eJournals lendemains 36/144

lendemains
0170-3803
2941-0843
Narr Verlag Tübingen
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2011
36144

‚Diversité française‘ oder ‚Assimilation comme toujours‘? Die Dauerausstellung der Cité nationale de l’histoire de l’immigration als Ausdruck national-identitärer Verunsicherung

2011
Nadine Pippel
ldm361440077
77 Dossier Nadine Pippel ‚Diversité française‘ oder ‚Assimilation comme toujours‘? Die Dauerausstellung der Cité nationale de l’histoire de l’immigration als Ausdruck national-identitärer Verunsicherung 1. Einleitung In seiner Monografie Le creuset français bediente sich der Historiker Gérard Noiriel 1988 der dem amerikanischen Diskurs über die Nation entlehnten Metapher des ‚Schmelztiegels‘, um die Notwendigkeit zu unterstreichen, den Anteil der Immigranten an der französischen Gesellschaft anzuerkennen. Doch erst zur Jahrtausendwende hin wurde das assimilatorisch funktionierende Integrationsmodell à la française in Frage gestellt und durch die Einrichtung von Antidiskriminierungsinstanzen wie dem Groupe d’études et de lutte contre les discriminations und später der Haute Autorité de lutte contre les discriminations et pour l’égalité modifiziert. 1 Es dauerte ein weiteres knappes Jahrzehnt, bis eine solche Kenntnisnahme und Anerkennung der Immigration erneut und dieses Mal auf kultureller Ebene institutionell verankert wurde: Am 10. Oktober 2007 ist die Cité nationale de l’histoire de l’immigration (Cité) im Osten von Paris eröffnet worden. Das Museum für französische Immigrationsgeschichte soll Offenheit und Toleranz gegenüber Immigranten symbolisieren und die Geschichte der Immigration nach Frankreich als eine Erzählung entwerfen, in der Immigranten schon seit langer Zeit integriert worden seien. Ein solches Narrativ soll Vorurteile gegenüber immigrierten Staatsbürgern abbauen und zu einem anderen Umgang mit ihnen verhelfen. Es soll ihnen damit die Anerkennung zuteil werden, die ihnen bisher nicht gewährt worden ist. 2 Diese für die Cité definierte Aufgabe kann in der These zugespitzt werden, dass der Anspruch auf Offenheit gegenüber Immigranten und auf eine Dekonstruktion von Vorurteilen überlagert wird durch einen deutlich integrativen Impetus, der den sozialen und republikanischen Zusammenhalt Frankreichs 1 Vgl. Gérard Noiriel, Le creuset français. Histoire de l’immigration, 19 e -20 e siècles, Paris, Seuil, 2 2006; Claus Leggewie, „SOS France. Ein Einwanderungsland kommt in die Jahre“, in: Deutsch-Französisches Institut (ed.), Deutsch-Französisches Jahrbuch 1990, Opladen, Leske + Budrich, 1990 131-156, 145. Vgl. etwa auch David Blatt, „Immigrant Politics in a Republican Nation“, in: Alec G. Hargreaves, Marc McKinney (eds.), Post- Colonial Cultures in France, London, New York, Routledge, 1997, 40-55; Patrick Weil, La république et sa diversité. Immigration, intégration, discrimination, Paris, Seuil, 2005, 75sq. 2 Vgl. etwa „Le projet“, in: www.histoire-immigration.fr/ la-cite/ le-projet-de-la-cite (22.08.2011). 78 Dossier zum wichtigsten Ziel der Cité macht. Anders formuliert bedeutet dies die Erzählung einer Immigrationsgeschichte, die vor allem der Fest- und Fortschreibung einer vorgegebenen, aber offenbar verunsicherten nationalen Identität Frankreichs dient. Dass die Cité als Institutionalisierung einer solchen Erzählung und als Reaktion auf den Eindruck von national-identitärer Verunsicherung verstanden werden kann, soll im Folgenden gezeigt werden. Dazu wird zunächst ein Einblick in die Vorgeschichte und Planungsphase der Cité gegeben, um die Aufgaben und Ziele zu bestimmen, die für das Museum definiert worden sind (2). Danach sollen die Dauerausstellung beschrieben und die Aspekte der Immigration, die darin ausgelassen wurden oder womöglich nur unzureichend repräsentiert sind, als Leerstellen der Dauerausstellung diskutiert werden (3). Schließlich wird vor diesem Hintergrund die Darstellung des Konzepts der ‚diversité‘ untersucht, das hier als Schlüsselbegriff der beabsichtigten Anerkennung von Immigranten verstanden wird (4). In der Schlussbetrachtung werden diese Beobachtungen gebündelt und im Hinblick auf die Einordnung der Cité in den urbanen Raum zusammengefasst (5). 2. Planung und Umsetzung Mit Le creuset français und mehr noch mit der zwei Jahre später gegründeten Association pour un musée de l’immigration hatte Noiriel schon früh die Notwendigkeit verdeutlicht, die französische Einwanderungsgeschichte zu dokumentieren, und die Idee lanciert, ein Immigrationsmuseum einzurichten. Dennoch dauerte es bis zum Sieg der französischen, ethnisch gemischten Nationalmannschaft in der Fußballweltmeisterschaft von 1998 und zur damit einhergehenden ‚Black-Blanc- Beur‘-Euphorie, bis das Thema erneut angestoßen wurde: Patrick Weil, Wissenschaftler am Centre national de la recherche scientifique, und Philippe Bernard von Le Monde trugen dem damaligen Premierminister Lionel Jospin die Idee vor, und auch Verbände machten sich für einen Gedenkort der Immigration stark. Der 2001 von Driss el Yazami und Rémy Schwartz veröffentlichte Bericht „Pour la création d’un centre national de l’histoire et des cultures de l’immigration“ verhalf schließlich dazu, das Projekt zu konkretisieren. Darin loteten die Verfasser auf Jospins Geheiß die Machbarkeit, Möglichkeiten und Ziele eines Immigrationsmuseums aus. 3 Zwei Jahre später beauftragte der Nachfolger Jospins, Jean-Pierre Raffarin, den ehemaligen Kultusminister Jacques Toubon damit, eine Planungskommission einzurichten. Diese bestand aus drei Gruppen, dem wissenschaftlichen und admi- 3 Vgl. Driss el Yazami, Rémy Schwartz, „Rapport. Pour la création d’un centre national de l’histoire et des cultures de l’immigration“, in: lesrapports.ladocumentationfrancaise.fr/ BRP/ 014000807/ 0000.pdf (22.08.2011); Yves Baunay und Evelyne Bechtold-Rognon, „Changer les regards sur l’immigration. Entretien avec Gérard Noiriel“, in: institut.fsu.fr/ nvxregards/ 39/ 39-ENTRETIENNoiriel.pdf (16.05.2010), 60; „Un projet en germe depuis plusieurs années“, in: www.histoire-immigration.fr/ la-cite/ historique-du-projet (22.08.2011); Noiriel, op. cit. 79 Dossier nistrativen Beirat mit Vertretern aus Hochschulen, Wirtschaft, Politik, und der Zivilgesellschaft, unter ihnen Weil und Noiriel, sowie einer dritten Gruppe von Immigrantenverbänden. Diese vielfältig besetzte Kommission erarbeitete von April 2003 an rund ein Jahr lang Ziele und Inhalte des Immigrationsmuseums. 