eJournals lendemains 33/130-131

lendemains
0170-3803
2941-0843
Narr Verlag Tübingen
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2008
33130-131

Der Mai der anderen

2008
Walther Fekl
ldm33130-1310128
3: 54 128 Walther Fekl Der Mai der anderen Der französische Mai 68 im Spiegel der deutschen Pressezeichnung Das Gespenst der Revolte ging 1968 fast weltweit um. Trotzdem kommt dem „französischen Mai“ eine besondere Bedeutung zu. Hier schien es möglich, dass aus der Revolte im Handumdrehen eine Revolution werden könnte - immerhin kam es in diesen Wochen zu den größten Streikbewegungen der französischen Geschichte. Angesichts dieser herausgehobenen Bedeutung des Mai 68 im Rahmen der französischen Geschichte, aber auch im Vergleich zu ähnlichen Vorgängen in Europa wird hier die Frage gestellt, in welchem Umfang, mit welchen Mitteln und in welchen Kategorien die deutsche Pressezeichnung dieses Ereignis inszenierte. 1. Zum Medium Pressezeichnung 1 und zur Untersuchungsmethode Die Bevorzugung von Pressezeichnungen gegenüber sonstigen (Presse-) Texten beruht auf der Überzeugung, dass die Karikatur einen relativ unverstellten Zugang zu Phänomenen der Fremdwahrnehmung bietet. Die Gründe für diese Einschätzung können hier nur kurz angesprochen werden. Sie lassen sich - etwas schematisch - mit den Begriffen massenhafte Verbreitung, Zuspitzung und Tabufreiheit umreißen. Um rasch verstanden zu werden, rekurriert der Pressezeichner auf massenhaft verbreitete Vorstellungen und Kürzel. Die Untersuchung seiner Arbeit erlaubt also einen ziemlich direkten Zugriff auf populäre Wissensbestände sowie Wahrnehmungs- und Beurteilungskategorien, auf Mentalitätspartikel und Ideologeme, vom simplen Vorurteil bis zu Elementen der Allgemeinbildung. Karikatur arbeitet mit Weglassungen, sie übertreibt und spitzt zu. Sie verdeutlicht also, konturiert schärfer als andere Text- und Bildsorten. Aufgrund der gattungsspezifischen Komik wird dem Karikaturisten eine gewisse Narrenfreiheit zugebilligt. Von daher ist zu erwarten, dass uns seine Arbeit einen Einblick in Denkweisen erlaubt, die partiell vom Diktat der political correctness befreit sind. Im satirischen Bild wird oft „ausgesprochen“, was ansonsten allenfalls gedacht wird. Zu den Vorteilen der Arbeit mit Karikaturen zählt auch die rein praktische Annehmlichkeit der relativen Überschaubarkeit: 100 Karikaturen lassen sich eher überblicken als 100 mehr oder weniger lange Artikel. Die nachstehende Untersuchung hat nicht die Absicht, Unterschiede zwischen den einzelnen Presseorganen herauszuarbeiten und beispielsweise das dahinter stehende Frankreichbild der Frankfurter Allgemeinen dem der Frankfurter Rundschau gegenüberzustellen. Das Korpus 2 wird vielmehr als eine Einheit verstanden und deren (reduziertes) Figurenrepertoire als eine Population, deren Angehörige in 129 unterschiedlichen Konstellationen und Rollen auftreten und die unterschiedliche Handlungen vollziehen. Dies alles wird von den Zeichnern mithilfe vielfältiger Inszenierungsstrategien ins Bild gesetzt. Die Betrachtung dieser Elemente wird es in der Summe gestatten - dies ist jedenfalls die Annahme, die diesen Darlegungen zugrunde liegt -, wesentliche Aspekte der seinerzeit veröffentlichten Meinung zum Thema „Mai 68 in Frankreich“ zu erfassen. Der Löwenanteil der Darstellung wird der bundesdeutschen Karikatur gelten. Dies entspricht sicherlich der Bedeutung, die der Bundesrepublik und Frankreich fünf Jahre nach dem Elysée-Vertrag in der wechselseitigen Wahrnehmung zukam. Die DDR wird darüber aber nicht vergessen werden. 2. Der französische Mai 68 in der Pressezeichnung der Bundesrepublik 2.1. Die globale Wichtigkeit des französischen Mai 68 in der bundesdeutschen Pressezeichnung Die erste Frage gilt, unabhängig von und vor jeglicher inhaltlichen Betrachtung, dem Stellenwert, der dem untersuchten Phänomen „Mai 68 in Frankreich“ beigemessen wurde. Die Auswertung von Tages- und Wochenzeitungen sowie des monatlichen Satireblatts Pardon aus dem Zeitraum von Anfang Mai bis Mitte Juli, bis zur Ersetzung von Premierminister Pompidou durch Couve de Murville, erbrachte eine Zahl von 120 Pressezeichnungen, die teils auf den Titel- oder den Meinungsseiten des vorderen Teils, des ersten „Hefts“, der diversen Organe erschienen, teils auf den Wochenrückblicken und vereinzelt sogar auf den Humorseiten. Letztere mag man für weniger wichtig, da eher unpolitisch, halten. Ich betrachte aber gerade die Tatsache, dass ein Phänomen ausländischer Politik auf diese Seiten gelangt, als ein Indiz für ein breites Eindringen der besagten Vorgänge in das Bewusstsein des (bundes)deutschen Publikums. Zu einer richtigen Einschätzung der Frankreich beigemessenen Bedeutung gehört auch die Erinnerung daran, dass der von mir untersuchte Zeitraum eine Phase besonders zahlreicher innenwie außenpolitischer Ereignisse war. In der Innenpolitik ist die deutsche Studentenbewegung zu erwähnen, mit Uni-Besetzungen, Hochschulreformdiskussionen, den Folgen des Dutschke-Attentats usw., daneben und damit verbunden die Debatte um die Notstandsgesetze und obendrein der Beginn einer neuen Berlinkrise. Außenpolitisch war der Prager Frühling ein ganz großes Thema mit all seinen Begleiterscheinungen, wie etwa der Frage der Beziehungen zur UdSSR. Auch die USA beanspruchten