eJournals lendemains 33/129

lendemains
0170-3803
2941-0843
Narr Verlag Tübingen
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2008
33129

Über Literaturwissenschaft als Lebenswissenschaft

2008
Ottmar Ette
ldm331290111
111 Ottmar Ette Über Literaturwissenschaft als Lebenswissenschaft. Perspektiven einer anhebenden Debatte Am Anfang Daß nach der Veröffentlichung der Programmschrift „Literaturwissenschaft als Lebenswissenschaft - Eine Programmschrift im Jahr der Geisteswissenschaften“ in Heft 125 und der Publikation von nunmehr drei dieser Themenstellung gewidmeten Dossiers in den Heften 126/ 127, 128 und 129 die in der Zeitschrift lendemains geführte Diskussion an ein vorläufiges Ende gelangt ist, liegt - dies ist für alle Beteiligten erfreulich - nicht daran, daß der Zeitschrift keine weiteren Diskussionsbeiträge und Stellungnahmen mehr vorlägen. Zu Beginn dieser Debatte war vielmehr davon ausgegangen worden, daß es nur ein einziges dem vielfachen L gewidmetes Diskussions-Forum geben sollte. Am Anfang meiner Überlegungen steht daher mein herzlicher Dank an die Zeitschrift lendemains, den Gunter Narr Verlag, die Herausgeber der Zeitschrift und allen voran Wolfgang Asholt, diese Diskussion so engagiert über den Zeitraum eines gesamten Jahres angeregt und dokumentiert zu haben. Alle Diskussionsbeiträge zeigten, daß es in den genannten lendemains- Heften um Grundfragen von Literatur und Lebenswissen, von Literaturwissenschaft und Lebenswissenschaft und damit um hochaktuelle Probleme philologischer Grundlagenforschung geht. Denn daß die am 12. April 2007 im Simón Bolívar-Saal des Ibero-Amerikanischen Instituts unweit des Potsdamer Platzes in Berlin veranstaltete Vorstellung der Programmschrift zu einer - wie Toni Tholen im Titel seines Beitrags (H. 128) formulierte - „anhebenden Debatte“ werden würde, konnte man angesichts des so zahlreich erschienenen und diskussionsfreudigen Publikums allenfalls erhoffen oder erahnen. Gewiß hatte es seit der Veröffentlichung einiger auf Vorträge im April 2002 zurückgehender Aufsätze des Jahres 2003 1 sowie zweier Bände über Lebenswissen in den Jahren 2004 und 2005, 2 der Einrichtung des im Oktober 2005 1 Vgl. Ette, Ottmar: Erich Auerbach oder Die Aufgabe der Philologie. In: Estelmann, Frank/ Krügel, Pierre/ Müller, Olaf (eds.): Traditionen der Entgrenzung. Beiträge zur romanistischen Wissenschaftsgeschichte. Frankfurt am Main - Berlin - New York: Peter Lang, 2003, 21-42; Alexander von Humboldt: Perspektiven einer Wissenschaft für das 21. Jahrhundert. In: Hamel, Jürgen/ Knobloch, Eberhard/ Pieper, Herbert (eds.): Alexander von Humboldt in Berlin. Sein Einfluß auf die Entwicklung der Wissenschaften. Beiträge zu einem Symposium. Augsburg: ERV, 2003, 281-314; Das verdoppelte Leben. Hannah Arendts „Rahel Varnhagen“. In: Plocher, Hanspeter/ Kuhnle, Till R./ Malinowski, Bernadette (eds.): Esprit civique und Engagement. Festschrift für Henning Krauß zum 60. Geburtstag. Tübingen: Stauffenburg Verlag, 2003, 125-143. 2 Vgl. Ette, Ottmar: ÜberLebenswissen. Die Aufgabe der Philologie. Berlin: Kulturverlag Kadmos, 2004; sowie ZwischenWeltenSchreiben. Literaturen ohne festen Wohnsitz. Berlin: Kulturverlag Kadmos, 2005. 