4 Der im ersten Halbjahr 2004 veröffentlichte, 250 Seiten starke Bericht beschreibt in drei Teilen die Methode, das Museumsangebot und Veranstaltungsprogramm der Cité und gibt im Vorwort, in der Einleitung und im Anhang Gegenstand und Ziele des geplanten Museums sowie die Debatten der Planungskommission wieder. Er entwirft die Cité als ein Museum und zugleich als ein Kulturzentrum, das neben einer Dauerausstellung kulturelle Veranstaltungen und Wechselausstellungen anbieten soll, um verschiedene Aspekte der französischen Immigrationsgeschichte beleuchten zu können. Als Gegenstand der Dauerausstellung wurde die Geschichte der Immigration nach und in Frankreich seit 1800 bis heute geplant. Ein chronologischer Parcours und thematisch spezialisierte Ausstellungsabschnitte zu zeit- und generationenübergreifenden Themen, emblematischen Immigrationsorten oder spezifischen Fragestellungen sollten zeigen, dass das Thema der Immigration in Frankreich als selbstverständlicher Bestandteil der nationalen Identität begriffen werde. Damit sollte die gesamte französische Bevölkerung, nicht allein Immigranten, angesprochen und eine Offenheit symbolisiert werden, die der Stärkung des nationalen Zusammenhalts zuträglich sein könnte. 5 Diese Offenheit sollte zudem in der Vielfältigkeit der Herangehensweisen an das Thema gespiegelt werden. Es war die Ausstellung von Objekten historischer, künstlerischer und anthropologischer Art geplant, die über Ankäufe und einen sogenannten appel à collecte beschafft werden sollten, einen Aufruf an Immigrantenverbände und Privatpersonen mit dem Ziel, der Cité besondere und alltägliche Gegenstände, die von persönlichen Immigrationsschicksalen zeugen, zu überlassen. 6 Das Museumsgebäude sollte entsprechend der Anerkennung, die Immigranten mit der Einrichtung der Cité zuteil werden sollte, prestigeträchtig sein. Sie ist daher im sogenannten Palais des Colonies im Osten von Paris eingerichtet worden. Das imposante Gebäude im Art déco-Stil wurde anlässlich der Kolonialausstellung von 4 Jacques Toubon, „Mission de préfiguration“, in: www.histoire-immigration.fr/ sites/ default/ files/ musee-numerique/ documents/ ext_media_fichier_301_rapport_integral.pdf (22.08.2011), 9, 113-131. 5 Vgl. ibid., 11, 13-14, 35, 51, 54. 58, 60-64, 101. Vgl. auch Jean-Pierre Raffarin, „Discours du Premier ministre. Cité nationale de l’histoire de l’immigration“, 08.07.2004, in: www.histoire-immigration.fr/ sites/ default/ files/ musee-numerique/ documents/ ext_media_fichier_36_discours_premier_ministre.pdf (22.08.2011), 7. 6 Vgl. Anouk Cohen, „Quelles histoires pour un musée de l’Immigration à Paris! “, in: Ethnologie française, Mémoires plurielles, mémoires en conflit, 3, 2007, 401-408, 405; „Le projet scientifique et culturel de la Cité nationale de l’histoire de l’immigration“, in: www.histoire-immigration.fr/ sites/ default/ files/ musee-numerique/ documents/ ext_media_fichier_245_psc_cite.pdf (22.08.2011), 17-19; Jacques Toubon, „Préface“, in: La Cité nationale de l’histoire de l’immigration (ed.), Guide de l’exposition permanente, Antwerpen, Deckers Snoeck, 2009, 2-3, 3. 80 Dossier 1931 gebaut und beherbergte in der Folge zunächst ein Überseemuseum, dann bis 2003 ein Museum für Afrika und Ozeanien. 7 Auch wenn es aufgrund seiner kolonialen Prägung und der noch immer vorhandenen kolonialistischen Verzierungen an der Außenfassade und zum Teil auch im Inneren des Gebäudes von der Planungskommission und später in der Öffentlichkeit kontrovers diskutiert worden ist, wurde es letztlich ausgewählt, und die Wahl des Gebäudes mit dem geplanten Umbau des Palais des Colonies begründet. Mit dieser Neugestaltung und einer Ausstellungssektion zur Geschichte der französischen Kolonialisierung und ihren Einfluss auf die gegenwärtige Immigration in Frankreich sollte der Versuch unternommen werden, die Bedeutung des Gebäudes als Repräsentation des empire colonial produktiv umzudeuten. 8 Nicht allein das Gebäude jedoch sorgte für Kontroversen. Nachdem Raffarin im Juli 2004 die Einrichtung der Cité verkündet hatte, und die Planungen für den Umbau zum Museum sukzessive umgesetzt worden waren, traten wenige Monate vor der Eröffnung der Cité im Sommer 2007 acht Mitglieder ihres wissenschaftlichen Beirats, darunter Noiriel, zurück. Sie protestierten damit gegen das im Mai zuvor gegründete und als stigmatisierend empfundene Ministère de l’immigration, de l’intégration, de l’identité nationale et du co-développement. 9 Noiriel etwa erläuterte, dass mit der Ankündigung, ein solches Ministerium einzurichten, die Verknüpfung der Begriffe Immigration und nationale Identität „une catégorie de pensée et d’action qui s’impose à tous, quelle que soit l’actualité du jour“ geworden sei. 10 Diese von Noiriel befürchtete, allein problemorientierte Wahrnehmung von Immigranten steht indes dem Anspruch entgegen, der für die Cité formuliert worden ist: den Anspruch, Offenheit zu symbolisieren und dadurch dazu beizutragen, Vorurteile gegenüber Immigranten abzubauen. Und auch der Umstand, dass die Cité am 10. Oktober 2007 letztlich weitgehend unbemerkt und in Abwesenheit des neuen Präsidenten Nicolas Sarkozy und der Vertreter der zuständigen Ministerien eröffnet wurde, sorgte dafür, dass die Cité während der Planungsphase und der Eröffnung mehrfach in die Schlagzeilen geriet. 11 7 Maureen Murphy (ed.), Un Palais pour une Cité. Du musée des colonies à la Cité nationale de l’histoire de l’immigration, Paris, Réunion des musées nationaux, 2007, 10-49. 8 Vgl. Toubon, op. cit., 66sq, 138, 217; Jacques Toubon, „Préface“, in: Maureen Murphy (ed.), op. cit., 5. 9 Vgl. „L’immigration, l’intégration, l’asile et le développement solidaire“, in: www.immigration.gouv.fr (22.08.2011); Gérard Noiriel, A quoi sert „l’identité nationale“, Marseille, Agone, 2007, 139-148. Das Ministerium ist mittlerweile in ein Ministère de l’immigration, de l’intégration, de l’asile et du développement solidaire umgetauft worden. 10 Noiriel, op. cit., 146. 