklärt: […] l’honneur de la France, c’est le travail et l’économie. C’est parce que le peuple français est économe et laborieux qu’il résiste aux plus dures épreuves, et, qu’en ce moment même, il répare rapidement ses désastres. Ne l’oublions jamais, mes enfants, et faisons-nous gloire, nous aussi, d’être toujours laborieux et économes.79 Auch wenn der Wink mit dem pädagogischen Zaunpfahl überdeutlich ist, wird das Nationalbewusstsein hier jedenfalls auf praktische und alltägliche Qualitäten bezogen, die Niederlage nicht durch Revanchedenken, sondern durch erfolgreiche Wirtschaftstätigkeit überwunden. 80 Nationale Identität wird in ein zukunftsorientiertes Projekt der friedlichen Entwicklung der Nation integriert, was zweifellos den Grundpositionen der liberalen Republikaner entspricht. 81 Die erste Auflage des Tour de la France par deux enfants erscheint 1877 und steht am Anfang des Schulbuchbooms, in dem es sich bis nach dem Ersten Weltkrieg behaupten kann. Dominiert wird dieser Markt jedoch vor allem im Bereich des zunehmend ausgeweiteten Geschichtsunterrichts von Ernest Lavisse, in dessen Geschichtsbüchern seit den republikanischen Schulreformen der „roman national“ in Millionenauflage den Schülern der Republik als Identitätsangebot präsentiert wird. Lavisse, den Pierre Nora wegen seiner entscheidenden Funktionen in 79 G. Bruno, Le tout de la France par deux enfants, Ausgabe von 1877, http: / / www.gutenberg.org/ files/ 27782/ 27782-h/ 27782-h.htm, 117 f. (17.9.2009). 80 Zur Frage der Bedeutung des Deutsch-Französischen Kriegs in diesem Plot und der Deutung der Reisegeschichte der beiden Kinder als Verdrängung der Niederlage und Inszenierung eines Neubeginns vgl. meinen Beitrag „Le tabou de la défaite. Le Tour de la France par deux enfants et le discours identitaire sous la Troisième République“, in: Ulrich Pfeil (ed.), Mythes et tabous des relations franco-allemandes au 20 e siècle, Frankfurt 2011 (im Druck). - Strukturell ist die Perspektive einer Neubegründung der Nation, die Le Tour de la France par deux enfants aufbaut, dem Schluss von Zolas La Débâcle vergleichbar. Auch der berühmte Schlusssatz des Werks stellt die Zukunft Frankreichs nach der militärischen Niederlage und der Niederwerfung der Commune im Blick auf den Protagonisten Jean als Aufgabe des Protagonisten dar, neu zu beginnen: „Le champ ravagé était en friche, la maison brûlée était par terre; et Jean, le plus humble et le plus douloureux, s’en alla, marchant à l’avenir, à la grande et rude besogne de toute une France à refaire.“ (Emile Zola, Les Rougon Macquart. Histoire naturelle et sociale d’une famille sous le second Empire, Bd. V, éd. etc. par Henri Mitterand, Paris 1967 (Bibliothèque de la Pléiade), 912). 81 Die unter dem transparent aufklärerischen Pseudonym G. Bruno schreibende Autorin Augustine Fouillé gehört zu den liberalen Zirkeln der Dritten Republik. Vgl. dazu Jacques und Mona Ozouf, „Le Tour de la France par deux enfants“, 289 ff. 27 Dossier der Begründung der Geschichtswissenschaft wie des Geschichtsunterrichts als „instituteur national“ bezeichnet, 82 ist der eigentliche Erfinder des „roman national“ und zugleich dessen massenwirksamer Verkünder. Trotz bzw. sogar gegen ein republikanisches Selbstverständnis, das die Revolution als Ursprungsereignis und Begründung eines neuen Wertsystems denkt, ist Lavisse maßgeblich daran beteiligt, die Kontinuität der Nationalgeschichte als Bestandteil des republikanischen Nationalbewusstseins durchzusetzen. Er tut dies auf zwei Ebenen: zum einen, indem er die Notwendigkeit einer historischen Mythologie für die Begründung nationaler Identität im Schulunterricht plausibel macht, und zum anderen, indem