eJournals lendemains 33/129

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Narr Verlag Tübingen
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2008
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Erinnerungen an Werner Krauss (25.03.2000)

2008
Martin Hellweg
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85 Martin Hellweg Erinnerungen an Werner Krauss (25.03.2000) Als einer der wenigen noch lebenden Bekannten, Weggefährten und Freunde von Werner Krauss aus den dreißiger Jahren bis zur Nachkriegszeit möchte ich die Bitte von Martin Vialon erfüllen, dies Grußwort an Sie mit einigen persönlichen Erinnerungen an Werner Krauss zu verbinden. Über die wissenschaftlichen Leistungen des großen Gelehrten und Forschers werde ich nicht sprechen; es wird Ihre Aufgabe sein, sein umfangreiches, bedeutendes Lebenswerk nach den verschiedenen Seiten hin zu durchleuchten - auch zu entschlüsseln. Ich will nur über meine persönliche Beziehung zu ihm berichten, und nach so vielen Jahren kann das auch nur eine sehr lückenhafte Darstellung sein. Ich war bei seiner Antrittsvorlesung im Jahr 1931. Das Thema über die Darstellung der Arbeitswelt in der frühen spanischen Literatur interessierte mich sehr. Noch in Erinnerung ist mir geblieben, daß Krauss den väterlichen Frack trug, der durch die Ösen für die Ordensschnallen zu erkennen war. Im Jahr 1933 oder 1934 traf ich ihn zum ersten Mal zu einem längeren persönlichen Gespräch. Frau Braun, die spätere Frau des damaligen italienischen Lektors, späteren Professors in Neapel, Franco Lombardi, hatte das Treffen vermittelt. Sie wohnte in demselben verwunschenen Haus am Renthof wie ich. Bei dieser Begegnung merkten wir bald, daß eine große Affinität in unseren wissenschaftstheoretischen Auffassungen bestand. Wir besprachen die Problematik meines Dissertationsthemas, das ich Prof. Auerbach vorgeschlagen hatte und das er mit Zustimmung und großem Beifall angenommen hatte: „Der Begriff des Gewissens bei J.-J. Rousseau“. Krauss gab mir dazu weitere Anregungen und nützliche Hinweise. Nach dem Rigorosum erhielt ich die Assistentenstelle am Romanischen Seminar. Prof. Auerbach hatte mir in Aussicht gestellt, daß er mich habilitieren wollte, in der trügerischen Hoffnung, daß er in Deutschland werde bleiben können. Werner Krauss hatte für mich bereits Quartier auf dem Rotenberg 28 A gemacht, und so wohnte ich in den folgenden zwei Jahren Wand an Wand mit seiner Wohnung. Wir diskutierten sehr viel miteinander, oft fast täglich über all die Fragen, die uns bewegten, und das in einer offenen und freundschaftlichen Form. Ich hatte niemals den Eindruck, daß wir uns im Inneren gefragt hätten: Wie schätzt mein Gegenüber mich eigentlich ein? Was hat er an mir gefunden? Man hat es eben. In dieser Selbstverständlichkeit und Unmittelbarkeit im gegenseitigen Verstehen und Verhalten, und daß man sich ohne wenn und aber annimmt, darin besteht wohl das Geheimnis und das Glück der Freundschaft. Werner Krauss war ein unermüdlicher Arbeiter, der häufig nachts bis in die Morgenstunden hinein las und schrieb - unersättlich in seiner Wißbegier, dabei sehr anregend im Gespräch. Und doch ergaben 86 sich immer wieder Gelegenheiten zu abendlichen Radfahrten in die bezaubernde Umgebung Marburgs. Manchmal kam er in mein Zimmer und fragte, ob ich Lust auf ein echtes Pilsener Bier hätte. Da es in Marburg keins gab, setzten wir uns aufs Rad und fuhren nach Gießen, wo wir das gewünschte Bier zum Abendessen in einem Gartenlokal genossen. Mit dem Nachtschnellzug fuhren wir wieder zurück. Bis zu seiner Verhaftung standen wir in brieflicher Verbindung. Auf den Reisen in den Urlaub besuchte ich ihn auch in Berlin. Kurz vor seiner Verhaftung warnte er mich noch: ich solle ihm nicht mehr schreiben, er sei in Gefahr. Diese kurze Notiz habe ich nicht aufbewahrt, auch er hat meine Briefe wohl verbrannt, um mich nicht zu belasten. Bei einem späteren Aufenthalt in Berlin rief ich Felipe Gonzales Vicén an, er schien über meinen Anruf überrascht zu sein - er wußte nur, daß Werner Krauss zum Tode verurteilt war, aber nicht, ob er noch am Leben war oder nicht. Ich selbst war bis zum Kriegsende fest davon überzeugt, daß wir uns wiedersehen würden. Das traf auch im August 1945 zu. Werner Krauss hatte sich schon mit meiner Frau in Verbindung gesetzt, und ich besuchte ihn auf dem Rotenberg - er war gezeichnet von den Leiden der Gefangenschaft. Trotzdem war er unermüdlich tätig, in der Hoffnung, seine Visionen in die Wirklichkeit umsetzen zu können. Unsere Verbindung ist nach seinem Weggang nach Leipzig abgebrochen, durch die damaligen Verhältnisse. Ich habe ihn noch einmal in Freiburg wieder getroffen, wo er auf Einladung seines Schülers, Prof. Köhler, einen Vortrag hielt. Er war durch seine Krankheit körperlich gebrochen und ein in seinem Verhalten veränderter Mensch, der kurz danach von uns gegangen ist. - Ich wünsche Ihnen, den Vortragenden und Hörern während dieses Kongresses einen erfolgreichen Verlauf und eine anregende und fruchtbringende Begegnung mit dem so vielschichtigen Werk von Werner Krauss und bedauere, nicht dabei sein zu können. Aber: In absentia praesens sum. Der handschriftliche Begleitbrief zu diesem Dokument lautet folgendermaßen: Köln, am 25. 3. 00 Lieber Martin Vialon! Anbei meine kurz gefaßten „Erinnerungen“. Sie sind länger geworden als gedacht und angegeben. Wenn Sie sie als nicht angemessen befinden, lassen Sie sie weg. Mir hatte die Niederschrift heute einiges abverlangt, weil damit auch schmerzliches verbunden war - tempi passati. Ich würde Ihnen dankbar für eine maschinengeschriebene Kopie sein, durch die Schreibmaschine verkürzt sich das Gesagte. Mir geht’s nicht besonders gut - diese lästigen Anfälle von Gastritis dauern nun schon lange. Ich wünsche Ihnen viel Erfolg bei dem Kongress! Mit herzlichen Grüßen Ihr Martin Hellweg