11 Die zuständigen Ministerien sind der genannte Ministère de l’immigration, de l’intégration, de l’asile et du développement solidaire, das Kultusministerium sowie die beiden Ministerien für Bildung und Forschung. Vgl. Noël Blandin, „Ouverture polémique de la Cité nationale de l’histoire de l’immigration“, in: www.republique-des-lettres.fr/ 10111-cite-histoireimmigration.php (27.11.2010). Vgl. auch „Mémoire et polémique. Ouverture de la Cité 81 Dossier 3. „Repères“. Die Dauerausstellung der Cité und ihre Leerstellen Der Weg in die Dauerausstellung geht zunächst durch die imposante Eingangspforte des Palais des Colonies und eine große Halle zu einer ebenso eindrucksvollen Treppe, die zur „Repères“ genannten Ausstellung in der zweiten Etage führt. Große, von der Decke hängende Tafeln dienen dort im sogenannten „Prologue“ dem Überblick über weltweite Migrantenströme in den letzten zweihundert Jahren, eine Wandtafel erklärt zudem, dass die Ausstellung die Immigrationsgeschichte in Frankreich thematisiere. Ein Kunstobjekt von Kader Attia mit dem Titel „La machine à rêve“ von 2008, das eine modisch gekleidete dunkelhäutige Frau vor einem Süßigkeitenautomat zeigt, soll die permanente Gespaltenheit von Immigranten zwischen der eigenen Herkunft und dem Wunsch nach Zugehörigkeit zur neuen Wahlheimat veranschaulichen. 12 Rechts und links zweigen Räume ab. Ein Blick in den linken Raum, der sich als eine Empore oberhalb des mit kolonialistischen Motiven dekorierten Veranstaltungssaals im Erdgeschoss erweist, zeigt die Objekte, die Immigranten nach dem genannten appel à collecte dem Museum zur Verfügung gestellt haben, sowie Bildschirme mit Videoausschnitten von Gesprächen mit Immigranten und Informationen, die den Besuchern Fragen zu Immigration, Integration und den republikanischen Werten beantworten. Die von der Planungskommission vorgesehene chronologische wie auch thematische Repräsentation der Immigrationsgeschichte ist in der Dauerausstellung, die im rechten Raum beginnt, umgesetzt. Dem Über- und Einblick dienen dort neun Ausstellungssektionen, die weitgehend chronologisch geordnet sind und drei thematischen Bereichen zugeteilt werden können: 13 Die Sektionen „Emigrer“, „Face à l’Etat“, „Terre d’accueil“ und „France hostile“ thematisieren mögliche Stationen der Immigration von der Abreise aus dem Heimatland über die Beweggründe von Immigranten für die Einwanderung nach Frankreich bis hin zur Ankunft und Konfrontation mit dem französischen Staat und einer manchmal aufgeschlossenen, manchmal fremdenfeindlichen Öffentlichkeit. Anschließend wird in den Sektionen „Ici et là-bas“, „Lieux de vie“, „Au travail“, „Enracinements“ und „Sport“ gezeigt, wie sich Immigranten direkt nach ihrer Ankunft und im Laufe der Zeit in Frankreich eingerichtet, organisiert und in die französische Gesellschaft eingebracht haben. Der letzte Bereich der Ausstellung ist mit „Diversité“ übertitelt und umfasst die Beiträge, die aus den jeweiligen Religionen, Kulturen und Sprachen der Immigranten nach Frankreich gebracht worden waren und zu einem Teil der französischen Gesellschaft geworden sind. Neben dieser chronologischen Übersicht werden die Geschichten einzelner Immigranten und Immigrantengruppen erzählt - wie von der Planungskommission nationale de l’histoire de l’immigration“, in: www.evene.fr/ lieux/ actualite/ ouverture-citenationale-histoire-immigration-1001.php (22.08.2011). 12 La Cité nationale de l’histoire de l’immigration, op. cit., 112sq. 13 Vgl. ibid., 3. 82 Dossier vorgesehen und zudem mit einer erstaunlichen Fülle und Vielfalt an Ausstellungsobjekten und Darstellungsarten. Es wird beispielsweise die Maison russe bei Paris als ein Ort dargestellt, an dem Einwanderer in Frankreich ein Leben nach russischer Art aufrechterhalten hätten, 14 oder auf die polnische Chemikerin Marie Curie rekurriert, der laut Ausstellungskatalog erst nach ihrem Tod im Jahr 1934 und letztlich erst mit der Überführung ins Panthéon im Jahr 1995 nationale Bedeutung zuerkannt worden sei. 15 Die Comics des Tunesiers Georges Wolinski thematisieren die Zerrissenheit von Immigranten zwischen den Heimatländern und dem Einwanderungsland, 16 und eine weitere Installation, die auf mehreren Leinwänden Menschen beim Packen ihrer Koffer zeigt, weist das Reisemotiv als anthropologische, als geradezu universelle Konstante aus. 17 Dieser Vielfältigkeit an Objekten und Perspektiven stehen indes eine verkürzte Darstellung und die Auslassung von Teilen der französischen Immigrationsgeschichte entgegen. Am Phänomen der Emigration kann das gezeigt werden. Das Thema wird, obgleich die Planungskommission seine Aufnahme in die Dauerausstellung diskutiert, letztlich aber keine Rubrik dazu vorgesehen hat, an zwei Stellen der Dauerausstellung indirekt oder direkt verhandelt. 18 In der Rubrik „Ici et là-bas“ werden Lebensorte in Frankreich und den Herkunftsländern der Immigranten gezeigt, in der den Aspekt der Emigration hervorhebenden Sektion „Emigrer“ zudem einzelne Schicksale abgebildet und die politischen, wirtschaftlichen oder kulturellen Beweggründe für den Aufbruch nach Frankreich verdeutlicht. Ein solches Schicksal gibt hier besonders eindrucksvoll die einer Bildergeschichte ähnliche Fotoarbeit „Kingsley. Carnet de route d’un immigrant clandestin“ des Kameruners Olivier Jobard aus dem Jahr 2003 wieder. Darin wird der lange und beschwerliche Weg von der heimlichen Ausreise aus dem Heimatland bis zur illegalen Einreise nach Frankreich gezeigt, wo die carte de séjour das Ziel der Mühen gewesen sei. 19 Dass die Fotoarbeit in der Cité ausgestellt wird, kann als Versuch gewertet werden, die Immigration als ein vielschichtiges Phänomen darzustellen, das nicht erst mit der Ankunft im Zuwanderungsland Frankreich beginnt. Allerdings geraten in dieser Rubrik, die in den Planungen durch Toubons Kommission noch nicht vorgesehen worden war, die Bedingungen und damit die Komplexität der Emigration aus dem Blick. So wird die Emigration, die einen kurzen oder längeren Aufenthalt in Frankreich, eine erneute Ab- oder Weiterreise oder auch ein Pendeln zwischen Frankreich und den Herkunftsländern beinhalten 14 Vgl. ibid., 104-108. 15 Vgl. ibid., 88sq. 16 Vgl. ibid., 90sq. 17 Vgl. ibid. 26-27. 18 Vgl. Toubon, op. cit., 81. 19 Vgl. La Cité nationale de l’histoire de l’immigration, op. cit., 36sq. 83 Dossier könnte, nicht berücksichtigt. 