viel Aufmerksamkeit angesichts der Nachwehen der Ermordung von Martin Luther King. Anfang Juni verwandelte dann der Mord an Robert Kennedy das Gros der Pressezeichner vorübergehend in Spezialisten für weinende, wankende oder auch schießende Freiheitsstatuen. Unter Berücksichtigung dieses Umfelds erscheint mir die Zahl von 120 einschlägigen Zeichnungen als ausgesprochen hoch. 130 2.2. Die französische Gesellschaft als Urhorde Die Zusammenfassung aller gezeichneten Personen zu einer Population entspricht dem Vorgehen Roland Barthes’ in Sur Racine, was angesichts der Fallhöhe zwischen Tragödie und Karikatur, einem genre mineur, als vermessene Referenz aufgefasst werden mag (ganz zu schweigen von der Fallhöhe zwischen den beiden Autoren, die sich mit diesen so unterschiedlichen Themen befassen). Gleichwohl erscheint mir diese Bezugnahme reizvoll, zumal eine deutliche Analogie festzustellen ist. Wie die Population der Racine’schen Tragödien, so bildet auch die hier untersuchte Karikaturen-Population ganz offensichtlich eine Urhorde: ein dominantes Männchen beherrscht eine (zunächst) unstrukturierte Gemeinschaft - hier von Baskenmützenträgern -, deren einziges gemeinsames Merkmal (zunächst) die Unterwerfung unter den EINEN darstellt. 3 Ein erster Unterschied zwischen Tragödien- und Karikaturen-Korpus besteht darin, dass in letzterem alles Begehren und alle Eifersucht sich auf ein Feld konzentrieren, das der Politik. Angesichts der offenkundigen Verbindung von Macht und Erotik ist dies nicht mehr als eine leicht nachvollziehbare Substitution. Der große Unterschied besteht aber darin, dass der Vatermord hier nur versucht wird, aber nicht gelingt. Dies liegt daran, dass sich innerhalb der Population doch eine gewisse Differenzierung herausbildet. Der Gruppe der Arbeiter und Studenten (die mitunter auch noch in ihre zwei Komponenten zerfällt) tritt die der Wähler gegenüber. Letztere verbündet sich mit der Vater-Figur und verhindert so den Vatermord. Mit diesem Verweis soll die Racine-Parallelisierung vorerst ihr Bewenden haben. Es wäre unangemessen und müsste zu krampfhaften terminologischen Anstrengungen führen, wenn auch die weitere Darstellung konsequent den Barthes’schen Kategorien folgen wollte. 2.3. ER oder: Die Rollen des Charles de Gaulle Auch wenn die herausragende politische Stellung de Gaulles in den 60er Jahren wahrlich ein Gemeinplatz ist, und auch wenn es nicht minder klar ist, dass die politische Karikatur gattungsmäßig zur Personalisierung politischer Verhältnisse tendiert, mag es festhaltenswert sein, wie sehr der regierende General die Szenerie beherrscht. Er tritt in den 120 Zeichnungen 101mal auf, und davon 43mal als einzige dargestellte Person. Keine einzige dieser Zeichnungen ist der Subgattung Porträtkarikatur zuzurechnen, sie sind vielmehr alle aktualitäts- und situationsbezogen. Von daher kann diese Häufung von isolierten Darstellungen als bemerkenswert gelten. Die Tatsache, dass kein weiterer französischer Politiker auch nur ein einziges Mal alleine in Szene gesetzt wird, unterstreicht diese Sonderstellung. Lediglich dem englischen Premier Wilson ist es in diesem Korpus vergönnt, mehrmals einzeln aufzutreten. Und auch Wilson verdankt seine Sonderstellung de Gaulle. Dieser wird nämlich sozusagen in bildlicher Abwesenheit dafür verantwortlich gemacht, dass Wilson „draußen bleiben“ muss, keinen Einlass nach Europa bekommt. 131 2.3.1. Der Uniformierte De Gaulle wird bei seinen Auftritten 34mal in zeitgenössischer Generalsuniform oder mindestens mit dem képi eines solchen gezeigt, fünfmal werden ihm andere Uniformen angezogen, die eines napoleonischen Generals (WAZ, 15.06., Beil. 03/ 28), eines Verkehrspolizisten (WAZ, 13.05., 2), eines Feuerwehrmanns (BM, 02.06., 2), eines Chauffeurs der Staatskarosse (WAZ, 11.07., 2), eines Eisenbahnbeamten, der den Staatszug auf die richtigen Geleise lenkt (BM, 21.05., 2) und die eines Gasablesers (WAZ, 01.07., 2). Das Tragen einer Uniform, das natürlich bei de Gaulle faktisch korrekt ist, muss gleichwohl nicht nur referenziell verstanden werden. Die Uniform dient vor allem der Konnotation von Autorität, Hierarchie, Befehl und Gehorsam, a-zivilem Denken und Verhalten. Sechsmal wird de Gaulle in Ritterrüstung gezeigt (SZ, 25./ 26.06., 3 und 01.-03.06., 3 sowie WAZ, 01.06., Beil. 03/ 38; ZEIT, 31.05., 3). Diese Darstellungsweise kann einerseits als Uniform-Variante gedeutet werden, sie rückt ihn andererseits semantisch in die Nähe der unten näher zu betrachtenden Herrscher-Bilder, zumal sie teilweise mit Herrschaftsinsignien wie dem Lothringerkreuz als Emblem auf dem Schild verbunden ist (SZ, 01.-03.06, 3 und Hbl., 04.06., 3). Die Rüstung verweist nicht zuletzt auf einen Mangel an Flexibilität, eine gewisse komische Starrheit, die aber auch positiv gewendet und mit Standfestigkeit und Widerstandskraft als Zusatzbedeutungen in Verbindung gebracht werden kann. Am prägnantesten scheint mir diese Ambivalenz im Dürer-Pastiche „Ritter, Student und Gewerkschaft“ gestaltet zu sein (IK, 28.05., 1). Die selbst schon zum Mythos gewordene Vorlage stimmt auf Tragik ein, das Pastiche tendiert von sich aus zum Komischen. Durch die zeichnerische Darstellung noch verstärkt, liegen Komik und Tragik hier sehr eng beieinander und zugleich wird eine politische Situation präzise erfasst. 