eJournals lendemains 33/130-131

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Narr Verlag Tübingen
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2008
33130-131

Das Frankreichbild deutscher Jugendlicher zwischen gestern und heute

2008
Adelheid Schumann
ldm33130-1310039
39 Adelheid Schumann (ed.) Frankreichbild im Wandel Adelheid Schumann Das Frankreichbild deutscher Jugendlicher zwischen gestern und heute Das vorliegende Dossier versammelt einige Beiträge zum Frankreichbild deutscher Jugendlicher und fragt nach der Rolle, die der Französischunterricht mit seinen Lehrwerken, die Frankreichberichterstattung von Presse und Fernsehen, sowie die direkten Kontakt- und Austauscherfahrungen der Jugendlichen bei der Entwicklung ihres Frankreichbildes spielen. Zwar existiert eine große Anzahl von Studien über die gegenseitigen Wahrnehmungsmuster zwischen Deutschland und Frankreich 1 und sind die historischen und politischen Faktoren und Entwicklungen, die das Frankreichbild in Deutschland und das Deutschlandbild in Frankreich nachhaltig beeinflusst haben, umfassend aufgearbeitet, doch liegen nur wenige neuere Untersuchungen zu den spezifischen Einstellungen von Jugendlichen vor. Seit den 80er Jahren, als im Auftrag des Deutsch-Französischen Jugendwerkes größere Vergleichsstudien angefertigt wurden 2 und die Jugendlichen beider Länder die Gelegenheit erhielten, ihre Vorstellungen vom Nachbarland und seiner Bevölkerung ausführlich darzulegen, sind keine neueren Umfragen zum Frankreichbild von Schülern und Schülerinnen mehr durchgeführt worden. Dafür geriet die Einstellung der Jugendlichen zur französischen Sprache und zum schulischen Französischunterricht immer mehr in den Fokus der öffentlichen Diskussion. Die Tatsache, dass sich seit den 80er Jahren eine zunehmende Zahl von Schülern und Schülerinnen von Französisch als Fremdsprache abwandten und sich insbesondere in der Oberstufe ein zunehmendes Desinteresse am Erlernen der französischen Sprache entwickelte, 3 alarmierte vor allem die Bildungspolitik und die Französischlehrerverbände und führte dazu, dass zahlreiche Untersuchungen zur Abwahl des Faches Französisch in der Oberstufe durchgeführt wurden. Dabei stand die Frage nach den Problemen und Schwierigkeiten des Französischlernens im Mittelpunkt: welche Lernprobleme treten beim Französischlernen gehäuft auf, wie kann man die Schüler am besten für die französische Sprache begeistern, welche Unterrichtsmethoden und welche Unterrichtsinhalte könnten Abhilfe schaffen? Ein zentrales Ergebnis dieser Umfragen bestand in der Erkenntnis, dass Französisch als eine schwer zu erlernende Sprache gilt, die im schulischen Fächerka- 40 non eine hohe Selektionsfunktion ausübt und mehr als die anderen schulischen Fremdsprachen zu Frustrationserlebnissen bei den Schülerinnen und Schülern führen kann. Rückschlüsse auf das Frankreichbild der Jugendlichen ließen diese Untersuchungen jedoch nicht zu, höchstens ließen sich Erkenntnisse über die Kritik der jungen Leute am Frankreichbild ihrer Französischlehrwerke gewinnen. 4 Dass sich seit einigen Jahren ein Wandel in dem deutschen Frankreichbild vollzieht, lässt sich aus den letzten großen Umfragen zum Frankreichbild der Deutschen ablesen. 