20 Stattdessen liegt der Schwerpunkt in der Dauerausstellung auf den verschiedenen Gruppen von Immigranten und ihren Einzelschicksalen, als deren Ziel allein die Ankunft und Niederlassung in Frankreich dargestellt wird. Die repräsentierte Geschichte bleibt damit vor allem eine Einwanderungsgeschichte, das Phänomen der Migration erscheint nicht seiner vollständigen Bedeutung entsprechend dargestellt. Der Umstand, dass Ein- und Auswanderung, Binnen- und Transitwanderung, Migrationen aus französischen Provinzen, den ehemaligen Kolonien oder aus den DOM/ TOM-Gebieten in der Dauerausstellung der Cité nicht berücksichtigt werden, lässt sich auch am Namen des Museums ablesen, der den Begriff der Immigration enthält und die Migration vernachlässigt. 21 Gänzlich ausgelassen wurde in der Dauerausstellung die Kolonialthematik. Bemerkenswert ist das insofern, als die Darstellung der Zusammenhänge von Immigration, Kolonialisierung und Entkolonialisierung von der Planungskommission durch den Umbau des Palais des Colonies und eine Ausstellungssektion dazu vorgesehen worden war. In den „Repères“ wurde dieser Anspruch jedoch nicht umgesetzt, denn es gibt weder eine Rubrik zu diesem Thema noch einen Abschnitt, der die geschichtsträchtige Bedeutung des Gebäudes kritisch thematisieren und seine symbolische Umdeutung vermitteln würde. Gleichwohl fand im September 2006 in der Bibliothèque nationale de France eine Tagung zur Kolonialisierung und Immigrationsgeschichte statt. Darin diskutierten Experten die Zusammenhänge der beiden Themenfelder, beispielsweise die Beziehungen zwischen der Karibik und dem Hexagon im Zuge der sogenannten postkolonialen Immigration. 22 Aufschlussreich ist daran, dass die Tagung anstelle einer von der Planungskommission noch für 2006 vorgesehenen Wechselausstellung zum gleichen Thema stattfand, die jedoch aus Sorge, Immigration per se als ein kolonial beeinflusstes Phänomen darzustellen, zurückgezogen worden war. Stattdessen hatte die Tagung die Aufgabe, eine weitere Wechselausstellung zur Kolonialschau von 1931 vorzubereiten, die im Jahr 2008 umgesetzt wurde. 23 Unter dem Titel „1931. Les étrangers au temps de l’Exposition coloniale“ wurde der Kristallisationspunkt der französischen Kolonialvergangenheit, das Jahr 1931, herausgegriffen und in seiner Vielschichtigkeit gezeigt. Diese hatte zum einen in der pompösen Feier der franzö- 20 Vgl. hierzu Noiriel, op. cit., XI, und Brigitte Jelen, „‚Leur histoire est notre histoire‘. Immigrant Culture in France between Visibility and Invisibility“, in: French Politics, Culture and Society, 23, 2005, 101-125, 113. 21 In Anlehnung an die Analyse von Cohen, op. cit., 405, von Benoît de l’Estoile, „L’oubli de l’héritage colonial“, in: Pierre Nora (ed.), Le Débat, Paris, Gallimard, 2007, 91-99, 97, und von Brigitte Jelen, art. cit., 114. 22 Der gängige Begriff der immigration postcoloniale, der die Nachfahren von ehemals Kolonisierten unter den Immigranten allgemein meint, ist unter anderem belegt bei Abdellali Hajjat, Immigration postcoloniale et mémoire, Paris, L’Harmattan, 2005. 23 Vgl. Nancy L. Green, Marie Poinsot (eds.), Histoire de l’immigration et question coloniale en France, Paris, La Documentation française, 2008; „Le projet scientifique et culturel de la Cité nationale de l’histoire de l’immigration“, op. cit., 30. 84 Dossier sischen Eroberungen in Form der Kolonialausstellung bestanden, zum anderen in der öffentlich kaum thematisierten Einwanderungsbevölkerung der Zeit, den Immigranten, die vor allem während des Ersten Weltkriegs zum Arbeiten nach Frankreich gekommen waren und meist aus den französischen Kolonien stammten. 24 Dem pluridisziplinären Ansatz dieser Wechselausstellung und ihrer umfassenden und differenzierten kulturgeschichtlichen Darstellung steht allerdings entgegen, dass die Zusammenhänge zwischen Immigration und Kolonialisierung in der Dauerausstellung der Cité ausgelassen werden. Berücksichtigt man diese deutliche Zurückhaltung in der Thematisierung der Beziehungen zwischen Immigration und französischer Kolonialvergangenheit, entsteht der Eindruck, dass in den „Repères“ eine vorgegebene, eine einseitige Immigrationsgeschichte vermittelt wird. Anstelle einer umfassenden und offenen Verhandlung der Kolonialthematik sowie ihrer Bezüge zur heutigen Immigration in Frankreich wird die Verschiedenheit von Immigranten auf unterschiedlichen Wegen hervorgehoben. Dem positiven Anschein jedoch, dass hiermit eine vielschichtige Darstellung der Immigranten und ihrer Kulturen erfolgen soll, steht eine undifferenzierte Konzeption von Immigranten auf der einen und der französischen Nation auf der anderen Seite entgegen. Sie überlagert und kompensiert, wie geschlussfolgert werden kann, die Auslassung der Kolonialisierung und auch die eingeschränkte Verhandlung des komplexen Phänomens der Emigration. 4. Das Konzept der ‚diversité‘ in der Dauerausstellung Als im Verlauf der 1990er Jahre das französische Integrationsmodell fortwährend in Frage gestellt und modifiziert worden ist, ging diese Vergewisserung der nationalen Integrationsfähigkeit in die Anerkennung von kulturellen Differenzen über. Die vermeintliche Unfähigkeit von Immigranten, sich zu integrieren, wurde zur Jahrtausendwende von der Erkenntnis abgelöst, dass das Scheitern des bisherigen assimilatorischen Integrationsmodells in der französischen Gesellschaft selbst begründet lag, und mündete in die Forderung nach der Anerkennung der kulturellethnischen Alterität von immigrierten Staatsbürgern. Auf internationaler Ebene wurde diese Forderung nach Anerkennung kultureller Differenzen zu einer Verteidigung der sogenannten ‚diversité culturelle‘ ausgeweitet. 25 Damit fungieren Immigranten gerade in Frankreich bis heute als Inbegriff des Konzepts der kulturellen 24 Vgl. Laure Blévis, Hélène Lafont-Couturier, Nanette Jacomijn Snoep, Claire Zalc (eds.), 1931. Les étrangers au temps de l’Exposition coloniale, Paris, Gallimard, Cité nationale de l’histoire de l’immigration, 2008. 25 Vgl. Didier Lapeyronnie, „Les grands instruments d’intégration: panne, crise, disparition“, in: Philippe Tronquoy (ed.), La France au pluriel, Paris, La Documentation Française, 2009, 70-74. Vgl. Sabine Ruß, „‚Equité, parité, diversité‘ oder: Wie die Republik ‚Gleichheit‘ dekliniert“, in: Joachim Schild, Henrik Uterwedde (eds.), Die verunsicherte Französische Republik, Baden-Baden, Nomos, 2009, 65-84, 76-81. 