eJournals lendemains 33/129

lendemains
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Narr Verlag Tübingen
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2008
33129

Disziplinäres (Über-)Lebenswissen

2008
Markus Meßling
ldm331290102
102 Markus Meßling Disziplinäres (Über-)Lebenswissen Zum Sinn einer kritischen Geschichte der Philologie 1. Literaturwissenschaft als Lebenswissenschaft In seiner Streitschrift über „Literaturwissenschaft als Lebenswissenschaft“ (2007) hat Ottmar Ette seine 2004 dargelegte These von der Funktion der Literatur als Speicher eines „(Über-)Lebenswissens“ programmatisch erneuert. Diese These hat zwei Stoßrichtungen: Einerseits will sie das dominante biowissenschaftliche Konzept vom Menschen um eine kulturelle Dimension des Wissens vom Leben ergänzen. Andererseits fordert sie mit dem Rückbezug der Literatur zum Leben für die Literaturwissenschaft eine gesellschaftliche Relevanz wieder ein, welche die Philologien in großem Maße aus sich selbst verbannt haben, indem sie der bürgerlichen Vorstellung der Autonomie der Kunst ein ästhetizistisches Konzept von Literatur als vorwiegend selbstreferentiellem System an die Seite gestellt haben. Auf diese fachpolitisch sicher explosivere, literaturtheoretische Dimension der Etteschen These hat Wolfgang Asholt (2007: 222-224) hingewiesen. Ottmar Ette propagiert damit keine simplizistische materialistische Literaturtheorie, mit der die „gewachsene Einsicht in die Komplexität [literarischer und literaturtheoretischer Wissensproduktion] und den Eigen-Sinn, die Eigen-Logik dieses Gartens des Wissens“ (Ette 2007: 8) zerstört würde. Sehr wohl aber rückt er mit dem Anspruch einer textbasierten kulturwissenschaftlichen Erforschung des Lebens die historischen und sozio-ökonomischen Bedingtheiten von Literatur und auch ihrer Theorie wieder in den Fokus der Betrachtung. 1 Es geht also letztlich um nicht weniger als um eine Resozialisierung des Literaturbegriffs. Diese aber ist dringend erforderlich, wollen die Philologien nicht ein selbstgenügsames Spiel sein, sondern als Teil der Sciences humaines ihr Wissen über das menschliche Leben in die gesellschaftliche Diskussion korrigierend einbringen. Hier wird deutlich, wie sehr die beiden Dimensionen von Ottmar Ettes These sich gegenseitig bedingen. Eine so verstandene Philologie, die die Literatur als dynamisches Archiv des Lebens begreift, produziert also ein Wissen, dessen Natur jene eines historisch und sozial strukturierten Erfahrungswissens ist. Wie sollte dieses aber relevant sein ohne ein selbstkritisches Hinterfragen seiner Entstehung und also der (Entwicklung der) Methoden und Theorien seiner Produktion? 2 Die damit verbundenen erkenntnistheoretischen Fragen drängen sich schon deshalb auf, weil die Philologie selbst seit der Zeit ihrer wissenschaftlichen Ausprägung im 19. Jahrhundert nicht vor der 1 Vgl. Ette 2007: 9 f. 2 Vgl. Asholt (2007: 221). 103 Gefahr des Biologismus und Positivismus (etwa bei Schlegel, Schleicher und Gobineau), ebenso wenig aber vor der Gefahr eines kulturalistischen Relativismus und Essentialismus (etwa bei Renan oder im Neuhumboldtianismus) gefeit gewesen ist. Sie drängen sich aber noch mehr auf, wenn man bedenkt, dass die Verbindung dieser beiden Ansichten gravierende ideologische Folgen gehabt hat. Edward W. Said hat daraus in seinem berühmten Buch Orientalism. Western Conceptions of the Orient (1978) bekanntlich die Schlussfolgerung gezogen, dass die europäische Philologie in der Nachfolge Friedrich Schlegels in ihrem Kern