2.3.2. Der Herrscher Betrachten wir nun die eben angesprochenen Herrscherdarstellungen. Geradezu klassisch ist die Darstellung als absoluter Herrscher mit Perücke und Hermelinmantel, die im vorliegenden Korpus in reiner Form allerdings nur zweimal vorkommt (FAZ, 05.06., 3, Welt, 22.06., 2). Zu ihr kommt eine Inszenierung als antiker Herrscher im Lorbeerkranz (Welt, 02.07., 2) und ein Bild, in dem de Gaulle, wenn auch in Uniform, einem thronähnlich erhobenen Sessel zustrebt (FAZ, 21.05., 3). Die Konnotationen, die durch diese Bilder werden, bewegen sich einerseits im Kontext des Antiquierten, Überholten und andererseits des Vornehmen, Noblen, Aristokratischen, Außergewöhnlichen, das sich über normale Sterbliche erhebt. Gesten und Körperhaltungen unterstreichen diese Eigenschaften und verleihen ihnen wiederholt eine Nuancierung in Richtung huldvolle Herablassung. Aus der herausgehobenen Position wird Überheblichkeit, das rollenmäßig zugeschriebene Sondermaß wird zur selbsterteilten Anmaßung. Dies gilt auch für zwei Illustrationen, die de Gaulle als General und als Zivilisten einen sicher eher imperial als poetenhaft zu verstehenden Lorbeerkranz als Attribut zuordnen (SZ, 19.05., 3; Tsp., 06.07., 3). Zeichenhaft wird so seine Art der Ausübung von Herrschaft als vordemokratisch charakterisiert. 132 2.3.3. Das Denkmal Wenn die Darstellung weiterhin semantischen Affinitäten folgen soll, dann ist nun vom Motiv des Denkmals zu reden. Dreimal wird de Gaulle in dieser Weise dargestellt. Dieses Motiv ist den bereits vorgestellten insofern verwandt, als die damit verbundenen semantischen Inhalte sich im Umkreis des Vornehmen, des Verehrungswürdigen, des historisch Annoblierten, des Würdevollen, der durch Leistung erworbenen Bedeutsamkeit bewegen. Diese Verwandtschaft zeigt sich aber auch in partiell gegenläufigen Bedeutungsgehalten wie der bereits erwähnten Starre und Inflexibilität, des Versteinerten, Überlebten, Unzeitgemäßen. Beide Aspekte scheinen, in wechselnden Mischungsverhältnissen, in den meisten Zeichnungen, die mit diesem Motiv arbeiten, eine Rolle zu spielen. Ein Denkmal ist nicht zuletzt dazu da, dem Dargestellten eine überzeitliche Präsenz zu garantieren. Als stark ironieaffine Gattung lässt es sich die Karikatur nicht nehmen, gerade anhand dieses Motivs den ephemeren Charakter des vermeintlich Dauerhaften zu unterstreichen. Von der vorsätzlichen Zerstörung (FR, 31.05., 1 und SZ, 25./ 26.06., 3, s. Abb. 1) bis zum „Abservieren“ (BM, 30.06., 2) werden mehrere denkbare Varianten durchbuchstabiert. 2.3.4. Der Retter Ein besonders ambigues Rollenschema ist das des Retters, zumal es in keinem der fünf vorliegenden Fälle ungebrochen-positiv ausgestaltet wird. Immer bleibt fragwürdig, ob die Rettungsabsicht auch real oder nicht bloß Pose ist, Resultat einer selbstgefälligen Selbst- und Überinszenierung (z.B. Welt, 25.05., 2). In anderen Fällen wird deutlich, dass die tatsächlich unternommenen Rettungsversuche wohl eher fehlschlagen werden. Nicht weil es an der guten Absicht fehlte, sondern weil die zur Verfügung stehenden oder jedenfalls zum Einsatz gebrachten Rettungsgeräte - etwa ein Rettungsring namens V. Republik (Welt, 31.05., 2) - brüchig geworden und daher nicht mehr funktionstüchtig sind. Der Retter des Vaterlandes, dieses Rollenbild wird in der deutschen Karikatur eher mit einer Einstellung betrachtet, die von vorsichtiger Skepsis bis zur beißenden Ironie reicht. Besonders grotesk - und subversiv - ist in diesem Zusammenhang die Verbindung de Gaulles mit einer historischen Retterfigur, die einen Geschlechtswechsel erforderlich macht: Wir meinen seine Einkleidung als sehr altjüngferliche Jeanne d’Arc mit Heiligenschein, die durch de Gaulles Ablehnung einer EWG-Mitgliedschaft Großbritanniens eine zusätzliche historisch-politische Beglaubigung erhält (Hbl., 04.06., 3). 2.3.5. Sonstige Rollen Die übrig bleibenden Einkleidungen sind speziellen Rollen zu verdanken, etwa der eines Radfahrers in schwierigen Gelände (BM, S. 26.05., 2), eines Zauberers (WAZ, 06./ 07., Beil. 03/ 28) bzw. Zauberlehrlings (WAZ, 20.05., 2; s. Abb. 2) oder Straßenkehrers (Tsp.; 26.05., 12) etc. In einer Vielzahl dieser Rollen scheint de Gaulle den von der Rolle gestellten Aufgaben nicht gewachsen zu sein. Besonders deutlich ist das im Fall des Zauberlehrlings. Hier liefert die volkstümliche Ballade, auf die durch das Bild wie in der Legende angespielt wird, das Skript, mit dessen Hilfe für den Leser aus der dargestellten Szene gleich eine ganze Geschichte wird. 133 Abb. 1 Abb. 2 134 Ausgesprochen selten kommen Animalisierungen in unserem Korpus vor. In allen vier Fällen handelt es sich um Darstellungen als (mehr oder weniger gallischer) Hahn. Im ersten Fall wird de Gaulle als republikanischer („mariannisierter“? ) gallischer Hahn dargestellt, mit phrygischer Mütze statt Kamm und mit brennenden Federn (FR, 18.05., 1), dann als arg gerupfter Hahn (CW, 31.05., 2) und schließlich als (Streit-)Hahn, der sich mit seinem Volk in Gestalt eines baskenmützigen Hahns anlegt (Hbl., 10.06., 3). Einen Grenzfall von Animalisierung bildet die Darstellung als vom Wind gebeutelter Wetterhahn (Welt, 29.05., 2). Alle vier Zeichnungen arbeiten nicht mit der Zuschreibung von Eigenschaften, versuchen gar keine Interpretation des Geschehens, sondern bleiben auf der Ebene der bloßen Situationsbeschreibung. 