85 Dossier ‚Vielfalt‘, was sich auch in der Dauerausstellung der Cité niederschlägt. Wie Toubon schon in der Planungsphase erläutert hat, wird die französische Nation als eine Einheit verstanden, deren Identität sich seit dem 19. Jahrhundert aus der Vermischung und Vielfalt unterschiedlicher Staatsbürger speise - ein Umstand, dem nach dem Verständnis der Planer der Cité jedoch erst jetzt, in Form des Museums, Anerkennung zuerteilt wird. 26 In ihrer Dauerausstellung ist das Konzept der von Immigranten maßgeblich geprägten Vielfalt für die Repräsentation der französischen Nation konstitutiv. Die Frage, welche Definition und Funktion dem Konzept der ‚diversité‘ zukommt, ist jedoch noch nicht geklärt, weshalb im Folgenden dessen Darstellung in den „Repères“ gezeigt werden soll. Auf den ersten Blick scheint in der Dauerausstellung eine offene ‚diversité‘ der Immigranten verhandelt zu werden. Im „Prologue“ benennt eine Wandtafel die Vielfalt der Immigrationswege und der Herkunft von Immigranten und legt dadurch indirekt eine Berücksichtigung der migrantischen Vielfalt nahe. Im Verlauf der Ausstellung wird sie wieder aufgegriffen, doch die eingangs gegebene Definition der ‚diversité‘ wird kaum näher bestimmt. In der Sektion „Lieux de vie“ ist von der „diversité des générations et des origines“ die Rede, in der Sektion „Sport“ von einer ‚diversité‘, die als durch Anführungszeichen markierter Sammelbegriff für die Immigranten der Vorstädte dient und den Anteil dieser Immigranten am Sieg der französischen Nationalmannschaft bei der Fußballweltmeisterschaft von 1998 meint. 27 Erst in der letzten gleichnamigen Ausstellungsrubrik wird das Konzept der ‚diversité‘ deutlich benannt, seine Definition wiederum implizit ergänzt. Dort wird der Blick der Besucher insbesondere auf die kulturelle und religiöse Vielfalt von Immigranten gelenkt, die mit Hilfe von Interviewmaterial, Videoaufnahmen und Texttafeln zu Religionen und kulturellen Persönlichkeiten illustriert wird. Auch die Methodenvielfalt, die sich in der genannten Sammlung von historischen, anthropologischen und künstlerischen Objekten manifestiert, und die Perspektivenvielfalt, mit der einzelne Immigrantenschicksale und staatliche Entscheidungen zur Immigration vermittelt werden, zeugen zunächst von dem Versuch, ein vielfältiges Bild der französischen Einwanderungsgeschichte und Unterschiede zwischen verschiedenen Immigrantengruppen zu zeichnen. In der Rubrik „Terre d’accueil, France hostile“ werden anhand von Karikaturen und Marionetten aus der Zeit um 1900 Stereotypen von Immigranten gezeigt. Sie sollen verdeutlichen, dass Themen wie Rassismus oder Fremdenfeindlichkeit in der Cité durchaus verhandelt werden, womit eine Toleranz Frankreichs gegenüber der Vielfalt der Immigration wiedergegeben zu sein scheint. 28 Der vergleichsweise lose Parcours der Dauerausstellung erweckt zudem den Eindruck einer offenen Herangehensweise, der den Besuchern die Wissensaneignung selbst überlässt. Der Umstand allerdings, dass die schon genannten interaktiven Bildschirme und die Videobox, in der Besu- 26 Vgl. Toubon, op. cit., 9. 27 Vgl. La Cité nationale de l’Histoire de l’Immigration, op. cit., 119, 207. 28 Vgl. ibid., 80sq., 84-87. 86 Dossier cher ihre eigenen Erfahrungen mit Immigranten und den eigenen Umgang mit dem Thema Immigration dokumentieren können, erst am Ende und gänzlich abgetrennt von der Dauerausstellung im Erdgeschoss des Gebäudes angeboten sind, steht dem entgegen. Den Eindruck einer offen geplanten Verhandlung der migrantischen Vielfalt konterkariert auch die republikanische Einbettung des Konzepts. Während die Vielfalt an keiner Stelle der „Repères“ genauer definiert ist, wird sie auf der Internetseite der Cité und auf den Bildschirmen in der sogenannten „Galerie des Dons“, einem abseits gelegenen Abschnitt am Rande der Ausstellung, der die Leihgaben von Immigranten aus dem genannten appel à collecte zeigt, im Kontext der französisch-republikanischen Prinzipien erläutert. An der dortigen Erklärung ist bemerkenswert, dass das Konzept der Vielfalt nur in Bezug auf die Frage, wie die ‚diversité culturelle‘ in Schulen vermittelt werden könne, näher umrissen, dass es vor allem aber in Bezug auf die republikanischen Werte erläutert wird, auf denen Frankreich gründe, und die das heutige Integrationsmodell à la française ausmachen würden. So steht dort geschrieben: „La nation française se confond donc avec [ses valeurs républicaines; N.P.] et avec un projet politique qui fait abstraction des appartenances ethniques ou religieuses er qui fonde la communauté politique sur l’adhésion à des valeurs civiques communes et partagées. Ces principes républicains fondent, aujourd’hui encore, le modèle d’intégration à la française“. 29 Der Umstand, dass das französische Integrationsmodell als beispielhaft herausgestellt wird, ist insofern auffällig, als es in französischen Identitätsdebatten fortwährend in Frage und zur Jahrtausendwende hin als unzureichend herausgestellt worden ist. Seine Erwähnung an dieser Stelle widerspricht zudem dem Anspruch der Cité, Offenheit gegenüber Immigranten zu symbolisieren, indem diese und mit ihr die ‚diversité culturelle‘ den republikanischen Prinzipien und dem daraus abgeleiteten Integrationsmodell untergeordnet zu sein scheinen. Während das Integrationsmodell also in einem abseitigen Ausstellungsteil in dieser durchaus fragwürdigen Verschaltung der ‚diversité culturelle‘ mit den republikanischen Werten erläutert wird, wird in der Ausstellung selbst hingegen nicht verdeutlicht, welche Integration gemeint ist, eine assimilatorische oder eine offenere. Diese Beobachtungen lassen jedoch schlussfolgern, dass der Cité eine zwar nicht näher bestimmte, doch positiv konnotierte Konzeption von Integration zugrunde liegt, die auf den republikanischen Werten gründet und zugleich die kaum konkreter definierte, aber vorgeblich vorhandene ‚diversité‘ umfasst. Die so abseitig und über die Abgrenzung erfolgte Bestimmung der migrantischen Vielfalt durch die republikanischen Werte lässt den Rückschluss zu, dass 29 „Quels sont les principes républicains? “, in: www.histoire-immigration.fr/ histoire-de-l-immigration/ questions-contemporaines/ diversite-culturelle-et-principes-republicains/ quels-sontles-principes-repub (19.08.2011). Vgl. auch „Diversité culturelle et principes républicains - Que sont les statistiques ethniques? “, in: questions-contemporaines.histoire-immigration.fr/ sommaire/ diversite-culturelle-et-principes-republicains/ que-sont-les-statistiques-ethniques.html (22.08.2011). 