rassistisch gewesen sei und eine zentrale ideologische Funktion für den Kolonialismus erfüllt habe. Folgt man diesem Anwurf Saids zumindest in seinem diskursanalytischen Gehalt, so erscheint kritische Wissenschaftsgeschichte zu einem dringlichen Prozess der theoretischen Bewusstseinsbildung zu werden. Spitzen wir die Problematik ruhig zu: Sind die europäischen Philologien nicht eine moralisch stark verbrauchte Wissenschaft, deren Aussagekraft über die sprachlichen Grundlagen und kulturellen Formen des menschlichen Lebens nachhaltig diskreditiert ist? Und an welche Tradition will dann eine Literaturwissenschaft anknüpfen, deren Anspruch es ist, in den sprachlichen, insbesondere literarischen Produktionen ein Wissen vom Leben als „(Über-)Lebenswissen“ ans Licht zu bringen? 2. Eurozentrismus und Rassismus: Das Problem der europäischen Philologie(n) Diese Fragen führen uns zurück in die Geschichte der europäischen Philologie(n). Das Problem der Repräsentation symbolischer Formen fremder Kulturen, insbesondere ihrer Sprachen, wird nicht erst im 19. Jahrhundert virulent. Mit der Eroberung Mittel- und Südamerikas durch die Spanier und Portugiesen stellt sich für die verwaltenden Kolonialeinheiten, vor allem aber für die Missionen, dringlich die Frage, wie die Sprachen der oftmals illiteraten indianischen Völker funktionieren und wie sie verschriftlicht und systematisiert werden können. Der wichtigste Ausdruck dieser Sprach-Arbeit sind die so genannten „Missionars-Grammatiken“. 3 Die zwei großen Aspekte sprachlich-kultureller Repräsentation - die Erfahrung der differenten Repräsentationen von Welt in den Sprachen einerseits; die Problematik der adäquaten Repräsentation der Sprachen andererseits - sind also spätestens seit der Neuzeit praktische Probleme einer kulturellen Praxis der Aufzeichnung und Klassifikation. Doch diese Fragen sollten im Umbruch vom 18. zum 19. Jahrhundert eine neue Qualität erhalten. Innerhalb eines neu-historischen Denkens entsteht eine „positi- 3 Mit der Einschätzung der Spezifik und epistemologischen Leistung der frühneuzeitlichen Kolonialgrammatiken beschäftigt sich der Bereich 6 des SFB 573 „Pluralisierung und Autorität in der Frühen Neuzeit (15.-17. Jh.)“ an der LMU München. Vgl. zu diesem Problemfeld den stark theoretisierenden Aufsatz von Wulf Oesterreicher (2005). 104 vistische“ Wissenskultur, die sich als empirische Ethnographie und historisch-vergleichende Sprachforschung äußert und als philologische Wissenschaft institutionalisiert. Diese tritt mit einem neuem methodischen Selbstverständnis und einem neuen Welterklärungsanspruch auf. Innerhalb der europäischen Gesellschaften wird die Philologie (Sprach- und Textwissenschaft) zu einem ‘Ort’ der Erklärung menschlicher Dispositionen und Kulturproduktionen von herausragender Autorität. Es hat daher seinen guten Grund, dass der amerikanisch-palästinensische Intellektuelle Edward W. Said in seinem berühmten Buch über den Orientalismus mit dem Umbruch zum 19. Jahrhundert beginnt. Es geht ihm um das Problem der Repräsentation im Nukleus der sich als aufgeklärt verstehenden europäischen Kultur, um die Beschreibungsmacht der modernen Wissenschaft. Die von Edward W. Said in Orientalism vertretene These ist - das muss heute kaum mehr ausgeführt werden - äußerst wirkmächtig in allen textbasierten kulturwissenschaftlichen Disziplinen gewesen. 