eJournals lendemains 33/129

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Narr Verlag Tübingen
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2008
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W. Marx: L’Adieu à la littérature

2008
Peter Bürger
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154 WILLIAM MARX: L’ADIEU A LA LITTERATURE. HISTOIRE D’UNE DEVALORISA- TION. XVIII E -XX E SIECLES. PARIS, EDITIONS DE MINUIT, 2005 (COLLECTION PARADOXE), 234 S. Zur Krise der literarischen Kultur Bremen, den 18. 9. 2007 Lieber Wolfgang Asholt, [...] Ich habe mir gleich nach der Rückkehr aus Münster L’Adieu à la littérature von William Marx vorgenommen, auf das Sie mich aufmerksam gemacht haben. Es wäre einfach, das Buch als Manifest einer offen reaktionären Literaturauffassung hinzustellen. Es gibt Passagen, die einen dazu verleiten können, z. B. wenn der Verfasser in den Prozessen gegen Mme Bovary und die Fleurs du mal unzweideutig die Position des Staatsanwalts ergreift und dessen Schlußplädoyer zustimmt: „Imposer à l’art l’unique règle de la décence publique, ce n’est pas l’asservir, mais l’honorer“ (70). Daß der Amoralismus von Flaubert und Baudelaire, wie Marx behauptet, die Gesellschaft traumatisiert habe, wird man wohl als einen freilich recht gewaltsamen Versuch lesen müssen, die übliche Betrachtungsweise umzukehren, die vom Leiden des Schriftstellers an der Gesellschaft ausgeht. Die Schwäche dieses Versuchs besteht nicht nur darin, daß sich das unterstellte kollektive Trauma nicht nachweisen läßt, sondern darin daß die moralische Empörung des bourgeois immer auch gespielte Empörung ist. Trotzdem hat die Umkehrung der herkömmlichen Betrachtungsweise zumindest den Wert einer Provokation (der Kritiker bzw. „wir“ als Kritiker wissen uns immer - im Nachhinein, versteht sich - auf der richtigen Seite, der des angegriffenen Autors. Diese angenehme Gewißheit stellt Marx in Frage). Vor einer vorschnellen Verurteilung des Buches möchte ich aber vor allem deshalb warnen, weil dieses doch unser Problem behandelt: die Entwertung der Literaturwissenschaft, der critique littéraire, die der Autor als Teil einer Entwertung der Literatur verständlich zu machen sucht. Nostra res agitur! Die Weise, wie er das tut, hat nun freilich wiederum den Charakter einer Provokation. Statt, wie man es erwarten würde, auf gesellschaftliche Prozesse als Ursache der Entwertung der Literatur zu verweisen (z. B. die neuen Medien, die das Interesse der Jüngeren und nicht nur deren Interesse von der Literatur abziehen), bemüht sich Marx um eine Erklärung, die ganz abhebt auf die immanente Entwicklung des Literaturbegriffs seit der Veröffentlichung einer französischen Übersetzung des antiken Traktats Über das Erhabene durch Boileau im Jahr 1674. Marx sieht hierin den Anstoß zu einem Paradigmenwechsel dessen, was man bald Ästhetik nennen wird, den 155 Wechsel von einer der raison verpflichteten Kunstauffassung zu einer des sentiment. Die neue Ästhetik des Erhabenen rücke die Dichtung in die Nähe der Religion und führe mit der deutschen Romantik zu einer Sakralisierung des Dichters wie der Dichtung. Diese „Überbewertung“ der Literatur wiederum erscheint zusammen mit der Autonomiesetzung als Ursache einerseits einer Anmaßung der Literatur, die Gesellschaft nicht nur spiegeln, sondern ihr ein ideales Bild ihrer selbst vorhalten zu wollen, andererseits aber einer zunehmenden Abschließung besonders der Dichtung und der Sprache der Dichtung gegenüber der Wirklichkeit, die schließlich in Mallarmés Trennung von poetischer Sprache und Alltagssprache einmünde, ein Verhängnis, das im 20. Jahrhundert auch auf die Prosagattungen übergreife. Die These läuft darauf hinaus, daß die Vorstellung der Intransitivität der literarischen Sprache, ihrer Unfähigkeit, das Wirkliche zu bezeichnen, auf die Dauer dazu führen mußte, daß die Gesellschaft der Literatur den Rücken kehrt, weil diese ihr nichts mehr sie Betreffendes zu sagen hat. Vieles von dem, was der Autor in oftmals skizzenhafter Weise andeutet, ist von einer methodisch reflektierten historisch-soziologischen Literaturwissenschaft in Detailstudien in den 70er und 80er Jahren dargestellt worden. So hat z. B. Christa Bürger in mehreren Aufsätzen gezeigt, welche Folgen die Durchsetzung der Autonomiedoktrin durch Goethe und Schiller („Xenienkampf“) auf die literarische Öffentlichkeit in Deutschland gehabt hat. Sie hat