112 an den Universitäten von Potsdam und Frankfurt/ Oder gestarteten DFG-Graduiertenkollegs „Lebensformen & Lebenswissen“ oder auch beim Eröffnungsvortrag der Ringvorlesung der Mainzer Universitätsgespräche zum Themenschwerpunkt „Lebenswissen: vom Umgang mit Wissenschaft“ an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz am 18. April 2007 viele positive Reaktionen gegeben. Doch war zunächst nicht absehbar gewesen, wie spannend sich die Diskussion der Programmschrift in der Folge entwickeln würde. Am Anfang schon war es ein großes Anliegen gewesen, nicht nur die Frage nach dem Lebenswissen mit den Lebenswissenschaften, sondern auch die Frage nach der Literaturwissenschaft mit der Literatur diesseits und jenseits der Romania zu verbinden - und dies, ohne die Literatur zu einem simplen Vehikel der Literaturtheorie zu degradieren. Die nicht nur im deutschsprachigen Raum vielfach preisgekrönte Schriftstellerin Emine Sevgi Özdamar hatte mit ihrer Lesung u.a. aus ihrem Roman Das Leben ist eine Karawanserei wie mit ihren Anmerkungen schon die Präsentation der Programmschrift literarisch ungeheuer bereichert. Mit seiner am 25. Mai 2007 gehaltenen Rede zur Verleihung der Ehrendoktorwürde der Universität Potsdam trug Jorge Semprún, der Autor von L’écriture ou la vie, unter dem Titel „Philosophie als Überlebenswissenschaft“ (H. 128) zentrale Aspekte aus dem Überkreuzungsbereich von Literatur und Philosophie bei. Und schließlich gewährte Amin Maalouf, der Verfasser von Les Identités meurtrières, am 15. September 2007 auf der Ile d’Yeu ein ausführliches Interview, das unter dem Titel „Vivre dans une autre langue, une autre réalité“ Teil des vorliegenden Dossiers geworden ist. Den genannten Schriftstellerinnen und Schriftstellern gilt mein Dank ebenso wie allen Autorinnen und Autoren, die sich mit einem schriftlichen Beitrag an der Diskussion in der Zeitschrift lendemains beteiligt haben. Am Begriff Eines der wichtigsten Ziele der Programmschrift war es gewesen, eine von der Romanistik ausgehende Diskussion anzustoßen, die nicht auf die Romanistik begrenzt bleiben sollte. Bereits bei der vom Ibero-Amerikanischen Institut großzügig unterstützten und von Jürgen Freudl (Narr-Verlag) moderierten Auftaktveranstaltung waren neben der von Wolfgang Asholt (Osnabrück) vertretenen Romanistik mit Ansgar Nünning (Gießen) und Christoph Menke (Potsdam) Vertreter der Anglistik und der Philosophie auf dem Podium präsent (vgl. H. 126/ 127). Wie sehr die jeweiligen Disziplinen innerhalb wie außerhalb der Philologien von jeweiligen fachgeschichtlichen und fächerspezifischen Eigen-Logiken bestimmte Standpunkte innerhalb dieser Debatte entwickeln, zeigte sich spätestens in dem von Wolfgang Adam (Osnabrück) aus der Perspektive der Germanistik beigesteuerten Beitrag, der neben den Ausführungen der Romanistin Stephanie Bung (Berlin) ebenfalls gleich im ersten Diskussions-Forum abgedruckt werden konnte. Denn Wolfgang Adam verwies auf die Tatsache, daß sich ein germanistischer Literaturwissenschaftler „aufgrund der Geschichte seines Faches“ (H. 126/ 127, 227) schwer tue, den Begriff der Lebenswissenschaft zu verwenden, hatte ihn doch Walther Linden 1933 113 in seiner Konzeption der „Deutschkunde als politischer Lebenswissenschaft“ unter nationalsozialistischen Vorzeichen verwendet. 