5 Die Ergebnisse dieser Umfragen deuten darauf hin, dass der Wahrnehmungswandel vor allem von der jüngeren Generation ausgeht und zu einem großen Teil auf dem Erfahrungswissen und den direkten Kontakterfahrungen der Jugendlichen beruht. Die alten Stereotypen bestehen zwar unverändert fort und werden auch in allen Umfragen erneut bestätigt, doch scheint sich daneben eine ganz neue jugendliche Perspektive auf Frankreich zu entwickeln, die das moderne, hochtechnisierte und multikulturelle Frankreich in den Blick nimmt und die Douce France mit ihrem savoir vivre in den Bereich der Mythen verweist. Wir möchten mit diesem Dossier einige Überlegungen und Erkenntnisse zu den Ursachen und Quellen dieser Veränderungen im Frankreichbild präsentieren. Dabei steht an erster Stelle der Blick auf das Frankreichbild, das von den Lehrwerken des Französischunterrichts verbreitet wird. Adelheid Schumann untersucht in ihrem Beitrag zu dem „Wandel des Frankreichbildes in den Lehrwerken für die Oberstufe“ die Entwicklung des Frankreichbildes in den Lehrwerken seit 1945. Dabei geht es um eine Inhaltsanalyse (Räume, Zeiten, Gesellschaft, Kultur), eine Perspektivenanalyse (Textsorten, Bildmedien, Wahrnehmungsperspektiven) und eine Orientierungsanalyse (Erfahrungsbereiche, Zielperspektiven) der Werke und eine kritische Sichtung der Veränderungen der landeskundlichen und lernpsychologischen Konzepte im Verlauf der letzten 50 Jahre. Ebenfalls der Lehrwerkanalyse gilt der Beitrag von Christiane Fäcke: „Das Frankreichbild in neueren Französischlehrwerken der Sekundarstufe I“. Christiane Fäcke untersucht die Lehrwerke für die ersten vier Lernjahre und konzentriert sich auf die Bereiche „Touristisches Frankreich“, „Historisches Frankreich“, „Gastronomisches Frankreich“, „Multiethnisches Frankreich“ und „Französische Jugendkultur“. Lieselotte Steinbrügge befasst sich in ihrem Beitrag „L’Etranger von Albert Camus. Über die Haltbarkeit eines Schulklassikers“ mit der literarischen Schullektüre und dabei insbesondere mit dem Schulklassiker Albert Camus und dem meistgelesenen Roman des Französischunterrichts in Deutschland: L’Etranger. Dabei geht sie den Fragen nach, warum dieses Werk seit 40 Jahren an der Spitze des schulischen Lektürekanons steht, wie es im Unterricht gelesen wird - früher und heute - und welche Vorstellungen von Frankreich und Algerien dabei bei den Schülern evoziert werden. In dem Beitrag von Isabella von Treskow „Die Banlieue-Proteste 2005 im Visier der deutschen Printmedien. Schock aus der Mitte Europas“ geht es nicht mehr um das vom schulischen Französischunterricht vermittelte Frankreichbild, sondern um 41 journalistische Wahrnehmungsperspektiven und ihren Niederschlag im Frankreichbild der Presse. Am Beispiel der Berichterstattung einiger überregionaler deutscher Zeitungen und Zeitschriften über die Banlieue-Unruhen in Frankreich im Jahre 2005 gelingt es der Autorin, einige in den Texten verborgene Frankreich-Klischees und historische Konnotationen (Frankreich als Land des Luxus und der Revolte) aufzudecken und den traditionellen Elementen in der deutschen Frankreichwahrnehmung Neuerungen und Veränderungen gegenüber zu stellen. In dem letzten Beitrag kommen die deutschen Jugendlichen auf indirekte Weise selbst zu Wort und erhalten die Gelegenheit, ihr Frankreichbild zu präsentieren. Adelheid Schumann und Diana Poggel haben in Gymnasien und Gesamtschulen des Landes Nordrhein-Westfalen im Sommer 2007 eine große Umfrage durchgeführt und 12-16jährige Schüler und Schülerinnen nach ihren Kenntnissen, Erfahrungen und Vorstellungen über Frankreich befragt. Die Ergebnisse werden in dem Beitrag „Zum Frankreichbild deutscher Jugendlicher. Eine