87 Dossier eine offene Verhandlung der Komplexität der Immigration auch in den „Repères“ selbst nicht möglich ist, dass vielmehr eine deutlich vorgegebene, eine republikanische Erzählung angeboten wird. Dieses Narrativ wird in französischen Identitätsdebatten der letzten Zeit meist auch mit dem Begriff des ‚roman national‘ umschrieben. Er weist auf den Umstand hin, dass die französische Nation und mit ihr die nationale Identität eine seit der Dritten Republik verankerte, durch Mythen begründete Konstruktion der nationalen Einheit ist, und lag beispielsweise bei der Einrichtung des genannten neuen Ministeriums zugrunde, als er dazu diente, die vermeintliche Kontinuität und historische Verbürgtheit der französischen Identität zu bezeugen. 30 Der Versuch, sich dieser Meistererzählung zu versichern, führt allerdings dazu, dass Immigranten nicht nur problemorientiert wahrgenommen und dadurch stigmatisiert werden, worauf Noiriel hingewiesen hat. Er mündet auch in die Forderung, dass Immigranten sich weiterhin anpassen und integrieren müssen oder andernfalls ausgeschlossen werden. Das aber steht erneut dem Anspruch, der für die Cité formuliert worden ist, und ihrer Zuschreibung, als Inbegriff von Vielfalt zu fungieren, deutlich entgegen. Diesen Anspruch konterkariert in der Dauerausstellung auch die nach dem Konzept der Vielfalt benannte Rubrik „Diversité“. Darin fehlt nicht nur eine Definition. Es findet auch keine offene Darstellung des Themas der Immigration statt, die neuralgische Punkte der Einwanderungsgeschichte einschließen würde. Vielmehr werden darin erfolgreiche Geschichten erzählt und in dem der Kultur zugeordneten Unterabschnitt berühmte Immigranten Frankreichs wie Pablo Picasso und Frédéric Chopin, Heinrich Heine und Eugène Ionesco oder Léopold Sedar Senghor genannt. Auch die amerikanische Sängerin Josephine Baker, die in den sogenannten Années folles, den 1920er Jahren, eine beliebte Sängerin und Revuetänzerin in Paris war, wird angeführt und in einem Interview wiedergegeben, das von ihrer eigenen Musik gerahmt ist. Daran ist aufschlussreich, dass Baker in dem Interview auf ihren Stolz verweist, die französische Staatsbürgerschaft angenommen zu haben. Dass die schwarze Sängerin allerdings auch der zeitgenössischen Lust am Exotismus entsprach, bleibt dagegen unerwähnt. 31 Die Rubrik erweckt dadurch, dass sie vor allem Berühmtheiten zeigt, den Eindruck, dass deren kulturelle Beiträge entscheidend für ihre Integration in Frankreich gewesen sind, während weniger berühmte oder weniger erfolgreich integrierte Immigranten in dieser Rubrik keinen Platz finden. Der Eindruck einer solchen einseitigen Erzählung wird mit Blick auf die Leitidee der Ausstellungsrubrik bestärkt. Die darin formulierten Fragen, „Quel est le patrimoine des immigrés? Quel est le patrimoine national issu de l’immigration? Comment l’histoire de l’immigration participe-t-elle à l’histoire et à la culture françai- 30 Vgl. etwa Nicolas Offenstadt, L’histoire bling-bling. Le retour du roman national, Paris, Stock, 2009; Suzanne Citron, Le mythe national. L’histoire de France revisitée, Paris, Atelier, 2008. 31 Vgl. La Cité nationale de l’Histoire de l’Immigration, op. cit., 228-236. 88 Dossier ses? “, 32 sind insofern bemerkenswert, als sie den Begriff des ‚patrimoine‘ als Inbegriff das nationalen Kulturguts mit der Integration von Immigranten verknüpfen und damit auf das Verständnis einer gelungenen Integration dieser Immigranten in die französische Nation schließen zu lassen scheinen. Zunächst suggeriert ‚patrimoine‘ die Idee, dass die kulturellen Güter von Immigranten und Immigration in die Vorstellung von der nationalen Identität und Geschichte einbezogen werden. Allerdings steht einer solchen Lesart die letzte der drei Fragen deutlich entgegen. Indem sie nach der Teilhabe von Immigranten an der französischen Geschichte und Kultur fragt, entwirft sie diese als ein feststehendes Gefüge. Die Teilhabe von Immigranten daran, die die „Repères“ etwa mit der Darstellung des Théâtre des Bouffes-Parisiens oder des jiddischen Theaters in der Hauptstadt belegen, wird dagegen zu einem Element einer einseitigen Geschichte. 33 Während die Beiträge von erfolgreich integrierten Immigranten somit als Beiträge zur Anreicherung der französischen Kultur und Geschichte begriffen werden können, ohne dass aber deren Fundament, das republikanische Selbstverständnis, in Frage gestellt oder revidiert würde, erscheinen die französische Gesellschaft und Geschichte hiermit als weitgehend statisch verfasst. Diese homogene Meistererzählung von der so beschaffenen Integration kultureller Vielfalt, diese Fortführung des ‚roman national‘, hat zwei Konsequenzen. Erstens werden, indem die genannten kulturellen Bereicherungen hervorgehoben und einzelnen Nationalitäten zugeordnet werden, Differenzen zwar benannt, jedoch die Differenzen innerhalb einzelner Immigrantenkulturen und die Komplexität von Immigration ignoriert. Der Umstand etwa, dass Immigration nicht nur die Abreise aus dem Heimatland und die Ankunft in Frankreich, sondern oft auch ein Hin- und Herpendeln bedeutet, bleibt ebenso unberücksichtigt wie Immigranten einer bestimmten Herkunft, die vor oder nach der großen Welle der Einwanderung ihrer Landsleute nach Frankreich gekommen waren. 34 Die Darstellung in der Cité erweckt vielmehr den Eindruck, dass die Beiträge durch Immigranten und ihre Kulturen in sich homogen sind und zu einer geradezu gefälligen Bereicherung Frankreichs werden. Deutlich wird dies in dem mit „Rencontres“ betitelten Ausstellungsteil, der ebenfalls der Darstellung der Vielfalt zugeordnet ist. Darin sind Objekte wie Teekannen, Decken oder Wasserpfeifen als Anleihen aus anderen Kulturen und als fest gewordene Bestandteile des französischen Kulturguts ausgestellt, zudem Küchenutensilien, die die Handelsbeziehungen, die Kontakte mit oder die Einreise von Immigranten widerspiegeln sollen, und schließlich Objekte von Immigranten, die nunmehr auch in Frankreich gebräuchlich geworden sind. 35 Ebenso wie das jiddische Theater sollen diese Objekte die Besucher für die vielfältigen Einflüsse von Immigranten sensibilisieren, die sukzessive auf die französische Kultur einge- 32 Vgl. etwa ibid., 2. 