er seine Geschichtserzählung so konstruiert, dass sie es ermöglicht, auch das Ancien Régime in die republikanische Geschichte Frankreichs zu integrieren. In einem Vortrag aus dem Jahr 1881 hält Lavisse ein grundsätzliches Plädoyer für einen - zunächst nur teilweise vorgesehenen - eigenständigen Geschichtsunterricht in der Elementarschule. Er argumentiert dort unter anderem gegen eine Position, die er folgendermaßen charakterisiert: „Négligez les vieilleries. Que nous importent Mérovingiens, Carolingiens, Capétiens mêmes? Nous datons d’un siècle à peine. Commencez à notre date.“ 83 Gegen diesen trotz der Übertreibung deutlich als entschieden republikanisch erkennbaren Standpunkt formuliert Lavisse zwei Argumente. Zum einen: Belle méthode, pour former des esprits solides et calmes, que de les emprisonner dans un siècle de luttes ardentes […], que d’exposer à l’admiration de l’enfant l’unique spectacle de révoltes, même légitimes et de les induire à croire qu’un bon Français doit prendre les Tuileries au moins une fois dans sa vie, deux fois s’il est possible, si bien que, les Tuileries détruites il ait envie quelque jour de prendre d’assaut, pour ne pas démériter, l’Elysée ou le Palais Bourbon.84 Noch in der grotesken Übertreibung wird die Revolutionsangst als zentrales Motiv deutlich (der letzte Tuileriensturm ist gerade zehn Jahre her! ), mit dem der Unterricht in der Geschichte des Ancien Régime legitimiert wird (als dessen Qualitäten damit implizit Ordnung und Stabilität behauptet werden). Die domestizierende Funktion des Geschichtsunterrichts wird darin ebenso deutlich wie in dem zweiten Argument: L’homme du peuple en France, le paysan surtout, est l’homme le plus prosaïque du monde. […] Il faut verser dans cette âme la poésie de l’histoire. Contons lui les Gaulois et les druides, Roland et Godefroi de Bouillon, Jeanne d’Arc et le grand Ferré, Bayard et tous ces héros de l’ancienne France avant de lui parler des héros de la France nouvelle […].85 82 Pierre Nora, „Lavisse, instituteur national. Le ‘Petit Lavisse’, évangile de la République“ in: ders. (ed.), Les lieux de mémoire, Neuausgabe Paris 1997, Bd. 1, 239-275. Erstaunlicherweise geht Nora allerdings auf die im Folgenden zitierten Texte Lavisses nicht ein. 83 „L’enseignement historique en Sorbonne et l’éducation nationale“, in: Ernest Lavisse, Questions d’enseignement national, Paris 1885, 1-43, hier: 39. 84 Ebd. 85 Ebd., 40. 28 Dossier Der Geschichtsunterricht als Heldensage vergangener Taten hätte so die Aufgabe „de peupler de sentiments nobles ces âmes inhabitées“, wie Lavisse die Adressaten seiner Geschichtskonzeption bezeichnet. Bezeichnend ist, dass er nur Figuren der „ancienne France“ nennt, was trotz der Erwähnung der „France nouvelle“ darauf verweist, dass seine Konstruktion der Nationalgeschichte im Wesentlichen auf dem Ancien Régime aufbaut. Jedenfalls sollen so nicht abstrakte Konzepte, sondern die affektive Identifikation mit Figuren der nationalen Vergangenheit zur Grundlage für die Entstehung eines Nationalbewusstseins werden. Darin kann man ein Kalkül erkennen, das unausgesprochen auf die Vermittlungsprobleme einer Wertorientierung zielt, wie sie der republikanischen Konzeption der Nation eigentlich entsprochen hätte. Die ältere Geschichte wird der Republik als eine leicht vermittelbare Mythologie angeboten, deren „poésie“ das Nationalbewusstsein wirkungsvoller im Gefühlshaushalt der Schüler zu verankern vermag als humanistische Ideale. In dem Artikel „Histoire“ des um die Jahrhundertwende maßgeblichen Dictionnaire de pédagogie et d’instruction primaire 86 greift Lavisse die Idee einer Poesie der Geschichtserzählung auf und beschreibt