2.4. ER und die anderen 2.4.1. De Gaulle und ausländische Politiker De Gaulle tritt, wie gesagt, häufig als großer Einzelner auf, die Regel ist gleichwohl das gemeinsame Auftreten mit anderen Figuren. Fünfmal sind das namentlich benennbare ausländische Politiker. Dazu kommen vier Zeichnungen mit anonymen oder allegorischen Repräsentanten anderer Nationen. Das sind z.B. Teilnehmer der Anfang Mai in Paris beginnenden Vietnam-Friedenskonferenz, die sich unversehens in einem chaotischen und wenig friedlichen Paris wieder finden (u.a. WAZ, 13.05., 2, BM, 14.05., 2). Das ist auch ein John Bull, der darauf wartet, dass sich die Unruhen wieder gelegt haben, um seine Sache (den EWG-Beitritt) voranzutreiben (Tsp., 26.05., 12). Solche Bilder bleiben, was ein Frankreich-Bild angeht, sehr allgemein, sie zeichnen lediglich das Bild eines im Chaos versinkenden Landes. Auf anderen Bildern wird jedoch gezeigt, dass „französische Verhältnisse“ zumindest teilweise auch in anderen Ländern herrschen, etwa wenn Studenten in einem Audimax den Zuhörern de Gaulle, Gomulka, Wilson, Johnson, Kiesinger Vorträge halten und sie zugleich mit einer Schleuder beschießen (Tsp., 27.06., 3). 2.4.2. De Gaulle und französische Politiker Die 20 gemeinsamen Auftritte de Gaulles mit französischen Politikern tun der Autorität seines Auftretens keinen Abbruch. Eher im Gegenteil, denn die diesen zugemessenen Rollen sind vielfach mehr als bescheiden. Ohne sie vollständig aufzählen zu wollen, verweisen wir auf Beispiele wie Alain Peyrefitte, der als Ballast aus dem de-Gaulle-Fesselballon abgeworfen wird (WAZ, 29.05., 2), auf den untertänigen majordome Pompidou (WAZ, 14.05., 2 und SZ, 18./ 19.05., 3), auf den gleichen Pompidou, der nach überstandener Mai-Juni-Krise umstandslos fallen gelassen oder kalt gestellt wird (z.B. Hbl., 12./ 13.07., 3 und Welt, 12.07., 3), auf Pompidou und Couve de Murville, die als austauschbare Plüschtiere die Staatskarosse zieren (WAZ, 11.07., 2), oder auf die nämlichen als von de Gaulle programmierte Roboter (Welt, 11.07., 2) - und dergleichen mehr. Auf Pompidou, der sich in der 135 Mai-Krise zu sehr profiliert hatte, trifft sicherlich am besten Roland Barthes’ Satz über die Söhne zu, deren potenzielle Rivalität mit dem Vater zu ihrer Tötung, Kastration oder Verjagung führt (vgl. Anm. 3, letzter Satz). 2.4.3. De Gaulle und die (symbolischen) Repräsentanten des Volkes Wichtiger als die Politiker sind die Repräsentanten des französischen Volkes als Interaktionspartner de Gaulles. 16mal sind das nicht weiter definierbare Volksvertreter, die als Gruppe dargestellt werden, meist in stereotypisierter Verkürzung als Baskenmützenträger. In zwölf weiteren Fällen lassen sich die Vertreter des Volkes soziologisch identifizieren als Studenten und/ oder Arbeiter. Dazu kommen nationalemblematische Darstellungen in Gestalt von Marianne, die zehnmal mit de Gaulle in einer Zweierkombination und zwei weitere Male in einer Mehrpersonenkonstellation auftritt. Die Interaktion de Gaulle-Marianne erlaubt mehr Nuancierungen als dies im Falle der französischen Politiker der Fall war. Auch Marianne tritt wiederholt als Objekt bzw. sogar als Opfer de Gaulle’scher Handlungen auf. Das reicht von den erwähnten Rettungsversuchen über das Abkassieren (von Wählerstimmen, WAZ, 01.07., 2) bis hin zur Adressatin eines Tritts in das Hinterteil (Welt, 14.05., 2). Gegenüber dem antiken Herrscher de Gaulle tritt sie in einer Dienerinnenrolle auf (Welt, 02.07., 2) und für den Monarchen, der sich als Republikaner zur Wahl stellt, arbeitet sie als Wahlhelferin (Welt, 22.06., 2). In einigen Fällen aber wird sie zu einer annähernd gleichberechtigten Partnerin oder auch ausgesprochenen Widersacherin des Generals, die sich schon mal aufmüpfig mit der Wahl-Säge an einem Baum zu schaffen macht, an dem de Gaulles Hängematte befestigt ist (WAZ, 24.06., 2). Oder etwa, wenn sie dem General seine weltpolitischen Interessen vorhält, die ihn daran hindern, sich um sein eigenes Volk zu kümmern. Paul Flora ist das einschlägige Bild zu verdanken, in dem Madame Marianne dem mit der Weltkugel Billard spielenden General (ein bewusster Anklang an Chaplins Großen Diktator? ) demonstrativ-fordernd eines der gemeinsamen Kinder entgegenhält, die er allesamt über seinem Spiel zu vergessen haben scheint (ZEIT, 31.05., 2). Da die soziologisch unspezifizierten Vertreter des Volkes ebenso wie die Gruppe der Studenten/ Arbeiter in der Ökonomie der jeweiligen Bilder eine ähnliche Funktion wie Marianne einnehmen, können Ähnlichkeiten in den Verhaltensweisen nicht überraschen. Studenten und Arbeiter treten aber als signifikant aktivere, als mehr fordernde und als provokativere Akteure auf. Bemerkenswert erscheint mir in diesem Zusammenhang, dass aus dieser Gruppe niemand heraustritt, individualisiert wird. Der Hang der Pressezeichnung zur Personalisierung politischer und gesellschaftlicher Verhältnisse hätte es ja nahe legen können, beispielsweise Daniel Cohn-Bendit als Pendant zu de Gaulle stärker herauszustellen. Tatsächlich finden wir aber in unserem Corpus lediglich zwei Nachweise für Cohn-Bendit. Auf einer dieser Zeichnungen bedankt de Gaulle sich nach seinem Wahlsieg in böser Ironie bei französischen Politikern (Mitterrand, Mollet, Waldeck-Rochet und ein Vertreter der algerischen Ultras) für deren Beitrag 136 zu seinem Wahlsieg. In einer Reihe mit ihnen finden wir auch den roten Dany (Tsp., 06.07., 3). Die zweite Zeichnung, eine Foto-Montage zeigt den Kopf des entsprechend der Johannes-der-Täufer-Salome-Ikonografie enthaupteten und auf einer Platte präsentierten Cohn-Bendit in einem rein deutschen, ja Berliner Kontext. Die Legende apostrophiert nämlich den damaligen Innensenator Neubauer: „Ist es Ihnen so recht, Herr Senator Neubauer? “ (Pardon 12/ 68, 8). Dies ist übrigens der einzige Beitrag des führenden deutschen Satire-Organs zum französischen Mai 68 - im ganzen Jahr. 2.5. Der Mai ohne IHN De Gaulle war während der Mai-Ereignisse ja demonstrativ, als ob weiter nichts geschehen wäre, nach Rumänien gereist und verweigerte eine vorzeitige Rückkehr. Obwohl in dieser Phase Premierminister Pompidou das Krisenmanagement betrieb, blieb de Gaulle stets im Bild - jedenfalls was die deutsche Pressezeichnung angeht. Zumindest seinen langen Arm sah man bildlich von Bukarest bis nach Paris reichen (Welt, 17.05., 2). Wenn die Zeichner auf ihn verzichten, dann bedeutet das in aller Regel, dass man sich ein wenig von der histoire événementielle entfernt und sozioökonomische Gegebenheiten ins Auge fasst. Das kann beispielsweise bedeuten, dass ein Deutscher Michel ungläubig das Streikverhalten der französischen Arbeiter betrachtet (WAZ, 22.05., 2) oder dass die Beziehungen zwischen Studenten und Arbeitern thematisiert werden. In etlichen Fällen treten etwa Personifizierungen des Franc (in Verbindung mit anderen, ihrerseits personifizierten Währungen) als Protagonisten auf (z.B. CW, 07.06., 2 und Hbl., 31.05./ 01.06., 3). Neben einer gewissen Schadenfreude oder zumindest einem deutschen Überlegenheitsgefühl ist bei den mehr ökonomisch als politisch akzentuierten Zeichnungen auch die Sorge um die deutschen ökonomischen Interessen spürbar. Dazu kommen Befürchtungen hinsichtlich der Zusammenarbeit in Europa. Sobald eine deutsche Angstfolie den Hintergrund für die Frankreich-Wahrnehmung abgibt, verliert de Gaulle, der bewunderte oder kritisierte große Einzelne, ein wenig an Bedeutung. 2.6. Die Hyperbel Eine bildsatirische Darstellung verwendet immer und überall eine Vielzahl von Darstellungsmitteln. Emblematische und allegorische Darstellungen finden sich in großer Anzahl in unserem Korpus, Metapher und Metonymie sind allgegenwärtig. Detaillierte bildrhetorische Analysen wurden hier gleichwohl unterlassen, da diese eine Beschränkung auf einige wenige Bildbeispiele verlangt hätten. Das bildrhetorische Verfahren der Hyperbolisierung, mit dem immerhin 28 der hier untersuchten Zeichnungen operieren, soll jedoch kurz angesprochen werden. Das Material legt es nahe, bei diesem Teil der Untersuchung erstmals auch die Zeitdimension näher ins Auge zu fassen. 137 Die Karikatur kann mit Vorgaben der Realität äußerst frei umgehen. Auch da, wo sie sich an diese Vorgaben hält bzw. sie übertrieben wiedergibt, tut sie das nicht des Realismus willen, sondern in Bedeutung schaffender Absicht. Sie ist, wenn das der Aussageintention entspricht, durchaus in der Lage, auch einen physischen Riesen als Zwerg darzustellen. Physische Größe suggeriert in der Karikatur immer auch persönliche oder zumindest politische Größe - wobei zunächst noch offen bleibt, ob diese real, von anderen zugeschrieben oder gar nur angemaßt, eingebildet ist. Diese allgemeinen Aussagen lassen sich anhand unseres Korpus unschwer verifizieren. Zu Beginn des untersuchten Zeitraums wird de Gaulle zumeist in realistischer Wiedergabe der Größenverhältnisse dargestellt. In der besonders heißen Phase der Auseinandersetzung wird aber zunehmend häufig mit der Größe gespielt. Da kann er wie einst Napoleon III. zu „de Gaulle le petit“ werden (etwa in der Zeichnung Hbl., 27.05., 3, vgl. nächster Abschnitt). Das Spiel mit der Größe muss aber nicht bedeuten, dass de Gaulle nun zwangsläufig zum Zwerg mutiert. Sogar das Gegenteil kann der Fall sein, etwa wenn eine kleine schmächtige Marianne mit einem überlebensgroßen de-Gaulle-Denkmal herumhantiert (BM, 30.06., 2). Hier sorgt die Ironie der Zeichnung dafür, dass die Hyperbel in ungewöhnlicher Weise als Mittel der Herabsetzung (als Vorstufe einer erwarteten Absetzung bzw. Abwahl) und nicht etwa der Heroisierung fungieren kann. Eine weitere Variante des Umgangs mit Größenverhältnissen liefert eine Zeichnung, in der die beiden normal großen Personen de Gaulle und Pompidou sich einer übergroßen Figur mit Latzhose und Schutzhelm konfrontiert sehen, die kaum durch den Türrahmen passt. Die Legende macht deutlich, dass diese nicht nur metonymisch für die Arbeiterschaft steht, nein: General Streik tritt hier General de Gaulle gegenüber - und in dieser Konfrontation ist der bisherige politische Goliath plötzlich zum relativen David geworden. Weitaus häufiger sind aber Bilder, in denen ein großer einem kleinen de Gaulle gegenüber gestellt wird. In einigen Fällen sind das Zeichnungen, die den „alten“, den gewohnten de Gaulle mit dem des Monats Mai vergleichen, in dem er auf Normalmaß und weniger zurückgestutzt wurde. Besonders häufig sind das aber Bilder, die den de Gaulle vor den Parlamentswahlen mit dem nach den überlegen gewonnenen Wahlen konfrontieren. Da