3 „Natürlich“, so Adam, bestünde „zwischen Ettes Programm und der völkischen Vision eines Linden oder Pongs nicht die geringste Verbindung“, doch stoße man hier auf „ein in der deutschen Wissenschaftskultur immer wieder zu beobachtendes Problem“, daß nämlich „mit NS- Bedeutung aufgeladene“ Begriffe „nicht mehr oder nur mit Erklärungen im aktuellen wissenschaftlichen Diskurs benutzt werden können“ (ebda.). Es überrascht aus dieser Perspektive nicht, daß auch die beiden anderen germanistischen Kollegen, die sich an der Debatte beteiligten, also Klaus-Michael Bogdal (Bielefeld) und Toni Tholen (Hildesheim), auf diese Schwierigkeit verwiesen, wobei alle drei germanistischen Beiträger gleichzeitig in der Sache das Anliegen der Programmschrift unterstützten und kritisch weiterdachten. Am Begriff entzündete sich folglich eine Diskussion, die vor dem Hintergrund der Fachhistorie leicht nachvollziehbar ist. Doch sollte man zunächst nicht aus den Augen verlieren, daß der Begriff „Lebenswissenschaft“ selbstverständlich älter ist als seine Aneignung durch die geisteswissenschaftlichen Barbaren des Nazi-Regimes. Der Terminus findet sich - wie der dem Begriff ebenfalls skeptisch gegenüberstehende Christoph Markschies in seiner Berliner Antrittsvorlesung auf dem Lehrstuhl für Ältere Kirchengeschichte im Mai 2005 nachwies - spätestens an der Wende des 18. zum 19. Jahrhundert. 4 Denn Christoph Meiners schon bediente sich ab dem Jahre 1800 des Begriffs der „Lebens-Wissenschaft“, um ihn bei seinem Versuch, eine Phänomenologie des gelebten Lebens auf den Weg zu bringen, an die Stelle des Begriffs der Ethik zu setzen. 5 Das Aufkommen dieses Begriffes läßt sich leicht mit der in der Programmschrift signalisierten und von Michel Foucault in Les mots et les choses analysierten Emergenz des Lebensbegriffs in den verschiedensten Disziplinen zwischen 1775 und 1795 in Verbindung bringen. 6 Auch wenn wir derzeit noch über keine detaillierte Geschichte des Begriffs „Lebenswissenschaft“ verfügen und es nicht unwahrscheinlich ist, daß Meiners keineswegs der Schöpfer dieses Terminus ist, sondern sich seinerseits bei früheren Autoren bediente, ist doch deutlich, daß der Begriff, den sich die germanistischen 3 Vgl. Linden, Walther: Deutschkunde als politische Lebenswissenschaft - das Kerngebiet der Bildung! In: Zeitschrift für Deutschkunde (1933), 337-341; sowie ders.: Aufgaben einer nationalen Literaturwissenschaft. München: C.H. Beck-Verlag, 1933. 4 Vgl. Markschies, Christoph: Ist Theologie eine Lebenswissenschaft? Einige Beobachtungen aus der Antike und ihre Konsequenzen für die Gegenwart. Hildesheim - Zürich- New York: Georg Olms Verlag, 2005, 5. 5 Vgl. Meiners, Christoph: Allgemeine kritische Geschichte der ältren und neuern Ethik oder Lebenswissenschaft nebst einer Untersuchung der Fragen: Gibt es denn auch wirklich eine Wissenschaft des Lebens? Wie sollte ihr Inhalt, wie ihre Methode beschaffen seyn? 2 Bde. Göttingen, 1800-1801; sowie ders.: Grundriß der Ethik oder Lebens-Wissenschaft. Hannover, 1801. 6 Vgl. Foucault, Michel: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften. Aus dem Französischen von Ulrich Köppen. Frankfurt/ Main: Suhrkamp, 1974, 279-283. 