eJournals lendemains 33/132

lendemains
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Narr Verlag Tübingen
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2008
33132

Europäische Kulturpolitik als gesellschaftliche Praxis

2008
Hans Manfred Bock
ldm331320156
156 In memoriam In memoriam In memoriam In memoriam Hans Manfred Bock Europäische Kulturpolitik als gesellschaftliche Praxis (Robert Picht 1937 - 2008) Seinen Lebensentwurf hat Robert Picht mit größerer Bestimmtheit und mehr praktischen Folgen als andere Intellektuelle seiner Generation der Intensivierung der deutsch-französischen Beziehungen und der Verdichtung der Kommunikation zwischen den europäischen Gesellschaften gewidmet. Ausgestattet mit einem ererbten sozialen Kapital, das in seiner Familie über zwei Generationen gespeichert worden war, und mit einem erworbenen kulturellen Kapital, das er in seiner akademischen Ausbildung und Lehrtätigkeit in mehreren europäischen Metropolen sich angeeignet hatte, vermochte er eine Tätigkeit auszuüben, die wir heute (mit guten Gründen) nicht mehr als internationale, sondern als transnationale Mittlerfunktion bezeichnen. Sie ist angesiedelt im Zwischenbereich zwischen europäischen bzw. internationalen Institutionen und gesellschaftlichen Organisationen, zwischen ministeriellen Entscheidungszentren und soziokulturellen Trägerorganisationen, die diese großen politischen Richtungsentscheidungen in konkrete gesellschaftliche Praxis übertragen und dabei durchaus eine eigene (wenngleich abgeleitete) Gestaltungsfunktion ausüben. Robert Pichts Biographie, die über fast ein halbes Jahrhundert eine deutsch-französische Vita ist, kann als Abfolge von Versuchen gelesen werden, den bilateralen und europäischen Mittlerstrukturen im politisch-gesellschaftlichen Zwischenbereich die materiellen Ressourcen und die konzeptionellen Impulse zu geben, die sie erst instand setzen, von ihrer abgeleiteten Gestaltungsmöglichkeit einen verantwortungsvollen und effizienten Gebrauch zu machen. Robert Picht wurde 1937 in Berlin geboren als Sohn des späteren Reformpädagogen und Religionsphilosophen Georg Picht (1913-1982) und der Pianistin/ Cembalistin Edith Axenfeld (1914-2001). Aus der Familientradition wurden für ihn nicht allein die verpflichtende Bildungsatmosphäre und die kulturpolitischen Beziehungen prägend. So war z.Bsp. sein Großvater Schüler von Alfred Weber und Mitarbeiter des preußischen Kultusministers Carl Heinrich Becker, sein Vater u.a. Student von Martin Heidegger, Freund von Carl Friedrich von Weizsäcker und langjähriger Leiter der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft in Heidelberg, sein Großonkel hieß Ernst Robert Curtius. Überdies wurde ihm aus der Familientradition die Verbindung von Offenheit zum europäischen Ausland und Erwachsenenbildung nahegelegt. Namentlich sein Großvater war in der Locarno- Ära Leiter der Hochschulabteilung im Pariser Internationalen Institut für geistige Zusammenarbeit gewesen. Nach dem Studium der Romanistik, Philosophie und Soziologie u.a. in Freiburg, München, Madrid und Paris trug Robert Picht diese Tradition weiter, indem er ab 1965 Lektor für Deutsch an einigen Grandes Ecoles in Paris wurde, und indem er die Aufgabe des interkulturellen Lernens in die 157 In memoriam In memoriam In memoriam In memoriam deutsch-französischen Beziehungen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts übertrug. Seine Arbeit als DAAD-Lektor in Paris fiel in eine Periode tiefgreifender Umgestaltung des französischen Germanistik-Studiums. In deren Verlauf wurde die civilisation-Komponente der französischen Hochschulgermanistik im Verhältnis zum literatur- und sprachwissenschaftlichen Teil aufgewertet, da im Rahmen der bilateralen und der europäischen Kooperation die Realkenntnisse der Bundesrepublik in Frankreich für unabdingbar gehalten wurden. Mit der materiellen und konzeptionellen Ausgestaltung der DAAD-Deutschlandstudien übernahm Picht seine erste größere Aufgabe (die uns