kriecht ein kleiner infantilisierter de Gaulle auf allen Vieren in die Wahlkabine und kommt als Riesensieger wieder heraus (FR, 25.06., 1), oder da steht de Gaulle auf irgendeinem Siegerpodest wie es im Sport üblich ist. Auf dem zweiten Bild dieser Zwei-Phasen-Zeichnung sieht man nur noch die Uniformhose bis zur Unterkante seines Sakkos, so sehr ist er in kaum mehr wahrnehmbare Höhen geschossen (BM, 02.07., 2, s. Abb. 3). Der Vorher- Nachher-Kontrast ist das Grundprinzip dieser mit Hyperbolisierung operierenden Zeichnungen. Triumph, Heroisierung, die Darstellung schierer Größe, das sind die Übereinstimmungen in Inhalt und die Aussage dieser Zeichnungen. Neben der Konfrontation de Gaulles mit sich selbst gibt es etliche hyperbolisierende Darstellungen seiner Person in Verbindung mit anderen politisch-gesell- 138 schaftlichen Akteuren. Mehrere von ihnen variieren das Thema des sich bedankenden de Gaulle. So bedankt er sich, wie in anderem Zusammenhang bereits erwähnt, bei miniaturisierten französischen Politikern (Tsp., 06.07., 3) oder aber bei Studenten auf den Ruinen ihrer Barrikaden (FAZ, 03.07., 3). Dieses Spiel mit der Hyperbel ist charakteristisch für die Zeichnungen der Wahlzeit von Ende Juni/ Anfang Juli 1968. Auf diese folgt aber noch ein kleines Nachspiel, das allerdings die eben getroffenen Aussagen bestätigt und bekräftigt. Die letzte Serie von Zeichnungen bezieht sich auf den von de Gaulle veranlassten Rücktritt Pompidous und die Einsetzung von Couve de Murville als Regierungschef. Hier tritt beispielsweise ein als Marianne eingekleideter de Gaulle als übergroße Partnerin eines kleinwüchsigen Bräutigams oder Liebhabers de Murville auf. Diese Zeichnung stellt bei aller grafischen Harmlosigkeit fast ein Resümee dar: der Staatschef hat nicht nur seine alte Größe wieder gefunden, sondern der hyperbolisierte de Gaulle verkörpert als Marianne die Republik und die Nation (BM, 11.07., 2). 2.7. Die V-Geste Die erhobenen Arme, mit denen de Gaulle so gerne grüßte und die Massen beschwor (etwa bei seinem berühmten „Je vous ai compris“ am 4. Juni 1958 in Algier), sind geradezu zu einem seiner Markenzeichen geworden. Wie sehr Geste und Person tendenziell zu einer semiotischen Einheit verschmolzen sind, zeigt bereits eine quantitative Betrachtung: unser Korpus enthält immerhin 13 einschlägige Zeichnungen. Dabei wird das Zeichen in etwa der Hälfte der Fälle (sechsmal) so verwendet wie in der Realität, insbesondere als Geste des Triumphes nach den gewonnenen Wahlen (z.B. SZ, 25.06., 3 und 27.06., 4, s. Abb. 1 und 4, und Hbl., 02.07., 3). Etwas häufiger sind dagegen Darstellungen, in denen die Intention der Geste semantisch umgebogen wird. Sie wird zumindest ambiguiert und mitunter geradezu höchst ironisch ins Gegenteil verkehrt. So wird sie zur vergeblichen Beschwörung im Fall des erwähnten Zauberlehrlings (WAZ, 20.05., 2, Abb. 2) oder eines hilflosen Feuerwehrmanns (BM, 02.06., 2). Eine böse Ironisierung findet statt, wenn der Held stolz zwei Geldsäcke V-förmig hochhält und dabei nicht zu bemerken scheint, dass diese durchlöchert sind und sich daher stetig leeren - und dies auch noch mit der Legende „Vive le Franc! “ versehen wird (ZEIT, 07.06., 18, s. Abb. 5). Und wenn ein kleiner de Gaulle im unteren Teil eines Stundenglases im Sand der Fünften Republik zu versinken droht, wird die eher triumphale Geste geradezu zu einem nonverbalen Hilferuf verkehrt (Hbl., 27.05., 3). Dieser de Gaulle ist gerade qua üblicher Geste nur noch das Gegenteil seiner selbst bzw. dessen, was er darstellen möchte. Mit derartigen Umwertungen und Umfunktionierungen eines gestischen Zeichens ist die deutsche Karikatur nicht allzu weit entfernt von den herrschaftssubversiven Strategien, die wir aus französischen Plakaten und Zeichnungen dieser Zeit kennen. 139 Abb. 4 Abb. 3 Abb. 5 140 2.8. Konklusion zur bundesdeutschen Karikatur zum französischen Mai 68 Die deutsche Karikatur zum französischen Mai 68 hat als Außensicht in keiner Phase die Kampfeslust, die Aggressivität und damit auch nicht den beißend-scharfen Witz der französischen Pressezeichnung. Ihr Anliegen ist nicht die Dekonstruktion der Macht, die Desakralisierung des Herrschers als Vorstufe zu dessen erwünschtem Sturz. Sie zeichnet in ihrer Gesamtheit vielmehr eine Art Historienbzw. Herrscherdrama nach, das sich mehrfach tragischen Zonen nähert - als das Volk seinen Herrscher aufzugeben scheint - und das sich dann doch für diesen zum Guten wendet. Was das für das Volk bedeutet, wird nicht so deutlich, denn es erscheint nach dem Wahltriumph nicht mehr als dem Herrscher entgegengesetztes Element, wird kaum noch ins Bild gesetzt. So richtig als Demokratie scheinen die deutschen Zeichner Frankreich auch nach dieser Wahl nicht zu sehen. Die Urhorden-Vorstellung, um diese doch noch einmal aufzugreifen, überdauert offensichtlich diesen demokratischen Akt. Zugleich sind die meisten Karikaturisten sichtlich erleichtert, dass die archaische, autokratische Herrschaftsform des Generals einen souveränen Sieg davon getragen hat und damit für die Wahrung deutscher Interessen und für europäische Stabilität sorgt. Diese Wiederherstellung der Ordnung scheinen sie für dauerhaft zu halten. Frankreich selbst erscheint in dieser Bilder-Geschichte eher als aufmüpfiges denn als revolutionsbereites