114 Nazi-Schergen während der Jahre des totalitären Hitler-Regimes dienstbar machten, aus einem philosophiegeschichtlichen Kontext stammt und dem Bereich der Ethik eng verbunden ist. Nun läßt die Programmschrift, in deren terminologischem Kern die Begriffe „Lebenswissen“, „Überlebenswissen“ und „Zusammenlebenswissen“ stehen, keinen Zweifel daran, daß sie sich auf jenes Begriffsverständnis bezieht, das - an Konzept und Praxis der Life Sciences orientiert - spätestens seit dem Jahr 2001, dem „Jahr der Lebenswissenschaften“, in Deutschland dank der Massenmedien höchst populär geworden ist. Bereits der Untertitel der Programmschrift spielt auf dieses Faktum an - und nicht zuletzt auch auf die Tatsache, daß das medizinisch-biotechnologische Fächerensemble der „Lebenswissenschaften“ wenig zu jenen Ereignissen zu sagen hatte, die ab dem 11. September 2001 zumindest in der Öffentlichkeit jedwede weitere Diskussion um die so konzipierten „Lebenswissenschaften“ zum Verschwinden brachten. „Literaturwissenschaft als Lebenswissenschaft“ unternimmt als Teil einer Doppelstrategie den Versuch, die semantische Reduktion des Lebensbegriffs im Sinne von gr. bios sichtbar zu machen und Gegenstrategien zu entwickeln, um der Entwendung des Lebensbegriffs durch rein biowissenschaftlich verstandene „Lebenswissenschaften“ konzeptionell entgegenzuwirken. Die Arbeit am Begriff ist folglich zentral. Gerade auch aus romanistischer Sicht gehört es ohne jeden Zweifel zu den philologischen Pflichten, im Sinne von Werner Krauss’ 1943 im Zuchthaus Plötzensee begonnenen und 1944 im Wehrmachtsgefängnis der Lehrter Straße 61 abgeschlossenen Roman PLN 7 und vielleicht mehr noch Victor Klemperers der Lingua Tertii Imperii gewidmeten Band LTI, 8 aber auch im Sinne einer aktuellen Aufarbeitung nationalsozialistischer 9 bzw. totalitärer Verstrickungen unserer jeweiligen Fachgeschichten an die menschenverachtenden Entstellungen vieler Fachtermini zu erinnern. Dies gilt innerhalb des hier erörterten semantischen Feldes nicht nur für den Begriff der „Lebenswissenschaft“, sondern - denkt man nur an die NS-Experimente in Medizin und Biologie - den des Lebens überhaupt. Es gehört aber auch zu den Pflichten von Philologen, die jeweiligen aktuellen Kontexte der Verwendung derartiger Begrifflichkeiten klar herauszuarbeiten und damit kontaminierte Termini nicht einfach kampflos aufzugeben, sondern für neue Fragestellungen zurückzugewinnen. Wie sonst könnten wir künftig nicht nur auf Begriffe wie „Leben“ oder „Lebenswissenschaften“, sondern auch auf termini wie „Raum“ oder 7 Vgl. Krauss, Werner: PLN. Die Passionen der halykonischen Seele. Roman. 2., durchgesehene Auflage. Frankfurt/ Main: Vittorio Klostermann, 1983. 8 Vgl. Klemperer, Victor: LTI. Notizbuch eines Philologen. Leipzig: Verlag Philipp Reclam jun., 2 1968. 9 Vgl. etwa die grundlegenden Arbeiten des Romanisten Hausmann, Frank-Rutger: „Vom Strudel der Ereignisse verschlungen.“ Deutsche Romanistik im „Dritten Reich“. Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann 2000; ders.: Anglistik und Amerikanistik im „Dritten Reich“. Frankfurt/ Main: Vittorio Klostermann, 2003. 