in der damals noch jungen Pariser DAAD-Zweigstelle zusammenführte). Die Grundidee dieser Arbeit war, daß in der Vermittlung von Deutschlandkenntnissen nicht ein kulturpolitisch vorgefertigtes Bild propagiert werden sollte, sondern daß Materialien zur selbständigen Erarbeitung von Kenntnissen zum Gegenwarts-Deutschland bereitgestellt werden sollten. Die Konzeption erwies sich auch für die außereuropäische Arbeit des DAAD als geeignet. Als Robert Picht 1972 die Leitung des Deutsch-Französischen Instituts in Ludwigsburg übertragen wurde, war diese 1948 gegründete Verständigungsorganisation für ihn längst keine unbekannte Größe mehr. Sie bot sich an, die universitäre Arbeit zur Förderung der Gesellschafts- und Kultur-Kommunikation zwischen beiden Ländern nunmehr von deutscher Seite her fortzusetzen, die in Paris begonnen worden war. Aufgrund der Befürwortung des damaligen Vorsitzenden des Romanistenverbandes (Jürgen von Stackelberg) und über die ephemere Konferenz der romanischen Seminare begann in den frühen 1970er Jahren eine Kontaktnahme und eine Diskussion des DFI mit der Frankoromanistik, die sich bis zu Beginn der achtziger Jahre als letztlich nicht fruchtbar erwies. Diese Ertraglosigkeit pluridisziplinärer Kooperation mit der Romanistik (deren Ursachen einmal ergründet werden sollten) führte zu einer der (unausbleiblichen) Enttäuschungen in Pichts Bestrebungen zur Verbesserung der transnationalen Kommunikationsfähigkeit, die bis dahin überwiegend ermutigend verlaufen waren. Ein positives Teilergebnis dieser Bemühungen waren die Stuttgarter Thesen „Fremdsprachenunterricht und internationale Beziehungen“, die Anfang der achtziger Jahre von DFI-Mitakteuren und Vertretern der universitären Fremdsprachendidaktik erarbeitet wurden in der Überzeugung, daß die romanistische Kompetenz für die Praxis der deutsch-französischen Beziehungen unverzichtbar sei. Problemloser gestaltete sich die Zusammenarbeit des DFI unter Pichts Leitung mit den Vertretern sozialwissenschaftlicher Frankreichforschung, die bis dahin weitgehend voneinander isoliert in der Politikwissenschaft und der Soziologie gearbeitet hatten und nunmehr in den achtziger Jahren einen Ort des Forschungsgesprächs in Ludwigsburg fanden. Sie konstituierten sich als Arbeitskreis sozialwissenschaftlicher Frankreichforschung beim DFI, gestalteten maßgeblich die Jahreskonferenzen des Instituts mit und zeichneten für die aus den Jahrestagungen entstehenden Frankreich-Jahrbücher ab 1987 verantwortlich. Robert Picht, der in den Pariser Jahren mit einer Arbeit über die Motivationsstrukturen französischer Ger- 158 In memoriam In memoriam In memoriam In memoriam manistikstudenten bei (dem damals noch weitgehend unbekannten) Pierre Bourdieu promoviert worden war, verlor die praxeologischen Zielsetzungen des DFI dabei nie aus den Augen. Er brachte die vielfältigen Aktivitäten des Instituts (französischer Individual- und Gruppenbesuch, Tagungen mit Politik-, Wirtschafts- und Pressevertretern, Forschungsberatung und Ausbau der Bibliothek) in ein Gleichgewicht und in Einklang mit dem parallel laufenden wissenschaftlichen und publizistischen Engagement. Zu den nicht sichtbaren Teilen seines vielgestaltigen Wirkens gehörte die Verbindung mit den zuständigen Ministerien (das Auswärtige Amt ist der Hauptgeldgeber des DFI), mit den Stiftungen und den internationalen Institutionen, sowie mit den transnational tätigen Organisationen zwischen Deutschland und Frankreich. Robert Picht brachte in diesen Interaktionen eine persönliche Eigenschaft zur Geltung, die auch im Verkehr mit dem Arbeitskreis sich konstruktiv auswirkte: Einen klar begründeten Willen, der argumentativ vertreten wurde und der fähig war, auf Gegenargumente einzugehen und sich diese fallweise zu eigen zu machen. Aufgrund dieser Persönlichkeitsattribute des DFI-Direktors entstand über zwanzig Jahre eine Arbeitsatmosphäre in der Vorbereitung der Jahrestagungen und des Frankreich-Jahrbuchs, die allen Beteiligten in der