Volk. Die aufbegehrenden Elemente werden nur äußerst sporadisch als eine ernst zu nehmende politische Alternative dargestellt, sie sind eher Spaßrevoluzzer denn politische Revolutionäre. Ein anderes Lektüre-Modell für eine Gesamtbetrachtung unseres Korpus kann die Passionsgeschichte abgeben. Der Verhöhnung und der bereits begonnenen mise à mort - so sehen wir einmal de Gaulle schon auf der Guillotine liegen (WAZ, 27.05., 2) und ein andermal auf einem brennenden Scheiterhaufen (SZ, 04.06., 4) - folgt die politische Auferstehung (z.B. Hbl., 25.06., 3) mit einem in vielfachen Varianten triumphierenden de Gaulle am Ende. Ein anderes Narrativ, das in dem Korpus enthalten ist, lässt die politischen Prozesse in eher fragwürdiger Weise als Abfolge von Naturereignissen, insbesondere Katastrophen, erscheinen. Da toben erst einmal die entfesselten Gewalten, gegen die der Protagonist hilflos ist (WAZ, 20.05., 2 und BM, 02.06., 2; ähnlich auch BM, 14.05., 2), am Ende aber steht er als strahlende Sonne am Himmel, während sich die aufgepeitschten Wogen in Richtung England verziehen (Welt, 28.06., 2). So unpolitisch ist aber nur ein relativ kleiner Teil der Zeichnungen. Die Mehrzahl huldigt durchaus einer subversiven Kritik an autoritär ausgeübter Herrschaft, verbindet das aber mit der Erleichterung darüber, dass diese fortbesteht und dass nicht ein führerloses Frankreich Deutschland und Europa mit sich ins Chaos reißt. 141 3. Der französische Mai in der DDR-Karikatur Wir wollen es nicht ganz wie üblich machen, sprich: wir wollen den deutschen Blick auf Frankreich hier nicht auf den bundesdeutschen reduzieren. Die DDR war ihrerseits durchaus in hohem Maße an Frankreich interessiert. Wenigstens ihre beiden einschlägigen Leitmedien, die Satirezeitschrift Eulenspiegel (ES) und das Neue Deutschland (ND), sollen deshalb in unsere Betrachtungen einbezogen werden. Da das „andere Deutschland“ 4 sich nicht durch eine pluralistische Presselandschaft auszeichnete, können wir hoffen, hiermit Wesentliches vom offiziellen deutschdemokratischen Blick auf Frankreich zu erfassen. Beide Presseorgane kommentieren den französischen Mai in jeweils drei Zeichnungen. Dabei ist die Person de Gaulles zweimal vertreten, ebenso wie Marianne, einmal taucht der deutsche Michel auf, ansonsten sind anonyme, nicht individualisierte Personen dargestellt. Auf den ersten Blick wird man hier von einer erstaunlich geringen Frequenz der de Gaulle-Abbildungen sprechen wollen. Dies ist sicherlich zutreffend, wenn wir mit der bundesrepublikanischen oder auch der französischen Karikatur vergleichen. Ordnen wir diese Zeichnungen in den Gesamtzusammenhang der Bildsatire in der DDR ein, so ergibt sich allerdings ein anderes Bild. Diese war, soweit sie sich mit dem Ausland beschäftigte, in den 50er Jahren geprägt von grafisch oft beeindruckenden bitterbösen, ja aggressiven Darstellungen westlicher Politiker wie Adenauer oder John Foster Dulles. Der etymologische Zusammenhang von caricatura und charge wurde hier sehr sinnfällig. In den 60er Jahren war die Personendarstellung zwar nicht ganz unmöglich, aber doch weitgehend verpönt, da für politisch inopportun erklärt worden. In diesem Lichte betrachtet, nimmt sich der Anteil von zwei de Gaulles in unserem Sechser-Subkorpus gleich anders aus und man darf durchaus erstaunt sein, dass sich obendrein im ND Herbert Wehner und Kurt Georg Kiesinger leibhaftig gegen die aus Frankreich heranschwappende Streikwelle stemmen (ND, 22.05., 2). Der zum untersuchten Zeitpunkt üblichen Typenkarikatur, die mit dem Kapitalisten (der nicht weiter individualisiert zu werden braucht), dem Arbeiter, dem Studenten, dem Bürokraten usw. arbeitet, entsprechen in diesem Subkorpus lediglich zwei Eulenspiegel-Blätter (ES 24 und 26/ 68). Für diese Zeit durchaus unüblich ist es dagegen auch, dass wir einem Deutschen Michel begegnen. Dieser war zwar Dauergast in der frühen DDR-Bildsatire, als es noch galt, die deutsche Einheit zu betonen und mithilfe der Nationalallegorie die spalterischen, da westorientierten Politiker der Bundesrepublik zu kritisieren; spätestens seit dem Mauerfall war diese Sichtweise aber obsolet geworden, auch wenn die DDR-Verfassung den Bezug auf die Einheit noch bis Ende des Jahrzehnts beibehielt. Der Michel konnte gehen, er hatte seine Schuldigkeit getan. Wenn er vereinzelt noch auftrat, dann nur noch als Personifizierung der Bundesrepublik. So auch hier: Marianne reicht Michel das Sprachlehrwerk „Parlez français! “ und gibt ihm einen guten Ratschlag: „Mit deiner Regierung musst du französich sprechen, wenn du die Notstandsgesetze verhindern willst! “ (ND, 20.05., 2). 