4 Said suchte die subtile intellektuelle Vermessung der östlichen Kulturen anhand eurozentrischer Kriterien aufzudecken, in der er eine gedankliche Vorbereitung und ideologische Grundlage für die kartographische Vermessung der ‘orientalischen’ Welt und ihrer Kolonialisierung sah. 5 Dabei arbeitete er diskursanalytisch und zielte auf die epistemologischen (ideologischen) Implikationen der Texte und deren selbstreferentieller Repräsentation und Reproduktion und nicht auf ihre politische Intentionalität. In seinem machtanalytischen Denken folgt Orientalism dann auch eher Michel Foucault und nicht Gramsci, der die Bedeutung der Fülle individuellen Materials stets betont hat - und dies, obwohl Said Gramscis Position in seinen theoretischen Erwägungen für zentral erachtete. 6 Wenn Michel Foucaults Erkenntnis von den epistemischen Grundlagen unserer europäischen Gesellschaft(en) einerseits historische Bruchstellen archäologisch freilegt, so hat diese Erkenntnis Foucault andererseits dazu gedient, die Ausprägung von Diskursen - wie der historisch-vergleichenden Sprachforschung im 19. 4 Dementsprechend heftig und grundsätzlich war auch die Kritik an Said. Vgl. für einen Überblick Macfie (Hg. 2000) und Castro Varela/ Dhawan (2005: 37-49). 5 Für die Konstruktion der ausgerechnet in der aufgeklärten Wissenschaft produzierten kulturellen Hegemonie des ‘Westens’ schrieb Said daher auch den zunächst nicht unmittelbar in den Kolonialismus verwickelten deutschsprachigen Denkern eine erhebliche Relevanz zu: „Yet what German Orientalism had in common with Anglo-French and later American Orientalism was a kind of intellectual authority over the Orient within Western culture. This authority must in large part be the subject of any description of Orientalism, […]“ (Said 1978: 19). 6 „Yet unlike Michel Foucault, to whose work I am greatly indebted, I do believe in the determining imprint of individual writers upon the otherwise anonymous collective body of texts constituting a discursive formation like Orientalism. The unity of the large ensemble of texts I analyze is due in part to the fact that they frequently refer to each other: Orientalism is after all a system for citing works and authors“ (Said 1978: 23). Vgl. auch Said (1997: 412 f.), wo dieser auch zur Relevanz Antonio Gramscis für sein Denken Stellung bezieht. 105 Jahrhundert - und vor allem ihre Durchsetzung zu erklären. 7 Dabei tritt die Vielfalt der Möglichkeiten von Diskursmodellierungen und von Abweichungen und Widerständen weitgehend in den Hintergrund. Bei Foucault ist das Programm. Nachdem er - vor allem aufgrund der systematischen Kritik Jacques Derridas - seinen Versuch als gescheitert ansehen musste, mit Folie et déraison. Histoire de la folie à l’âge classique (1961) den Wahnsinn als Repräsentation einer außerhalb des rationalen Vernunftdiskurses stehenden anderen Vernunft erfassen zu können, war sein Denken deutlich vom Machtpessimismus geprägt. 8 Ihn interessiert fortan - zumindest den ‘Foucault’ im zeitlichen Umfeld von Surveiller et punir. Naissance de la prison (1975) - das Hegemoniale und die ‘dahinter’ liegenden Machtinteressen. 9 Da aber, wo der hegemoniale Diskurs als solcher nicht gekennzeichnet ist, sondern als allumfassende Äußerungs-Tradition erscheint, da tritt genau jene Gefahr der „invertierten Teleologie“ auf, die Wulf Oesterreicher thematisiert: Wenn man das ‘Neue’ dagegen kurzerhand mit dem sich durchsetzenden ‘Wandel’ identifiziert, werden die historischen Situationen inhärenten konkreten Möglichkeiten, die in durchaus unterschiedlichen, konkurrierenden Innovationsgestalten liegen, verkannt - historische Erkenntnis wird damit unmöglich gemacht. (Oesterreicher 2005: 33- 34) Dies ist