115 „Forschungsgemeinschaft“, „Kulturwissenschaft“ oder „Germanistik“ wissenschaftlich klar begründet zurückgreifen? Es wäre daher gewiß möglich - und sicherlich auch wünschenswert - gewesen, von philologischer Seite eine reduktionistische Verwendung des Begriffs „Lebenswissenschaft“ und eine damit einhergehende dominant biotechnologische Entwendung des Lebensbegriffs durch die sogenannten Life Sciences zu kritisieren. Die von germanistischer Seite ins Feld geführte Begriffskritik scheint mir daher das Vorhaben, Literaturwissenschaft als Lebenswissenschaft zu begreifen und wissenschaftssystematisch neu auszurichten, zusätzlich zu befördern, ist es doch notwendig, das Begriffsfeld von gr. bios nicht länger im wahrsten Sinne stillschweigend Wissenschaften zu überlassen, deren eigene Begriffsverwendung und Wissenschaftspraxis in den Jahren des Nationalsozialismus ebenso wenig verschwiegen werden dürfen. Wie problematisch in vielen Sprachen und Ländern der Begriff und die Begrifflichkeiten des Lebens sind, mag auch das Beispiel der USA zeigen, wo man - wie mir ein ungeheuer ermutigendes Faculty Seminar mit Vertretern unterschiedlichster natur- und kulturwissenschaftlicher Disziplinen an der Vanderbilt University zum Thema „Philology as Life Science“ zeigte - selbstverständlich außerhalb der terminologisch scheinbar immunisierten Life Sciences sehr genau darauf achten muß, durch die Verwendung des Begriffs „life“ nicht mit den ultrakonservativen und an vielen Orten proliferierenden Abtreibungsgegnern der pro-lifers in Verbindung gebracht zu werden. Deren politische Agitation und Propaganda hat den Lebensbegriff zum gegenwärtigen Zeitpunkt in den Vereinigten Staaten stark affiziert. Reduktionismen und Totalitarismen das Feld zu überlassen, ist keine Alternative, sondern ein Grund mehr, den Begriff des Lebens wieder für den Bereich der Geistes- und Kulturwissenschaften fruchtbar zu machen. Die unterschiedlichsten Literaturen der Welt haben den Begriff des Lebens nicht verbannt. Die Philologien tun folglich gut daran, ihn aus der Falle der semantischen Reduktion durch die Life Sciences zu befreien und vor der Kontamination und Indienstnahme durch totalitäre Ideologien und politische Agitationen zu schützen. Auf diese Weise können die komplexen Beziehungen zwischen Literatur, Leben und Wissen literaturtheoretisch entfaltet und gesellschaftlich relevant gemacht werden. Am Ziel? In diesem Sinne scheint mir auch die von Ansgar Nünning (Gießen) und Hans Ulrich Gumbrecht (Stanford) gleichermaßen zustimmend geäußerte Kritik hilfreich, derzufolge die in der Programmschrift abgesteckten Positionen letztlich eine Selbstverständlichkeit signalisierten, der man als Literaturwissenschaftler nur beipflichten könne. Dankbar bin ich dafür, daß diese „Selbstverständlichkeit“ von beiden nicht nur angesprochen, sondern in ihren Beiträgen auch flankierend herausgearbeitet wurde. Denn oft ist es das Selbstverständlichste, was zu tun unterlassen wird. Eben dies scheint mir hier der Fall zu sein: Wir sind nicht am Ziel, bevor wir überhaupt aufbrachen. Denn wo spielen Fragen des Lebenswissens innerhalb der aktuellen Forschungen in den verschiedenen Philologien theoretisch reflektiert tat- 116 sächlich eine Rolle? Nur schwerlich wird man für derartige Initiativen Beispiele benennen können. Es dominiert, so scheint mir, vielmehr ein eher ratloses Schweigen, sobald in der Literatur der Begriff des Lebens fällt. So analysiert - um nur ein aktuelles Beispiel unter so vielen herauszugreifen - Jochen Hörisch in seinem neuen Buch Das Wissen der Literatur ausführlichst und