angenehmsten Erinnerung bleibt: Die Gestimmtheit eines unerzwungenen Pluralismus und produktiver Kollegialität. Mit einer gewissen Folgerichtigkeit erweiterten sich die Tätigkeiten Pichts zur kreativen praktischen Umsetzung verständigungs- und integrationspolitischer Zielsetzungen der institutionellen Politik im Laufe seiner annähernd dreißig Jahre an der Spitze des DFI. Sie erweiterten sich - vor dem Hintergrund der neuen Stufe europäischer Integration mit der Einheitlichen Europäischen Akte Mitte der achtziger Jahre - hin zur gesellschaftlichen Fundamentierung des schwierigen institutionellen Einigungsprozesses Europas. Und sie dehnten sich aus auf das kulturelle Stiftungswesen zur Förderung konstruktiven Zusammenlebens in Europa. Robert Picht begann 1988 seine Lehrtätigkeit am Europakolleg in Brügge, der ältesten (1948 aus der damaligen föderalistischen Europa-Bewegung geschaffenen) Einrichtung für postgraduale Europa-Studien, die bislang rund 10.000 Absolventen zählt. Picht übernahm dort ab 1994 eine Professur für Europäische Soziologie und wurde Programm-Direktor für Allgemeine interdisziplinäre Europa-Studien. Er war 2002-2003 interimistischer Rektor des Europakollegs in Brügge und von 2004 bis zu seinem Tode Vizedirektor des nach dem Vorbild von Brügge in Natolin bei Warschau ins Leben gerufenen Europakollegs, das mit Unterstützung der EU und der polnischen Regierung gegründet wurde. Die beiden Europakollegs, die in einem einjährigen Studiengang eine spezialisierende Befassung Graduierter mit Genese und Aufgaben der europäischen Integration ermöglichen, sollen nicht zuletzt aufgrund ihrer internationalen Rekrutierung der Dozenten und Studierenden eine anhaltenden gesellschaftliche Wirkung haben, die durch ein Alumni-System bewußt gefördert wird und Züge eines europäischen Netzwerks anzunehmen vermag. In dem Maße, wie diese Funktionen tatsächlich ausgefüllt werden, setzte sich hier Pichts Bestreben fort, politische transnationale Kooperationsprogramme in 159 In memoriam In memoriam In memoriam In memoriam gesellschaftliche Praxis umzusetzen. Eben diesem Zweck war auch seine Mitwirkung in vielen Stiftungen untergeordnet, die einen Großteil der Finanzen all der Institutionen decken, die in seinem Schaffen als Kulturpolitiker und Wissenschaftler eine große Rolle spielten. Ihr Reigen erstreckte sich von der Robert-Bosch-Stiftung, deren Völkerverständigungs-Programm viele Initiativen des DFI zu verwirklichen half, bis hin zur Allianz Kulturstiftung, die 2000 mit einem fördernden und einem operativen Europa-Programm gegründet wurde und deren Kuratoriumsvorsitzender Picht war. Auch hier stand die Förderung des wissenschaftlichen und künstlerischen Nachwuchses in der Spitze der Prioritäten. Für Robert Picht fielen Beruf und Neigungen jederzeit zusammen und diese Verbindung war die Energiequelle für sein vielgestaltiges Schaffen an der Scharnierstelle zwischen Politik und Wissenschaft. Die Festschrift, die er exakt ein Jahr vor seinem Tode überreicht bekam (Frank Baasner, Michael Klett (Hrsg.): Europa. Die Zukunft einer Idee, Darmstadt 2007, Wissenschaftliche Buchgesellschaft) spiegelt zuverlässig die Breite seiner Gesprächs- und Interaktionspartner. Er war kein Kulturmanager, der sich von Event zu Event hangelt und dabei seine Person in den Vordergrund rückt. Vielmehr verkörperte er eine neue Art von Kulturpolitiker, der erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts Gestalt annehmen konnte in dem sich ausfächernden Spektrum gesellschaftlicher Organisationen mit transnationaler Wirkungsabsicht und der im Spannungsfeld von administrativer Politik und eigenaktiver Bürgergesellschaft eine Chance zur stillen und geduldigen Verbesserung der Beziehungen zwischen den europäischen Nationen sieht. Von dieser Art europäischer Kulturpolitik als gesellschaftliche Praxis hängt die sinnvolle Weiterführung der europäischen Integration mindestens ebenso ab wie von den intergouvernementalen Verträgen und Vereinbarungen.