vor allem dann problematisch, wenn es, wie in Edward W. Saids Foucaultbasiertem Buch, um Kernbereiche europäischer Kultur in der Moderne geht, die zweifelsohne einen entscheidenden ideologischen Anteil am Imperialismus hatten. Gewiss, Edward W. Said hat zurecht den Anteil aufgezeigt, den die Philologie als prestigereichste Wissenschaft des 19. Jahrhunderts an der Herausbildung und Ausprägung des rassistischen Diskurses hatte. Und vermutlich hat Said sogar Recht, wenn er in dem von ihm als Orientalismus bezeichneten Diskurs den hegemonialen Diskurs Europas über die Anderen und das Andersartige ausmacht. Die historische Evidenz ist viel zu groß, um dem zu widersprechen. Problematisch ist nur, dass Said diesen hegemonialen Diskurs nicht ausreichend als solchen gekennzeichnet hat und dieser so zum grundsätzlichen Vorbehalt wird, der jedes europäische Reden über andere Menschen, Sprachen, Kulturen und Texte vom 19. Jahrhundert an zum Orientalismus, wenn nicht Rassismus werden lässt - und somit einer „invertierten Teleologie“ unterwirft, in der alles vom dominanten Diskursgeschehen alternativlos mitgerissen wird. 10 Saids „totalisierender Impetus des prä- 7 Vgl. vor allem Foucault (1966 u. 1969). 8 Vgl. Boyne (1990: 53 f.). 9 Allerdings hat Foucault auch, wie im Falle des „discours de la lutte des races“, den Machtinteressen zuwiderlaufende Gegendiskurse herausgearbeitet (vgl. Foucault 1976: 51-74). Dabei wäre jedoch zu diskutieren, ob Foucaults Interesse daran nicht letztlich auch der Kraft ihrer Durchsetzung geschuldet ist. 10 Gegen solch undifferenzierte Lesarten europäischer Denker, vor allem Herders und Humboldts, hat Jürgen Trabant immer wieder argumentiert; vgl. vor allem Trabant (1990: 235- 241 u. 2003: 162-165). 106 sentierten Arguments“ (Castro Varela/ Dhawan 2005: 38) lässt zu wenig Raum für das Denken von Widerständen und Heterogenitäten. Die individuellen Momente bleiben in Orientalism letztlich Spielarten, sind Varianten und Erweiterungen der Merkmale des orientalistischen Diskurses, insofern Said weit über „die Einstellung einzelner Subjekte zum Fremden […]“ hinaus „die Haltung einer gesamten Zivilisation, der modernen europäischen, zu dem, was sie für ihr Gegenteil hält“ (Osterhammel 1997: 599) aufdecken will. Das ist in der Forschung auch gesehen worden - allerdings beinahe ausschließlich für einen breiteren kulturellen Imaginationsraum wie ihn vor allem Literatur, Lyrik und Reiseberichte bieten, deren kritische Funktion gegenüber dem politischen Orientdiskurs betont worden sind (vgl. etwa Clifford 1988, Porter 1993, Polaschegg 2005, zuletzt Goer/ Hofmann (Hg.) 2007). Im Zentrum der Betrachtung aber müsste die Frage der wissenschaftlichen, insbesondere philologischen Repräsentation stehen, doch hier besteht noch immer erheblicher Forschungsbedarf. Die von Said dargelegte Betrachtungsweise ist aber natürlich nur von einem Standpunkt aus möglich, der die Erfahrungen der Katastrophen und Traumata des Imperialismus und des Totalitarismus reflexiv verinnerlicht und in der Geschichte Gründe für das zivilisatorische Scheitern sucht. Dabei müssten gerade vor dem Hintergrund solcher Erfahrungen auch die Alternativen des Nachdenkens über fremde Kulturen und den ‘Anderen’ in den Blick geraten. Dafür eignet sich die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts aufgrund der Entstehung des philologischen Systems der Repräsentation als Wissenschaft von den Sprachen, Texten und Kulturen besonders. War die Hegemonie des von Edward W. Said beschriebenen Diskurses dabei alternativlos und unumgänglich? Diese Frage rückt nun das Individuelle wieder in den Blick, also die von Gramsci stets betonte Inkonsistenz des Materials 11 sowie alternative Muster und Praktiken des Denkens, wie sie bei einer individualistischen Konzeption von Texten hervortreten. 