lesenswert die Ars Poetica des Horaz, indem er dem berühmten Vers 333 („Aut prodesse volunt aut delectare poetae“) in seiner Untersuchung den oft unterschlagenen Vers 334 („Aut simul et iucunda et idonea dicere vitae“) folgen läßt. Er führt durchaus Gerd Herrmanns Übersetzung („Helfen wollen die Dichter oder doch uns erfreuen / Oder beides: die Herzen erheitern und dienen dem Leben“) an, 10 doch spielt das in Versendstellung besonders betonte vitae in seiner Deutung leider keinerlei Rolle. Das Leben scheint philologisch so selbstverständlich zu sein, daß es schlicht verschwindet oder im Diskurs zu Begriffen wie „Realität“ oder „Gesellschaft“ mutiert. Dies aber, mit Verlaub, ist weder dasselbe noch selbstverständlich. Die von Ansgar Nünning mit Recht (und ganz im Sinne der Programmschrift) betonte Eigen-Logik der Literatur und insbesondere ihrer narrativen Dimension wird von Pablo Valdivia Orozco (Potsdam) aufgenommen und in seinen Reflexionen über „Lebensform und Narrative Form“ anhand des Begriffs des „narrativen Wissens“ ausgeführt (H. 128). Markus Meßling (Hamburg) zeigt seinerseits die Relevanz der von der Programmschrift aufgeworfenen Fragestellung ebenso für die Fachgeschichte wie für die Beschäftigung mit außereuropäischen bzw. kolonialen Problematiken. Wenn Christoph Menke Kritik an einer aus seiner Sicht nicht-konfrontativen Strategie gegenüber den Ansprüchen und Selbstverständlichkeiten der Life Sciences äußert, dann scheint mir diese Kritik aus der Perspektive der Philosophie, die schon seit geraumer Zeit gerade auf dem Gebiet der Ethik in Dialog und Wettbewerb, nicht selten aber auch offener Konfrontation mit den biotechnologischen „Lebenswissenschaften“ steht, nur allzu verständlich und überlegenswert zu sein. Doch ist aus meiner Sicht - wie in der Programmschrift erläutert - eine Doppelstrategie erfolgversprechender, erlaubt sie es doch, kritisch Begrifflichkeiten und Definitionen, wie sie die Life Sciences entwickelt haben und entwickeln, transdisziplinär auf die Literaturwissenschaften zu beziehen und zu sehen, welche Differenzen, Konfliktlinien und Entwicklungsmöglichkeiten im fächerübergreifenden, aber nicht bloß interdisziplinären Dialog entstehen. Ein Rückzug in ästhetizistisch geschützte Zonen und in kurzfristig ausgemachte „Kernbereiche“ des Faches hilft nicht: Es gilt, das Wissen der Philologien weiter zu spezialisieren und auszuweiten, zugleich aber Einzeldisziplinen querend zu vernetzen und zu demokratisieren. Wir sind nicht am Ziel, wir stehen am Anfang. Am Ende, am Anfang Längst ist der Raum, den mir die Herausgeber der Zeitschrift für einige abschließende, im Grunde aber öffnende Überlegungen zugestanden haben, überschritten. 10 Hörisch, Jochen: Das Wissen der Literatur. München: Wilhelm Fink Verlag, 2007, 25ff. 117 Viele Aspekte, die in den erwähnten wie in anderen Beiträgen beleuchtet wurden, gilt es noch aufzugreifen und weiter zu diskutieren. Doch hat die bisherige Debatte, für die ich dankbar bin, gezeigt, daß bei den beteiligten Fachvertretern und Disziplinen eine große Offenheit besteht, sich nicht auf die vorgebliche Autonomie eines bestimmten Teilfelds bzw. auf einen theorieinternen Standpunkt zurückzuziehen. Die sich fortsetzende Debatte kann dazu beitragen, ein Bewußtsein dafür zu entwickeln, die