dann die patriotische Dimension des Geschichtsunterrichts folgendermaßen: […] expliquer que les hommes qui, depuis des siècles, vivent sur la terre de France, ont fait, par l’action et par la pensée, une certaine œuvre à laquelle chaque génération a travaillé; qu’un lien nous rattache à ceux qui ont vécu, à ceux qui vivront sur cette terre […]. Il s’agit ici de la chair de notre chair et du sang de notre sang.87 Damit wird der Kern des „roman national“ deutlich: die Nation als eine historische und quasi familiale Kontinuität, in die die Schüler sich einzuordnen hätten. Für die Wirksamkeit dieser Einordnung sind die persuasiven Effekte der Erzählung zuständig; inhaltlich aber gründet das darauf aufbauende Nationalbewusstsein auf der Konstruktion einer Schicksalsgemeinschaft - nicht anders als etwa bei Brunetière oder Barrès. Der einzige wesentliche Unterschied zu diesen nationalkonservativen Positionen besteht darin, dass Lavisse explizit, wenn auch vielleicht nur du bout des lèvres die Republik als Zielpunkt des „roman national“ ansetzt: nicht mehr die Monarchie, sondern die Republik ist das Ziel der französischen Geschichte und damit auch die Vollendung der Nation. 88 Das ist nun auch der wesentliche inhaltliche Sinneffekt, den Lavisse mit seiner Geschichtserzählung erzeugt. Er ersetzt die Teleologie der traditionellen Geschichtsdeutung durch eine republikanische, indem er die Geschichte als gemeinsames Werk von Königen und Volk deutet. Exemplarisch wird diese Verbindung etwa in den Sätzen deutlich, in denen Lavisse die Geschichte des Hundertjährigen Kriegs zusammenfasst: 86 F. Buisson u.a. (eds.), Bd. I, 1, Paris 1887, 1264-1272. 87 Ebd., 1271. 88 Nora („Lavisse, instituteur national“, 240 ff.) stellt ausführlich den zögerlichen Wandel des dem Kaiserreich verhafteten Lavisse zum Republikaner dar. 29 Dossier C’est donc au milieu des malheurs de la patrie que s’est éveillé chez nos pères l’amour de la France. Les rois ont fait l’unité de la France, le peuple l’a défendue.89 In dieser - ‚poetisch’ im Vergleich zu seinem Vorbild höchst blassen - Reprise von Michelets Jeanne d’Arc-Deutung zeigt sich das grundlegende Erzählmuster, mit dem Lavisse operiert: König und Volk, Monarchie und Republik werden in einer höheren Einheit zusammengefasst, der „patrie“, die der eigentliche Gegenstand seiner Geschichtserzählung ist. Die Nation wird zu dem transzendentalen Bezugspunkt, an dem alle historischen Akteure sich immer schon orientiert haben und der ihre Identität begründet. Mit gutem Grund kann man dieses Erzählmuster als laizistische Version der nationalistisch-royalistischen Geschichtskonzeption im Umfeld der Action française deuten: C’est que son enseignement se présente comme une inversion simple, mais décisive des valeurs du néo monarchisme […]. Lavisse a transposé, sur le mode laïque et républicain, les justifications de la monarchie. La République est devenue la Providence de la France; elle appelle les citoyens à l’unité nationale pour le salut de la patrie comme le roi, chez Bossuet, rassemble ses sujets pour faire leur salut.90 Im Grunde ist es nur die Umbesetzung der Akteure und Leitkonzepte, die die Konstruktionsprinzipien des „roman national“ von traditionalistischen Varianten der Geschichtsdeutung unterscheidet. Er begründet ein Nationalbewusstsein, in dem sich die Größe der Nation aus dem Mythos ihrer historischen Kontinuität erklärt und eine Verpflichtung für die Gegenwart wird. Das Kolonialreich ist in dieser Perspektive eine Bestätigung (nach der Niederlage im Deutsch-Französischen Krieg) und Fortführung dieser Größe der Nation in der Gegenwart, einer Nation, die sich allein im Hexagon konstitutiert, obwohl „la plus grande France“ sich Ende des 19. Jahrhunderts über vier Erdteile erstreckt. 