3. Die Notwendigkeit einer kritischen Reperspektivierung der Fachgeschichte In den großen Ideengeschichten des modernen Rassismus, die die ‘Verwissenschaftlichung’ des Rassebegriffs im 19. Jahrhundert beleuchten - etwa in Arendt (1951), Mosse (1978), Poliakov (1981) - spielt die Philologie zwar eine gewisse Rolle, aber doch eher eine der Anthropologie nebengeordnete. So gibt es jenseits von Einzelstudien bisher nur äußerst wenige grundsätzliche Arbeiten zu dem Thema: Dazu ist zunächst Saids (1978) Studie über den Orientalismus selbst zu zählen. Maurice Olender hat sich seit dem von ihm herausgegebenen Sammelband Le Racisme: mythes et sciences. Pour Léon Poliakov (1981) mit dem Verhältnis von Wissenschaft und Rassismus beschäftigt und in seinem Buch Les lan- 11 Zur Problematik der Mannigfaltigkeit des Materials und der besprochenen Gegenstände bei Gramsci vgl. Bochmann (1984: 22 f.). 107 gues du Paradis. Aryen et sémites: un couple providentiel (1989) die religiöse Dimension des in der Philologie des 19. Jahrhunderts produzierten Schismas zwischen „Ariern“ und „Semiten“ herausgearbeitet. Ruth Römer schließlich hat mit Sprachwissenschaft und Rassenideologie in Deutschland (1985) eine gewichtige Studie über den rassistischen Diskurs vorgelegt, gegen die jedoch zwei Einwände zu erheben sind. Einerseits setzt die Arbeit zu sehr auf eine beinahe teleologische Tradition des Rassismus in der Philologie und zeichnet einen Diskurs, der deutlich von den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts geprägt ist. 12 Andererseits ist die Beschränkung der Arbeit auf Deutschland problematisch, weil das Problem rassistischer Implikationen in der Philologie keine Frage nationaler Eigenheiten, sondern - wie in anderen Disziplinen auch - über die Grenzen hinweg abhängig von jeweiligen wissenschaftlichen Positionierungen gewesen ist. Das lässt sich am Austausch zwischen deutschen und französischen Forschern bestens zeigen. 13 Das Enjeu besteht also darin, die Inkonsistenz und innere Widersprüchlichkeit des philologischen Diskurses aufzuarbeiten. Nicht um Saids These zu revidieren - der Beitrag der europäischen Philologie zum Rassismus ist nicht zu leugnen und bleibt die schmerzhafte ‘Ursünde’ unseres Faches -, sondern um aufzuzeigen, dass gerade in der Zeit einer innerlichen Verquickung von Sprach-, Text- und Kulturstudium mit einem eurozentrischem Denken durchaus Alternativen erdacht wurden, von differierenden Forschungsprojekten bis hin zu offener Kritik der philologischen Praxis. Wilhelm von Humboldt etwa tauscht sich mit dem Pariser Asienwissenschaftler Eugène Vincent Stanislas Jacquet über ein Projekt aus, das Kurt Mueller-Vollmer (1993: 68) eine „Linguistik der Befreiung“ genannt hat. Dabei geht es genau um das Problem der ideologischen Repräsentation der Sprachmaterialien in den Missionars-Grammatiken und um deren angemessenen Gebrauch. 14 Der Terminus der Befreiungslinguistik erhält seine Bedeutung aber nicht nur in dieser Hinsicht, sondern auch in Bezug auf die aufziehende historisch-vergleichende Sprachforschung, die die Sprachen in eine neue Abhängigkeit vom eurozentrischen Blick führen sollte, und zwar durch die mit der genetischen Fragestellung oftmals unmittelbar einhergehende Bewertung von Sprachen und Sprachgruppen nach Kriterien der indoeuropäischen Sprachfamilie. So hat Wilhelm von Humboldt gegenüber dem ‘Indien’-Projekt der Romantiker erhebliche Vorbehalte geäußert. 