nämlich dazu geführt, daß die Erörterung von Problemen des alltäglichen Lebens in die durch die Autonomiesetzung der Literatur als Kunst erst entstehende Trivialliteratur abgedrängt und das Rezeptionsinteresse vom Werk auf die Person des Autors verschoben wurden (vgl. z. B. Ch. Bürgers Einleitung zu dem Band Zur Dichotomisierung von hoher und niederer Literatur, in: Hefte f. kritische Literaturwiss., 3; ed. suhrkamp 1089. Frankfurt/ M., 1982). - Übrigens ist der Autonomiestatus der Literatur nicht erst von William Marx, sondern bereits von den historischen Avantgarden problematisiert worden. Warum hinterläßt die Studie von Marx, obwohl sie vieles Zutreffende konstatiert, dennoch beim Leser einen Eindruck des Unbefriedigenden? Ich denke, es liegt an dem Gestus des Autors. Er sucht Schuldige und findet davon nur zu viele. Die ganze Entwicklung der Literatur und des Literaturbegriffs - der Verfasser trennt die beiden Bereiche nicht scharf voneinander - erweist sich in seiner Darstellung als ein Weg, der folgerichtig zur Entwertung der Literatur und mit ihr der Literaturkritik führen mußte. Selbst noch Jean Paulhans Kampf gegen den „terrorisme littéraire“, den Marx ja aufnimmt, ordnet er schließlich in die zum Desaster der Literatur führende Entwicklungslinie ein. Daß der Autor eine immanente Analyse bevorzugt, würde man ihm nicht verargen, wäre es für ihn nicht ein Anlaß dafür, die soziologische Analyse des Reduktionismus zu bezichtigen (71 f).Was dem Buch von Marx fehlt, ist die Fähigkeit seines großen Namensvetters Karl Marx, der bei Hegel gelernt hat, die einander widersprechenden Seiten einer Sache herauszuarbeiten. Die Entwicklung der europäischen Literaturen seit der Jenenser Romantik ist alles andere als ein gradliniger Prozeß, der notwendig in einem Desaster enden mußte; es ist ein von Widersprü- 156 chen durchzogener Prozeß, der notwendige Vereinseitigungen hervorgebracht hat, die die Kritik dialektisch zu entfalten hätte. Das aber setzt eine andere Perspektive voraus als die Suche nach Schuldigen Eine solche zu entwickeln habe ich in der Prosa der Moderne (Frankfurt: Suhrkamp 1988) versucht. Vergleichbares wäre über die Darstellung der Literaturkritik bei William Marx zu sagen. Der Formalismus ist nicht nur eine Verengung des Blicks auf den literarischen Gegenstand, ihm verdanken wir vielmehr durchaus wertvolle Einsichten in das Funktionieren literarischer Texte, Einsichten, die dann freilich dogmatisch vereinseitigt worden sind. Lassen Sie mich diesen Ausführungen - ach, wie hölzern ist doch unsere Sprache! - noch etwas hinzufügen. Wenn ich das Buch von Marx trotz allem lesenswert finde, so deshalb weil man hinter seiner oftmals polemischen Darstellung eine tiefe Beunruhigung über den Zustand unserer Kultur, soweit sie literarische Kultur ist, zu spüren meint. Vielleicht könnte das Buch Anstoß zu einer Debatte werden, die wir dringend brauchen. Peter Bürger (Bremen) MAXIMILIAN GRÖNE UND FRANK REISER: FRANZÖSISCHE LITERATURWIS- SENSCHAFT. EINE EINFÜHRUNG. TÜBINGEN: GUNTER NARR VERLAG, 2007, 264 S. Den soeben anlaufenden, europaweit standardisierten Bachelor- und Master-Abschlüssen fällt beim derzeitigen Umbau der deutschen Universität eine tragende Rolle zu. Diese auf möglichst raschen Berufseinstieg ausgerichteten Studiengänge mit reduzierter Semesterzahl stehen unter dem Primat der Effizienz, was sich äußert in weitgehender Komprimierung des (nach utilitaristischer Relevanz ausgewählten) Stoffes, hoher Praxisorientierung und strikter Didaktisierung der Lehrveranstaltungen. Das solcherart formal und inhaltlich von Grund auf umgestaltete Studium flankierend, entsteht eine ebenfalls neuartige Einführungs- und Studienliteratur, die der zu besprechende Band aus der Reihe bachelor-Wissen exemplarisch vertritt. 1 Sein augenfälligstes Kennzeichen ist die eng Schulbüchern angelehnte Aufmachung mit einem durch Tabellen, Abbildungen, Marginalien und farbige Unterlegung aufgelockerten Layout; hinzukommen, sehr zeitgemäß, Kontrollaufgaben, deren Lösungen sich auf einer Internetseite abrufen lassen. Da es, wie die Verf. im Vorwort bemerken, im BA-Studiengang weniger um die „Kenntnis von Wissensständen“ (1) als um „die Fähigkeit, das Erlernte selbständig anzuwenden“ (1) geht, heißen die vier Abschnitte dieser Einführung „Kompetenzen“, die sich ihrerseits in kleinere „Einheiten“ untergliedern. Mit insgesamt vierzehn solcher Einheiten ent-