91 Die Geschichte der Kolonisierung wird letztlich zur Fortführung der Nationalgeschichte mit anderen Mitteln. Lavisse hat mit seinem „roman national“ die Dominanz der Nationalgeschichte über das universalistische Ideal in der republikanischen Konstruktion nationaler Identität mit begründet. Diese konstituiert sich als ein Kompromiss zwischen idealistischem Anspruch und historischem Mythos, ein Kompromiss, in dem jedoch der Mythos die Ideale dominiert. Diese Konstruktion 89 Zit. nach ebd., 263. 90 Ebd., 272. 91 Vgl. exemplarisch die folgende Zusammenfassung: „Les propriétés de la France. La France possède aujourd’hui hors de l’Europe un grand nombre de pays. D’un côté de l’Algérie, nous avons la Tunisie; de l’autre côté, nous sommes en train de conquérir le Maroc. Dans d’autres parties de l’Afrique, nous possédons encore de grands territoires. En Asie, nous avons aussi de vastes possessions, dans un pays qu’on appelle l’Indo- Chine. Une grande partie de ces conquêtes ont été faites par la République après la malheureuse guerre de 1870. […] Partout la France enseigne le travail. Elle crée des écoles, des routes, des chemins de fer, des lignes télégraphiques. La France a le droit d’être fière de ces conquêtes“ (Ernest Lavisse: Histoire de France. Cours élémentaire, Paris 1913, 169 f.). 30 Dossier hat schon um die Jahrhundertwende die Abgrenzung vom ‚Fremden’ (der ersten Welle der Arbeitsimmigration 92) nicht nur nicht verhindert, sondern erst ermöglicht, und diese Funktion hat die republikanische Konstruktion nationaler Identität aufgrund ihrer Widersprüchlichkeit zumindest im Konfliktfall bis in die aktuellen Debatten weiter erfüllt. IV. Si nous voulons que demain la France continue de signifier quelque chose pour nos enfants, nous devons être fiers de notre histoire et la leur apprendre.93 So lautet der Kernsatz einer Rede zur Erinnerung an die Résistance, mit der der Präsident Sarkozy selbst im November 2009 zugleich in der Identitätsdiskussion Position bezog. Er tut dies im übrigen in einer Rede, die selbst mit einer heterogenen Blütenlese von Elementen der französischen Geschichte den Kampf der Résistance mit dem Hundertjährigen Krieg, mit Valmy oder dem vom französischen Generalstab bewusst herbeigeführten Blutbad am Chemin des Dames im Ersten Weltkrieg in eine Traditionslinie des nationalen Widerstands stellt. 94 Diese Rede behauptet mit solchen willkürlich zusammen gewürfelten Beispielen eine Kontinuität des nationalen Denkens, die man kaum anders denn als Geschichtsklitterung bezeichnen kann. Sie zeigt sowohl durch die Bedeutung, die sie der Geschichte für die nationale Identität zuschreibt, wie auch durch die eklektische Mobilisierung beliebig erscheinender historischer Referenzen, dass und wie die Identitätsdiskussion durch den „roman national“ und durch die Widersprüche des republikanischen Identitätsdiskurses belastet ist. Dessen heterogene Bestandteile können sowohl eine liberale Öffnung des Landes wie auch die Verteidigung des ‚Eigenen’ und die Ausgrenzung des ‚Fremden’ legitimieren, 95 und es ist offensichtlich, 92 Gérard Noiriel hat diesen Zusammenhang ausführlich untersucht und gezeigt, wie das Nationalbewusstsein in den Debatten um die Integration und die Verleihung der Staatsbürgerschaft zu einer Abwehr der italienischen, portugiesischen etc. Arbeitsimmigration der Jahrhundertwende wird: Immigration, racisme et antisémitisme en France (XIX e -XX e siècles), Paris 2007, Kap. II und III, insbes. 