33 Vgl. ibid., 231. 34 Vgl. Jelen, Brigitte, art. cit. 35 Vgl. ibid., 244. 89 Dossier wirkt haben. Allerdings gerät die Darstellung der Objekte, die in einem abgetrennten Bereich der Ausstellung von der Decke hängen und einen großen Wiedererkennungswert besitzen, allzu folkloristisch. So ist es kein Zufall, dass die Cité in einem Artikel der Zeitung Libération vom 29. Oktober 2007 ein „bric-à-brac folklorique“ genannt wurde. 36 Schließlich tragen die spärlichen Informationen, die unter den von der Decke hängenden Objekten auf Bildschirmen gegeben werden, kaum zu einer Einordnung der Objekte oder zu einem Wissen über die Objekte bei. Aus dieser folkloristischen Darstellung von Objekten in dem Abschnitt „Rencontres“ resultiert zweitens, dass mögliche neuralgische Punkte nur auf kultureller Ebene verhandelt werden. An der „La chute“ genannten Bilderserie des Künstlers Denis Darzacq kann das gezeigt werden. Sie zeigt Fotografien von Hip-Hop-Tänzern in ihrer vermeintlichen Schwerelosigkeit, was Auftrieb und Fall zugleich zeigen soll. 37 Sodann erfolgt im Ausstellungskatalog auch die zeitliche Einordnung der Fotografien: Sie seien im Anschluss an die Vorstadtunruhen von 2005 entstanden. Obschon damit ein konfliktträchtiger Aspekt thematisiert wird, der den Diskurs um die jüngste Immigrationsgeschichte in Frankreich maßgeblich bestimmt hat, wird er, indem er nur in dieser Ausstellungsrubrik Platz findet, allein auf kultureller Ebene verhandelt. Die gesellschaftlich-soziale und politische Tragweite der Vorstadtunruhen als Bestandteil der Immigrationsproblematik hat dagegen keinen Platz gefunden. Die Darstellung in den „Repères“ erscheint somit von zwei Dichotomien, auf diachroner und auf synchroner Ebene, geprägt: Auf der diachronen Ebene werden Immigranten von ehemals marginalisierten zu ‚guten‘ Einwanderern umgedeutet und fortan als Inbegriff von Vielfalt verstanden. Auf der synchronen Ebene wird entsprechend der Darstellung der Immigranten über kulturelle Beiträge eine Trennung zwischen dem ‚Eigenen‘ und den ‚Fremden‘ markiert: Zur Gruppe der ‚Eigenen‘ gehören die, die sich erfolgreich integriert haben, Immigranten, die nicht integriert und womöglich wieder ausgewiesen worden sind, die also zur Gruppe der ‚Fremden‘ gehören, werden dagegen nicht gezeigt. Für die damit suggerierte Bestimmung der ‚diversité‘ bedeutet das, dass sie nur unter dem Vorbehalt der vollständigen Integration in das ‚Eigene‘ akzeptiert und affirmiert wird, dass sie und mit ihr die Alterität von Immigranten andernfalls vom republikanischen Selbstverständnis ausgeschlossen bleiben. Die Trennung zwischen dem ‚Eigenen‘ und den ‚Fremden‘ kann allerdings auch noch anders verstanden werden: als eine deutliche Trennung zwischen der Erzählung vom Einwanderungsland und der Immigrationsgeschichte. Während Frankreich als vergleichsweise statische Einheit dargestellt wird, werden Immigrantenkulturen als an- und bereichernde Elemente für diese Einheit bestimmt. Dies führt nicht nur zu einem Ungleichgewicht zwischen dem 36 Le collectif ‚qui fait la France‘, „La Cité de l’immigration, un bric-à-brac folklorique“, in: www.liberation.fr/ tribune/ 0101113988-la-cite-de-l-immigration-un-bric-a-brac-folklorique, 29.10.2007 (22.08.2011). 37 Vgl. La Cité nationale de l’Histoire de l’Immigration, op. cit., 242sq. 90 Dossier ‚Eigenen‘, das Frankreich symbolisiert, und dem ‚Fremden‘, der Alterität, die Immigranten umfasst. Es geht auch mit einer wenig differenzierten Betrachtung beider Seiten einher, die eine homogenisierende und damit essentialisierende Darstellung begünstigt. 38 Frankreich wird am Rande der Ausstellung ausdrücklich, in der Ausstellung selbst weniger stark, dennoch deutlich republikanisch konzipiert. Dagegen werden Immigranten als mehr oder weniger homogene, als zu integrierende Gruppen dargestellt, und obschon Immigrantenherkunft, -kontexte und -wege veranschaulicht werden, bleiben sie als Einwanderer aus bestimmten Nationen dargestellt, ohne dass weitere Unterscheidungen gemacht würden. Eine Folge dieser Dichotomien ist die verkürzte Wahrnehmung der dargestellten Immigrantengruppen über das Merkmal der Ethnie. So rückt die häufig nationale Bezeichnung der Ausstellungsobjekte, obgleich Bild- und Objektunterschriften den Namen der gezeigten Immigranten oder eine gezeigte Situation näher bestimmen, die Nation oder Ethnie als Differenzkriterium in den Vordergrund. Dieser Umstand ist zum einen insofern bemerkenswert, als diese ethnische Perspektivierung der migrantischen Vielfalt von den Planungen durch Toubon abweicht. Im Sinne des republikanisch-egalitären Selbstverständnisses hatte er noch für die Darstellung einer ethnienfreien Nation plädiert. 39 Zum anderen mündet die Beobachtung in die Feststellung, dass die Ethnie zwar als differenzierendes Merkmal deutlich vorhanden, jedoch nicht weiter markiert ist. Die ethnisch-kulturell bestimmte Vielfalt wird vielmehr suggeriert und etwa in Form der folklorisierend anmutenden Objekte wiedergegeben. Der Umstand, dass nach ethnischem Maßstab zwischen Immigranten unterschieden wird, wird eher verhüllt oder zumindest durch die Einbettung in das republikanische Narrativ nicht weiter berücksichtigt. Stattdessen wird suggeriert, dass Immigranten als ‚Franzosen‘, nicht aber als Staatsangehörige mit unterschiedlichen ethnischen Hintergründen zu begreifen sind. 40 Dem kann die Argumentation Joachim Baurs entgegen gehalten werden. In einer analogen Analyse zum Ellis Island Immigration Museum in New York hat er die Bedeutung der Darstellung von Differenzen herausgestellt und betont, dass Differenzen zwar nicht allein bedeutsam, aber sehr wohl in der Repräsentation von Immigrantenkulturen wichtig seien: wichtig, um ein multikulturelles anstelle eines homogenen Bildes einer Gesellschaft zu zeichnen. 41 38 Vgl. hierzu Dominic Thomas, „The Quai Branly Museum. Political Transition, Memory and Globalisation“, in: Contemporary France, 19: 2, 141-157, 149. 