15 12 Zur unseligen Rolle der philologischen Disziplinen (Linguistik und Literaturwissenschaft) im „Dritten Reich“ vgl. die Arbeiten von Hutton (1999, 2005) sowie Hausmann (2000, 2003). 13 Vgl. etwa Wilhelm von Humboldts Position, die stark durch den Austausch mit französischen Forschern bedingt ist (vgl. Messling 2008, Kapitel 6 u. 7). Zum deutsch-französischen Transfer in den Philologien allgemein vgl. etwa Espagne/ Werner (Hg. 1988 sowie 1990). 14 Vgl. Jacquet (1831), Humboldt (1832) sowie die unveröffentlichte Korrespondenz zwischen den beiden Gelehrten, die in der Bibliothèque Nationale de France aufbewahrt wird. 15 Vgl. hierzu Messling (2008: 243-250) sowie Messling (im Druck). 108 Der erste große europäische Sinologe schließlich, Jean-Pierre Abel-Rémusat, sollte nicht nur das Chinesische - auf argumentativ beinahe verquere Weise - auf Augenhöhe der weithin bevorzugten indoeuropäischen Sprachfamilie heben, sondern eine klarsichtige politische Kritik der europäischen Philologie in Zeiten ihrer ideologischen und gesellschaftlichen Ermächtigung vortragen, die zahlreiche Aspekte der Saidschen Kritik im Grunde schon vorweggreift. 16 Oder - um ein drittes Beispiel zu nennen - August Friedrich Pott, der Gobineaus sozial-biologische Wende der Sprachenfrage bissig kritisierte. 17 Es geht also nicht darum, die wichtige Errungenschaft Foucaults, ideologische und formative Kräfte von Diskursen zu erkennen, in Frage zu stellen - und insofern kann eine Geschichte der Philologie in ideologischer Hinsicht stets nur im Anschluss an Said verstanden werden. Es soll aber der mit dem postmodernen Machtpessimismus einhergehende Eindruck der Optionslosigkeit dahingehend relativiert werden, dass das Individuelle und damit die historischen Alternativen, die durchaus bestanden, ebenso zur Sprache gebracht werden. Diese historische Aufarbeitung Saids ist überfällig, denn in ihr liegt zugleich eine relevante systematische Dimension: Die zentrale Frage dabei ist nämlich, ob in den individuellen Abweichungen des von Said beschriebenen Diskurses nicht Ansätze zu einem philologischen Gegendiskurs liegen, nämlich jenem der Anerkennung der Alterität, der sich zwar viel später erst durchsetzen sollte, sich aber in der Zeit der eurozentrischen Ermächtigung der Philologie bereits manifestiert. Wie anfangs betont, erscheint diese Frage umso dringlicher, wenn die Literaturwissenschaft - m.E. zu Recht - als eine „Lebenswissenschaft“ (Ette 2007) aufgerufen wird, in der die philologische Arbeit als eine Arbeit am literarischen Reservoir eines Wissens vom Menschen gesehen wird. Denn es stellt sich die Frage, wie eine Philologie, die sich der historischen Alternativen zu ihrer eurozentrisch strukturierten Vergangenheit nicht oder nur rudimentär bewusst ist, sich selbst überhaupt als ‘Ort’ der Genese eines nicht-zynischen Wissens über das Leben begreifen kann? Kritische Wissenschaftsgeschichte wird hier schlicht zum eigenen „(Über-)Lebenswissen“. 16 Vgl. Abel-Rémusat (1843). 17 Vgl. Römer (1985: 138 ff.). 109 Literatur: Abel-Rémusat, Jean-Pierre (1843): „Discours sur le génie et les mœurs des peuples orientaux“. In: Ders.: Mélanges posthumes d’histoire et de littérature orientales. Paris: Imprimerie Royale: 221-251. Arendt, Hannah (1951): Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. 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