127 ff. 93 Discours de M. le Président de la République française à La Chapelle-en-Vercors (Drôme) - Jeudi 12 novembre 2009, zit. nach http: / / www.elysee.fr/ president/ les-actualites/ discours/ 2009/ discours-de-m-le-president-de-la-republique.1678.html, 24.3.2010. 94 Vgl. hierzu und zum Folgenden ausführlicher meine Studie „Eine postmoderne nationale Identität? Die Banalisierung des historischen Gedächtnisses in der aktuellen Debatte in Frankreich“. 95 Vgl. etwa die folgende Stellungnahme auf der Internetplattform der Identitätsdiskussion: „Etre français, c’est appartenir à une lignée; une lignée «qui vient du fond des âges» (Charles De Gaulle). Parler de «nos ancêtres les Gaulois» est globalement vrai; car c’est reconnaître que le peuple français demeure l’héritier des Gallo-Romains; sa composition ethnique est restée quasiment inchangée jusqu’au début des années 1970: blanche et 31 Dossier dass der politische Diskurs beiden Einstellungen gerecht zu werden versucht, indem er - insbesondere im Zeichen der Postmoderne - den Rückgriff auf die Geschichte zu einem beliebigen Spiel werden lässt. Nun könnte man - in Fortführung der oben zitierten Position von Lavisse - argumentieren, dass ein historisches Bewusstsein unabdingbarer Bestandteil eines Identitätsbewusstseins sein muss, weil es affektive Identifikation anbietet, während abstrakte Wertsetzungen keine greifbaren und nachvollziehbaren Bezüge ermöglichen. Nicht nur die eben zitierte Rede ist jedoch ein Beleg dafür, dass das heutige Geschichtsbewusstsein der Franzosen nicht mehr auf einen wenigstens in sich kohärenten „roman national“ zurückgeht, sondern in seinen eher von einer kaleidoskopartigen Anhäufung seiner Referenzen bestimmt wird. Ein kurioses Beispiel aus dem verflossenen Internetportal der Identitätsdiskussion sei abschließend zitiert: L’identité de la france96 n’existerait pas sans son histoire d’une richesse unique et exceptionnelle car le passé de la france correspond à la france d’aujourd’hui si ancrée et si enracçinée qu’elle ne peut l’oblitérer. La France n’est pas un pays comme les autres dont trois dates qui changeront les espérances du Monde: en 843 le mot France apparait par le traité de verdun, jeanne d’arc sauve le royaume de france contre les anglais, 1789 prise de la Bastille et la revolution française liberté égalité fraternité, Napoleon et le code civil, le traité d’amiens et la bataille de Moscou changea le Monde et le général de gaulle impressionnera le Monde par le caractere si français comme le renoncement, l’honneur, l’humilité la résistance à la tyrannie.97 Angesichts dieses bunten Sammelsuriums von Ereignissen und mythischen Figuren (die Trias Jeanne d’Arc, Napoleon und de Gaulle ist in den Beiträgen des Diskussionsforums omnipräsent) wäre es vielleicht besser, die Franzosen würden auf das Erbe von Lavisse und Konsorten verzichten, um sich offener ihren Gegenwartsproblemen zuzuwenden. Vielleicht wäre dann die mittlerweile auch schon wieder verblichene Devise der Fußballweltmeisterschaft von 1998, „black-blancbeur“ eine der heutigen Gesellschaft und den sie prägenden Konflikten angemessenere Identitätskonstruktion. Jedenfalls wäre es eine, die den aktuellen Problemen Frankreichs, die es zu lösen gälte, eher gerecht würde als das Amalgam aus Geschichtsmythologie und Universalismus, das bis heute vorherrscht. européenne.“ (http: / / contributions.debatidentitenationale.fr/ nos-valeurs-historiques-et-communes, 8.5.2010). Das Unbehagen über die ‚multikulturelle’ Entwicklung der französischen Gesellschaft ist in vielen dieser Diskussionsbeiträge ein offensichtliches Motiv. 96 Orthographie so im zitierten Text. 97 Zit. nach http: / / www.debatidentitenationale.fr/ IMG/ pdf/ 100104_-_Debat_Identite_Nationale_- _Analyse_TNS_Sofres.pdf, 21, 13.4.2010.