Erforschung der Eigen-Logiken und des Eigen-Sinns der Literatur wie auch der jeweiligen Disziplinen auf die wohl zentrale Herausforderung der Philologien zu beziehen: auf die (nicht wirklich selbstverständliche) Notwendigkeit, nach dem Nutzen und Nachteil der Literatur wie der Literaturwissenschaften für das Leben zu fragen. Jenseits einer Reduktion der Philologien auf ministerielle Nützlichkeitserwägungen, auf die Zweckrationalität gesellschaftlich erforderlicher Ausbildungen künftiger Lehrer oder des eigenen wissenschaftlichen Nachwuchses kann die Frage nach dem spezifischen Wissen und Lebenswissen der Literatur einen Prozeß in Gang setzen, der die Relevanz der Literatur, aber auch einer sich als Lebenswissenschaft verstehenden Literaturwissenschaft nicht zuletzt darin erkennt, viel-logische, polylogische Strukturen zu entwickeln und zu durchdenken. Die Fähigkeit der Literatur, in verdichteter Form unterschiedliche Sprachen und verschiedenartige Logiken gleichzeitig zu Gehör zu bringen und miteinander zu verschränken, kann in ihrer Bedeutung für das individuelle wie für das kollektive Leben schwerlich überschätzt werden. Literatur ist das Ergebnis und das Erlebnis einer ebenso transgenerationellen wie transkulturellen Tätigkeit, die gewiß zu den komplexesten und kreativsten Aktivitäten gehört, die sich Menschen unterschiedlichster Herkunft bislang geschaffen haben. Kulturen und Gesellschaften entwickeln zu bestimmten Zeiten und innerhalb bestimmter Kontexte ein Zusammenlebenswissen, das sich nicht nur immer weiter anreichern, sondern auch in mehr oder minder starkem Maße verloren gehen kann. Eine am Lebenswissen der Literaturen der Welt ausgerichtete Literaturwissenschaft vermag die Vielfalt der literarisch geschaffenen polylogischen Strukturen nicht nur zu analysieren, sondern für eine individuelle wie gesellschaftliche Entwicklung fruchtbar zu machen, die von möglichst komplexen, verschiedene Kulturen und Diskurse querenden Denkweisen geprägt ist. Ein derartiges Wissen ist für unsere Gesellschaften überlebensnotwendig. Ein Jahr nach der Vorstellung der Programmschrift schließt sich der Kreis: Wir sind am Ziel, ohne am Ziel zu sein. Mit diesem Dossier soll die Debatte in lendemains einen vorläufigen Abschluß finden, gerade weil alle Zeichen darauf deuten, daß die Diskussion weiter an Fahrt aufnimmt. Vieles wird davon abhängen, ob es gelingt, die Debatte auch in andere Sprachen und kulturelle wie fachspezifische Kontexte zu übersetzen und nicht nur mit anderen Worten, sondern mit den Worten des Anderen auf neue Horizonte hin zu öffnen. Erste Reaktionen aus dem englisch-, spanisch- und französischsprachigen Raum sind mehr als ermutigend. Die Philologie blickt, anders als Charles Percy Snow es wollte, nicht nur historisch ins Vergangene zurück, sondern wendet sich zugleich dem Künftigen zu: Sie hat - wie 118 die Naturwissenschaften - the future in their bones. 11 Auch für diese künftigen Debatten gilt, was gleich am Anfang dieses Dossiers für Amin Maaloufs Literatur ohne festen Wohnsitz, aber auch für ein sich fortentwickelndes Zusammenlebenswissen von so entscheidender Bedeutung ist: Vivre une autre langue, une autre réalité. 11 Snow, C.P.: The Two Cultures. With Introduction by Stefan Collini. Cambridge: Cambridge UP, 1993, 10.