142 Hier wird deutlich, was für das Frankreichbild der DDR durchwegs gilt und was jedenfalls für die Frankreichdarstellung in der DDR-Bildsatire gut belegt ist: 5 Frankreich ist der etwas andere kapitalistische Staat, ein Staat, den man nicht rundheraus ablehnen muss (wohl wegen der lange recht starken Position der KP) - ein echtes Gegenbild zur schlimmen Bundesrepublik. Wenn man mit dieser mal wohlwollend umgeht, dann verweist man sie auf Frankreich als potenzielles Vorbild, an dem sie sich endlich orientieren sollte. Diese Vorbildfunktion Frankreichs findet sich implizit auch in der Eulenspiegel-Zeichnung wieder, die die linksrheinischen Streiks mit Fabrikbesetzung den rechtsrheinischen Kapitalisten als Menetekel vorhält, das auch ihnen blühen dürfte (ES 26/ 68). Dass Marianne selbst in diesem schmalen Subkorpus ein zweites Mal auftaucht, muss nicht verwundern, zumal sie das Vorbild für die Freiheitsallegorie geliefert hat, die seit dem 19. Jahrhundert die sozialistischen Plakate zum 1. Mai ziert. In Bezug auf diese Figur ist somit von einer großen ikonografischen Nähe zwischen Frankreich und der DDR auszugehen. Marianne verkörpert für beide Länder mehr die Republik als die französische Nation. Die Marianne-Zeichnung des Eulenspiegel macht deutlich, dass man es Frankreich zutraute, eine sozialistische Utopie zu realisieren. De Gaulle zieht es vor, die Augen vor dieser Zukunft zu verschließen. In der Sprache des Bildes verschließt er sie freilich vor einer attraktiven Marianne, die gerade dabei ist, sich in rotes Tuch zu hüllen, will heißen: die sich anschickt, rot zu wählen und auch am 14. Juli in rot (und nicht in blau-weiß-rot) zu defilieren. Wir wissen, dass sich diese Utopie nicht realisiert hat, doch haben das weder die Zeichner des Eulenspiegel noch die des ND thematisiert. Die DDR-Bildsatire hat es ihrerseits vorgezogen, die Augen vor diesen (und anderen) Realitäten zu verschließen - ihr Beitrag zu einer viel weiter gehenden und letztlich fatalen Realitätsverkennung. Insofern haben die deutschdemokratischen und die bundesdeutschen Zeichnungen unseres Korpus eines gemeinsam: Während sie das Nachbarland zeichnen, entwerfen sie zugleich ein Bild des eigenen Landes. 1 Die Begriffe „Pressezeichnung“ und „(politische) Karikatur“ werden in diesem Beitrag als Synonyme verwendet. 2 Das Korpus umfasst alle einschlägigen Karikaturen, die im Zeitraum Anfang Mai bis Mitte Juli 1968 (Austausch des Regierungschefs: Couve de Murville anstelle von Georges Pompidou) in folgenden von mir als repräsentativ betrachteten Presseorganen erschienen sind: - Berliner Morgenpost (BM; Tageszeitung); Zeichner: Oskar; - Christ und Welt (CW; Wochenzeitung), Zeichner: Hanel; - Eulenspiegel (ES; Wochenzeitung), Zeichner: Dittrich, Haas, Kretzschmar; - Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ, Tageszeitung), Zeichner: Behrendt; - Frankfurter Rundschau (FR, Tageszeitung), Zeichner: Mussil; - Handelsblatt (Hbl.; Tageszeitung), Zeichner: Bensch, Bruns; 143 - Industriekurier (IK; dreimal pro Woche), Zeichner: Pielert; - Neues Deutschland (ND, Tageszeitung), Zeichner: Arndt, Beier-Red, Haas; - Pardon; - Süddeutsche Zeitung (SZ, Tageszeitung), Zeichner: Ironimus, Lang, Marcks, Murschetz; - Tagesspiegel, Berlin (Tsp., Tageszeitung), Zeichner: Behrendt, Kossatz; - Die Welt (Welt, Tageszeitung), Zeichner: Hartung, hicks; - Westdeutsche Allgemeine Zeitung (WAZ, Tageszeitung), Zeichner: Hüsch, Pielert; - DIE ZEIT (ZEIT, Wochenzeitung), Zeichner: Flora. Zehn Zeichnungen dieses Korpus’ sind Ende April/ Anfang Mai d.J. in nachkolorierter Form (mit Ausnahme der von Hause aus farbigen Eulenspiegel-Zeichnungen) in der Zeitschrift Courrier international erschienen (Nr. 912-914). Verzeichnis der Abbildungen: Abb. 1: Ernst Maria Lang, „Ein Denkmal in Paris“, in: SZ, 25./ 26.06., 3; Abb.2: Klaus Pielert „In die Ecke, Besen, Besen ...! “, in: WAZ, 20.05., 2; Abb.3: Oskar, „Vor und nach der Wahl“, in: BM, 02.07., 2; Abb.4: Marie Marcks, „C’est moi! “, in: SZ, 27.06, 4); Abb. 5: Autor nicht identifiziert, „Vive le franc! “, in: ZEIT, 07.06., 18. 3 Barthes beschreibt die Horde in Anschluss an Darwin, Atkinson und Freud wie folgt: „[…] chaque horde était asservie au mâle le plus vigoureux, qui possédait indistinctement femmes, enfants et biens. Les fils étaient dépossédés de tout, la force du père les empêchait d’obtenir les femmes, sœurs ou mères qu’ils convoitaient. Si par malheur ils provoquaient la jalousie du père, ils étaient impitoyablement tués, châtrés ou chassés.“ In: Roland Barthes, „L’homme racinien“. In: Sur Racine, Paris, Seuil, 1965, 20 (Club Français du Livre, 1960). 4 Zum Blick der DDR auf Frankreich s. Dorothee Röseberg (ed.), Frankreich und „Das andere Deutschland“.Analysen und Zeitzeugnisse, Tübingen, Stauffenburg, 1999. 5 Vgl. hierzu Jean-Claude Gardes, „Rôle et fonction des représentations de la France dans la presse satirique est-allemande des années cinquante“. In: Ernst Dautel, Gunter Volz (eds.), Horizons inattendus - Mélanges offerts à Jean-Paul Barbe, Tübingen, Stauffenburg, 1994, sowie Walther Fekl, „’Vive la République! ’ Marianne als deutsch-demokratischer Mythos im Satiremagazin Eulenspiegel“. In: D. Röseberg (ed.), op. cit., 71-94; elektronische Version, mit zusätzlichen visuellen Dokumenten, unter: www.deuframat.de (2005). Résumé: Walther Fekl, Le Mai des autres: En Allemagne aussi, les temps sont loin d’être tranquilles tout au long de ce printemps 1968. Malgré cela, le dessin de presse allemand s’intéresse de très près aux événements français, les interprétant en grand nombre et dans une grande variété de mises en scène. La caricature est-allemande, pour sa part, voit le moment venu pour des changements profonds dans ce pays capitaliste pas comme les autres qu’est à ses yeux la France. Les événements prenant une autre tournure, elle ne déchante pas, elle se tait. Comme toujours, l’image de l’autre renvoie en même temps une certaine image de soi-même.