39 Vgl. Maxime Tandonnet, Le défi de l’immigration. La vérité - les solutions, Paris, Office de l’Edition Impression, 2004, 78. 40 Vgl. etwa Michael Kimmelman, „France’s unconvincing ode to immigrants“, in: International Herald Tribune, 23.10.2007, 10. 41 Vgl. Joachim Baur, Die Musealisierung der Migration. Einwanderungsmuseen und die Inszenierung der multikulturellen Nation, Bielefeld, transcript, 2009, 163sq. 91 Dossier 5. Schluss Wie die vorangegangenen Beobachtungen gezeigt haben, wird in der Dauerausstellung der Cité anstelle einer multikulturellen Identität und Geschichte ein einseitiges Konzept von ‚diversité‘, einer migrantischen Vielfalt, dargestellt, ohne dass es näher erläutert würde. Diese in das republikanische Selbstverständnis integrierte Vielfalt dient dabei vor allem der Darstellung und Fortsetzung eines offenbar vorgegebenen gesellschaftlichen und sozialen Zusammenhalts. Indem allerdings das durch die Dauerausstellung historisch belegte ‚Eigene‘ Immigranten ganz selbstverständlich mit einschließt, werden, um nochmals mit Baur zu sprechen, „Ungleichheiten zwischen Individuen und gesellschaftlichen Gruppen, in Geschichte und Gegenwart […] harmonisch entschärft“ und zugleich „[a]ls kulturelle Vielfalt […] in optimaler Weise für die Begründung der Nation fruchtbar gemacht“. 42 Das verdeutlicht, wie in der Cité die um Vielfalt erweiterte Konzeption der republikanischen Identität, des ‚roman national‘, in der Darstellung der französischen Immigrationsgeschichte bestehen bleiben konnte, ohne dass ihr zentrales Fundament, das republikanische, egalitär ausgerichtete Selbstverständnis aufgebrochen und womöglich hätte modifiziert werden müssen. Derart verstanden wird die durch Immigration gegebene Vielfalt in der Darstellung der Cité nicht nur als eine Einheit konzipiert, in der Differenzen möglich sind, die zugleich aber von der Gruppe der nicht integrierten ‚Fremden‘ und von deren Alterität als solcher deutlich abgegrenzt wird. Ihre einseitige, positiv konnotierte und deutlich vorgegebene Konzeption verunmöglicht auch die Thematisierung der Auswirkungen der französischen Kolonialvergangenheit auf die heutige französische Immigrationsgeschichte. An deren Stelle ist, wie die vorangegangenen Beobachtungen gezeigt haben, vielmehr die Vielfalt gerückt. Dabei ist sie zu einer spezifisch französischen gemacht worden, die entsprechend der Dauerausstellung per se vorhanden gewesen und schon im Verlauf der Geschichte integriert worden sei. Eine solche integrativ angelegte Meistererzählung von der französischen Nation widerspricht allerdings dem Anspruch, der in der Planungsphase für die Cité definiert worden ist: die Offenheit suggerierende Idee, mit dem Museum alle Franzosen zu adressieren. Die vergleichsweise homogenisierende Sicht auf Immigranten, von der die Dauerausstellung zeugt, führt eher zum Eindruck, dass vor allem (weiße) Franzosen angesprochen werden, dass ihnen die um Immigration erweiterte französische Geschichte präsentiert werden soll. Indem Frankreich schließlich in der Dauerausstellung als vergleichsweise statische, als eine vorgeblich bereits vorhandene, fest gefügte, aber auf Vielfalt beruhende Einheit konzipiert wird, und diese Repräsentation einer per se vorhandenen und integrierten Vielfalt der Stärkung des gesellschaftlichen und sozialen Zusammenhalts dient, scheint dieses Narrativ vor allem Franzosen, ‚français de souche‘, ohne dass diese deutlicher 42 Ibid., 177. 92 Dossier unterschieden würden, erzählt zu werden und als Reaktion auf eine nationalidentitäre Verunsicherung und deren Beruhigung zu fungieren. Diese eigentlichen Adressaten der Meistererzählung stehen indes im Widerspruch mit der Einordnung der Cité in den urbanen Raum. Sie ist an der Peripherie von Paris eingerichtet worden, was viel diskutiert wurde. Damit sollte Immigranten dort Anerkennung zuteil werden, wo sie ohnehin meist angesiedelt sind - am Rande der Stadt, was im übertragenen Sinne auch als Rand der Gesellschaft begriffen werden kann. 43 Diese Absicht birgt eine positive wie auch eine negative Lesart in sich: Einerseits kann man die Verortung der Cité am Rande von Paris als einen Ausdruck von Geringschätzung begreifen, die zumindest durch die Abwesenheit sämtlicher staatlicher Vertreter zur Eröffnung im Oktober 2007 verdeutlicht worden ist. Die Verortung der Cité an der Peripherie kann andererseits aber auch als ein fruchtbarer Weg begriffen werden. Denn wie Baur unter Berufung auf Mary Stevens hervorgehoben hat, hat sich die Cité im Verlauf ihrer erst jungen Geschichte zu einer „Plattform für kritische Opposition“ entwickelt. 44 So verstanden kann das Museum auch der Versuch sein, Dinge, die im Zentrum - im Zentrum der Stadt und der Republik - nicht verhandelt werden können, am Rande auszuhandeln. Dem wiederum steht die französische Meistererzählung deutlich entgegen, die neuralgische Punkte ausgelassen und das Bild einer - beruhigenden - in die nationale Identität integrierten französischen Vielfalt entworfen hat. 43 Toubon, op. cit., 135sq. 44 Baur, op. cit., 358. Résumé: Nadine Pippel, ‚Diversité française‘ ou ‚Assimilation comme toujours‘? Bien que l’historien Gérard Noiriel ait déjà, en 1988, insisté sur la nécessité de faire reculer les préjugés contre les immigrés et encouragé, deux ans plus tard, la création d’un musée de l’immigration, ce n’était qu’en 2007 que la Cité nationale de l’histoire de l’immigration (Cité) a été ouverte. Malgré son intention de symboliser la tolérance et une attitude ouverte envers les immigrés, l’analyse de l’exposition permanente menée dans cet article permet de montrer que ce but est difficile à réaliser. Elle souligne les failles d’une politique identitaire hégémonique qui aboutit à une représentation peu nuancée de l’histoire de l’immigration ainsi qu’à l’absence de ses aspects problématiques d’un côté et à une conception républicaine et homogène de cette histoire de l’autre. Un tel récit national semble être la réaction à l’incertitude qui a caractérisé les débats autour de l’identité nationale ces dernières années. La Cité peut ainsi être considérée comme un moyen qui sert à réaffirmer le modèle de l’intégration et de la citoyenneté à la française.