Umfrage bei 12- 16jährigen Schülern und Schülerinnen“ präsentiert. Als wichtigste Quelle ihres Frankreichbildes geben zwei Drittel der Jugendlichen die eigenen Erfahrungen im Kontakt mit Franzosen und Französinnen an. Danach folgt das Fernsehen als zweitwichtigste Quelle aus Sicht der Jugendlichen und erst an dritter Stelle werden der schulische Französisch- und Geschichtsunterricht und sein Einfluss auf die eigenen Vorstellungen von Frankreich angeführt. Das Frankreichbild der Jugendlichen ist zwar keineswegs frei von stereotypen Vorstellungen, doch zeigen die Ergebnisse der Umfrage deutlich, dass direkte Kontakterfahrungen zu neuen Akzentsetzungen in der Sicht auf das Nachbarland und zu einer eindeutigen Erweiterung der Wahrnehmungsperspektiven führen. 1 Zur Geschichte des deutschen Frankreichbildes vgl. Hans-Manfred Bock: „Wechselseitige Wahrnehmung als Problem deutsch-französischer Beziehungen“, in: Frankreich- Jahrbuch, Opladen, Deutscher Verlagsverbund, 35-56; Hans-Jürgen Lüsebrink: Interkulturelle Kommunikation, Stuttgart, Metzler, 2005; Adelheid Schumann: „Stereotype im Französischunterricht. Kulturwissenschaftliche und fachdidaktische Grundlagen“, in: Adelheid Schumann und Lieselotte Steinbrügge (eds.): Didaktische Transformation und Konstruktion, Frankfurt, Peter Lang, 113-130; Isabella von Treskow: „Deutsche und französische Grenzüberschreitungen“, in: Französisch heute 32, 2001, 327-339; Karl Ferdinand Werner: „Vom Frankreichbild der Deutschen“, in: Dokumente. Zeitschrift für den deutsch-französischen Dialog 4, 35, 1979, 305- 310. 2 Dieter Tiemann: „Französische und deutsche Schüler über ihre Nachbarn am Rhein“, in: Marieluise Christadler (ed.): Deutschland - Frankreich. Alte Klischees - Neue Bilder. Duisburg, Sozialwissenschaftliche Kooperative, 1981, 170-185; Dieter Tiemann: Frankreich und Deutschlandbilder im Widerstreit. Urteile französischer und deutscher Schüler über die Nachbarn am Rhein, Bonn, Europa Union Verlag, 1982. 3 Christoph Bittner: „Der Teilnehmerschwund im Französischunterricht - eine unabwendbare Entwicklung? Eine empirische Studie am Beispiel der gymnasialen Oberstufe“, in: Französisch heute 34, 2003, 338-353; Lutz Küster: „Schülermotivation und Unterrichts- 42 alltag im Fach Französisch“, in: Französisch heute 38, 2007, 210-226; Franz-Joseph Meißner: „Gymnasialer Fremdsprachenunterricht in Nordrhein- Westfalen im Lichte der Statistik (1965-1990)“, in: Zeitschrift für Fremdsprachenforschung 8, 1997, 1-26; Marcus Reinfried und Annette Kosch: „Sprachvermittlung in der Krise? Die Entwicklung des Französischunterrichts in Deutschland seit dem Elysée-Vertrag“, in: Dokumente. Zeitschrift für den deutsch-französischen Dialog 58, 2003, 17-27. 4 Axel Polleti: „Französischlehrbücher im Urteil von Schülern und Lehrern“, in: Praxis des neusprachlichen Unterrichts 2, 1993, 183-190. 5 Die letzten größeren Umfragen wurden im Jahre 2000 von EMNID für Die Zeit und im Jahre 2003 von Allensbach für die Frankfurter Allgemeine Zeitung durchgeführt, sowie im Jahre 2002 gemeinsam von SOFRES und EMNID für das Deutsch-Französische Jugendwerk. Vgl. Renate Overbeck und Gabriele Padberg: „Regards croisés. Was Deutsche und Franzosen voneinander denken und wissen“, in: Dokumente. Zeitschrift für den deutsch-französischen Dialog 2, 2006, 49-53; Klaus Peter Schmid: „Modern, einflussreich, genießerisch. Was die Deutschen von Frankreich und den Franzosen halten“, in: Die Zeit, 2000, www.zeit.de.